Kapitel 36
Pater Emanuele saß nur widerwillig in einem magischen Kreis. Nicht, daß er sein moralisches Recht, Magie für einen guten Zweck einzusetzen, bezweifelt hätte, er mochte nur das Gefühl nicht. Er war kein Magier, doch sein Wissen über die arkanen Künste war groß genug, ihn unter den Laien zum Spezialisten zu machen.
Er nahm es als gegeben hin, daß ein solcher Schutzkreis nötig war. Tatsächlich mußten sie sich nicht nur vor Einflüssen von außen schützen, sondern vor allem auch die Kreatur aus ihren Räumen fernhalten. Die drei Glaubensbrüder hatten zu oft mit Magie zu tun gehabt, um von ihrem Effekt unberührt zu sein, und damit gaben sie geradezu Zielscheiben für das Wesen ab, dessen Mächte Bruder Michael sorgfältig erklärt hatte.
Giuseppe hatte sich geweigert, in den Kreis zu kommen. Man konnte nur hoffen und beten, daß sein besonderes Naturell ihn schützen würde. Eben stand er auf, nachdem er lange kniend gebetet hatte, und Pater Emanuele lächelte. Der junge Mann war ebenso unerschütterlich wie feurig in seinem Glauben.
Bruder Michael wandte sich an den Priester.
„Sicher bin ich nicht“, sagte er, „doch nach den Messungen, die ich vorgenommen habe, würde ich sagen, daß hier mehr als nur ein Sí-Phänomen am Werk ist. Vier unterschiedliche Signaturen meine ich zu messen.“
„Vier? Das wäre ja unglaublich! Schließt das Miss Jarrencourt mit ein?“
„Da bin ich nicht sicher, doch es könnte gut sein.“
„Wir könnten sie befragen“, grübelte Pater Emanuele. „Aber ich bin nicht sicher, ob das ein guter Gedanke wäre. Ich habe die Archive um mehr Information über die Damen und ihre Familien antelegraphiert. Die Antwort sollte uns bald erreichen. Es wäre alles andere als vorteilhaft, wenn Giuseppe sie verhören würde und sie dann doch nichts anderes wäre als eine englische Miss, die zur Ballsaison gekommen ist. Der Name Jarrencourt ist in ,Burke’s Peerage‘ verzeichnet. Es ist kein erfundener Name oder Titel. Britischer Landadel. Leider sind unsere Möglichkeiten zur Einflußnahme in diesem irrgläubigen Land bedauerlich klein.“
„Das Archiv weiß gewiß mehr“, meinte Bruder Michael. „Unsere Brüder sind außerordentlich genau. Es gibt kaum etwas, das sie nicht dokumentiert haben. Bedauerlich, daß sich das gesammelte Wissen nicht mehr von einem Menschen allein aufnehmen läßt. Doch wir sind eben nur Menschen, und unser Gedächtnis ist nicht perfekt.“
„Gott hat unser Gedächtnis so gemacht, wie wir es brauchen, Bruder Michael.“
„Amen“, pflichtete Bruder Giuseppe bei. „Erlauben Sie mir, sie zu befragen. Ich kann alles aus ihr herausholen. Mir kann sie nichts verschweigen.“
„Das weiß ich“, lächelte Pater Emanuele dünn. „Aber wir müssen uns vergewissern, daß wir kein unnötiges Aufsehen erregen. Ich will keinen Ärger. Wir warten, bis wir mehr wissen. Vielleicht müssen wir sie gar nicht belästigen, sollte sie ein Mensch sein.“
Er fügte nicht hinzu, daß ihm das auch lieber gewesen wäre. Er hatte keine Bedenken, in Erfüllung seiner Pflicht alles zu tun, was notwendig war. Das war Teil ihres Kampfes gegen die dunklen Mächte. Doch die Vorstellung der jungen Dame in den Händen seines Bruders gefiel ihm nicht. Solange sie nicht hundertprozentig sicher waren, was sie war, durften sie sie nicht angehen.
Sollte sich der Verdacht freilich bestätigen, dann wußte er, was zu tun war. Ob ihm ein Gedanke gefiel oder nicht, spielte keine Rolle bei der Entscheidung, etwas zu tun, was erforderlich war. Sie waren zur Pflichterfüllung erzogen, und je nach Talent und Eignung taten sie das, was sie am besten konnten, auch gerne.
Er hatte damals große Hoffnungen in Delacroix gesetzt. Ein talentierter Junge. Doch er hatte nie zu ihnen gehört. Sein Skeptizismus verhinderte, daß man ihn zum uneingeschränkten Gehorsam zwingen konnte. Man hatte ihn nicht beugen und brechen können. Vielleicht lag es an seiner kriminellen Jugend, daß er sich keiner Macht unterwerfen konnte, vielleicht aber auch an einem geheimnisvollen Erbe, das er aus seinem Erlebnis davongetragen hatte. Jedenfalls hatte er ständig rebelliert. Es war ihnen nicht gelungen, ihm sein früheres Aussehen zurückzugeben. Auch seine Gesinnung hatten sie nicht ändern können. Er war wie Stahl.
Pater Emanuele schrak durch ein Geräusch von der Tür aus seinen Gedanken hoch. Giuseppe hatte den Raum verlassen. Er hätte ihm noch einmal eintrichtern sollen, seinen Enthusiasmus zu zügeln. Er tat Dinge, die gänzlich außerhalb des Planungskonzeptes lagen. Der junge Mönch machte sich nie Gedanken um die Folgen seines unbesonnenen Handelns. Folgen für den Orden zum Beispiel und für dessen Ruf. Er hatte ganz und gar kein Gespür für politisch günstige Konstellationen.
Seine Talente lagen definitiv anderswo.
„Wenn wir annehmen, daß Miss Jarrencourt eine der gesuchten Kreaturen ist und der Wiatruschod eine weitere, dann muß es noch zwei zusätzliche Dämonen geben, mit denen wir uns befassen müssen.“
Bruder Michael nickte.
„Hinaus können sie nicht. Aber das heißt nicht, daß sie leicht aufzuspüren sind. Ich kann sie spüren, doch leider ist es mir nicht möglich, eine präzise Orts- oder Richtungsangabe zu machen. Sie können irgendwo hier drinnen sein, vielleicht sogar draußen, solange sie das Gebäude nicht loslassen. Ich kann nicht sagen, wie der Bann sie beeinträchtigt. Ich könnte natürlich den Bann noch undurchlässiger machen, aber das würde Delacroix’ Magier merken. Obwohl er wahrscheinlich nicht sehr gut ist. Wenn ich ihm nicht bei der Aufrechterhaltung des Banns behilflich wäre, wäre dieser schon einige Male zusammengebrochen. Ich habe das Gefühl, er verläßt manchmal seinen Kreis und geht irgendwo anders hin, sei es physisch oder mental.“
Pater Emanuele nickte.
„Das ist sehr eigenartig. Mir hat man versichert, der Meister des Arkanen, den man zur Unterstützung schicken wollte, sei durchaus kompetent. Man muß wohl annehmen, von der Pfordten kennt nicht die richtigen Leute. Er hätte die Sache uns überlassen sollen.“
Bruder Michael lehnte sich zurück und lächelte ein wenig herablassend.
„Für Laien ist es schwierig, Unterschiede in der Beherrschung unserer Wissenschaft festzustellen. Vonderbrück mag mit seiner Kunst das erlauchte Publikum auf Soireen beeindrucken können und somit in dem Ruf stehen, ein mächtiger Magier zu sein. Die meisten Menschen glauben nicht an das Okkulte, und somit muß es für sie doppelt schwer sein, zwischen einem Salonzauberer und einem Großmeister zu unterscheiden – und ein Salonzauberer ist er nicht gerade. Er verfügt über einiges Können, wenn auch nicht über so viel, wie ich von einem offiziell von der Regierung abgestellten Magier erwarten würde.“
Pater Emanuele verzog das Gesicht. Er mochte das alles nicht. Etwas stimmte nicht. Er hatte ein Talent für das Erfühlen von Handlungsmustern, und an diesem Muster war etwas faul. Sein Talent für Strategie war hervorragend. Er hatte ein Gespür für das, was Bruder Michael die Feldlinien der Macht nannte. Er liebte Macht, und das machte ihn empfänglich für deren Struktur und Vibration – und hier lief etwas falsch.
„Es gibt mehrere Deutungsmöglichkeiten“, sagte er schließlich. „Der Mann könnte ein eingebildeter, gutbeleumundeter Scharlatan sein, der unseren wohlmeinenden Ministerpräsidenten an der Nase herumgeführt hat und ihn glauben machte, er sei die richtige Wahl. Er könnte aber auch ein Könner sein, der sein Können – aus welchen Gründen auch immer – nicht voll entfaltet, zum Beispiel, weil er seine eigenen Pläne verfolgt, Pläne, die mit denen der Gruppe gar nicht konform gehen.“
„Das würde einige seiner Fehler genausogut erklären wie Inkompetenz“, stimmte Bruder Michael zu. „Wenn er nicht mit dem Herzen bei der Sache ist, dann bleiben Patzer nicht aus. Die Situation ist zu gefährlich und komplex, um Spielchen zu erlauben.“
Die beiden sahen einander beunruhigt an.
„Wir müssen mehr über ihn wissen“, fuhr Bruder Michael fort. „Das heißt, nehme ich an, wir müssen noch einmal ein Telegramm ans Archiv senden.“
Pater Emanuele nickte.
„Das heißt außerdem, daß ich noch einmal um Audienz ersuchen muß. Ich muß wissen, welchen Hintergrund der Mann hat. Es wird nicht leicht sein, noch einen Audienztermin zu erhalten. Seine Majestät geruhen, uns nicht zu mögen, von der Pfordten ebenfalls, und seine Eminenz der Bischof täte am liebsten so, als gäbe es uns nicht. Er liebt es, wenn sein Leben in einfachen, ruhigen Bahnen verläuft.“
„Nun“, sagte Bruder Michael, „wenn er uns unterstützt, können wir dafür sorgen, daß sein Leben auch weiter in einfachen, ruhigen Bahnen verläuft.“
Eine Zeitlang war es still, dann begann Pater Emanuele erneut die Konversation.
„Magier hin oder her, wir haben immer noch mindestens zwei dunkle Bestien, von denen wir rein gar nichts wissen. Wir ...“
Die Tür öffnete sich, und Giuseppe trat wieder ein. Er zerrte ein Mädchen herein, das sich heftig wehrte. Mit einer Hand hielt er ihm den Mund zu.
„Ach du lieber Himmel“, rief Pater Emanuele aus. „Was hast du getan?“
Bruder Michael schloß geistesgegenwärtig die Tür hinter den Eintretenden.
„Ich habe das Weib im Korridor getroffen. Sie ist die Zofe der unnatürlichen Kreatur. Wir müssen sie verhören“, sagte Giuseppe. Dann schlug er der jungen Frau schnell und hart ins Gesicht, denn sie hatte ihn in die Hand gebissen.
Ehe sie noch schreien konnte, hielt er ihr bereits wieder den Mund zu.
„Niemand hat mich gesehen“, versicherte er. „Der Herr in seiner Gnade hat uns diese Möglichkeit geboten. Ich wußte, daß ich mich nicht so versündigen durfte, sie vorbeigehen zu lassen.“
Die beiden anderen Männer sahen die Zofe unglücklich an. Man würde sie zum Schweigen bringen müssen. So oder so. Zu absolutem, anhaltendem Schweigen. Er wünschte, Giuseppe würde Dinge nicht spontan selbst entscheiden und hoffte, Bruder Michael möge eine Lösung parat haben, die sie nicht zwang, eine Leiche zu entsorgen. Er war ein Diener Gottes. Er mochte keine Morde, selbst wenn ihm klar war, daß sie bisweilen für einen höheren Zweck unerläßlich waren. Darum ging es schließlich immer, um den höheren Zweck.
Bruder Michael trat vor die Zofe und musterte sie neugierig. Sie war eine schöne junge Frau. Wenn sie das bleiben sollte, mußte er jetzt eingreifen.
„Mädchen“, sagte er, „ich werde Giuseppe bitten, dich loszulassen, wenn du versprichst, still zu sein. Aber er wird dich töten, wenn du auch nur einen Laut von dir gibst oder versuchst wegzulaufen. Nicke, wenn du mich verstanden hast.“
Das Mädchen nickte. Panik stand in ihren Augen. Ihr Häubchen war verrutscht, und tizianrotes Haar fiel ihr ins Gesicht. Sie keuchte, bekam nicht genug Luft hinter der Pranke, die sich über ihr Gesicht gelegt hatte.
Giuseppe nahm die Hand von ihrem Mund, hielt aber weiter ihre Schultern von hinten fest. Der Magier konnte beinahe sehen, wie sich blaue Flecke bildeten, wo die Finger seines Klosterbruders in ihr Fleisch kniffen.
„Sieh mich an“, befahl Bruder Michael. „So ist’s gut. Sieh mich an.“ Er gestikulierte vor ihrem Gesicht, und sie entspannte sich.
„So“, sagte er und winkte mit kleinen, präzisen Bewegungen seiner Hand vor ihren Augen hin und her. „Du bist hier, und das können wir nicht ändern. Aber wenn du schon einmal hier bist, werde ich dir einige Fragen stellen, und du mußt sie wahrheitsgemäß beantworten. Alle Fragen, die ich dir stelle. Zu allem, was ich wissen will – und wenn wir hier fertig sind, schicke ich dich hinaus, und dort zählst du bis drei. Bei drei wirst du alles hier vergessen.“
Immer noch bewegte er die Hand vor ihren Augen hin und her. Sie waren grün und rund und sahen ihn an, ohne zu blinzeln.
„Was wirst du jetzt tun?“ fragte er fast freundlich und gab Giuseppe ein Zeichen, die junge Frau loszulassen.
„Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Alle Fragen. Zu allem, was Sie wissen wollen“, entgegnete Marie-Jeannette und schwankte wie eine junge Birke im Wind. Ein fremdartiges Lächeln lag auf ihrem Gesicht, euphorisch, hingerissen. Ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet, die grünen Augen ohne Fokus.
„Gut“, lobte Bruder Michael und nickte Pater Emanuele zu, damit er ihn bei der Befragung unterstützte. „Sehr gut. Fangen wir an.“