Kapitel 40

In Corrisandes Kopf tönte ein Gedicht, das sie als Kind von ihrem schottischen Kindermädchen gelernt hatte. Lange hatte sie nicht mehr daran gedacht. Doch während sie im Speisesaal des Nymphenburger Hotels saß und fortwährend Mme. de Rhins-Epitué und Eliza anlächelnd im Abendessen stocherte, tauchte es zeilenweise wieder in ihren Gedanken auf.

„Der beste Plan von Maus und Mann geht oft daneb’n“, dachte sie bei sich und hörte noch den harten Akzent ihrer Kinderfrau. Sie hatte sie gerngehabt, aber nur kurz genossen. Die schottische Eigenart und vor allem der starke Akzent hatten ihren Vater dazu bewogen, rasch auf ihre Dienste zu verzichten, besonders, als er feststellte, daß seine kleine Tochter Robert Burns im originalen Hochland-Schottisch zitierte.

Ihr Plan war auch „daneb’n“ gegangen oder wie es auch immer hieß. Als sie aus ihrem Zimmer gekommen war, perfekt hergerichtet in ihrem kornblumenblauen Kleid, hatte Eliza kurzerhand beschlossen, den Tee einfach ausfallen zu lassen und sich sofort in den Speisesaal zu begeben. Schließlich wollten sie Mme. de Rhins-Epitué nicht verpassen. Sie brauchten diese Einladungen. So eine wunderbare Gelegenheit konnte man sich nicht entgehen lassen, und Marie-Jeannette hatte den Tee ohnehin nicht rechtzeitig bestellt und war noch nicht zurück. Eliza war darüber verärgert und faßte ihre Beschwerden auf dem ganzen Weg nach unten in viele sorgfältig gewählte Worte.

Sie schob Corrisande einfach aus dem Zimmer und hatte so gar kein Ohr für ihre Gegenargumente, und Corrisande wollte nicht dadurch auffallen, daß sie sich allzusehr sträubte. Unter anderen Umständen hätte sie mit genau dem gleichen Eifer das hehre Ziel zweier erschlichener Einladungen zum Hofball verfolgt. Doch eben diese Umstände wollte sie um jeden Preis vor Eliza geheimhalten.

Sie würde viel zuviel erklären müssen, und manche Dinge konnte oder wollte sie nicht erklären. Also hatte sie gelächelt und war mitgegangen, während sich in ihrem Innersten die Befürchtung manifestierte, vor einem Kampf zu stehen, den sie nicht gewinnen konnte.

So viele Rätsel. So viele unbegreifliche Geheimnisse. Sie hatte sich schon kaum an den Gedanken gewöhnen können, daß sie die Tochter eines Erzkriminellen war, daß sie selbst kriminell war, wenn man ihre erfolgreichen jugendlichen Rechtsbrüche so werten wollte. Doch sie hatte sich entschieden, keine Diebin zu bleiben. Sie wollte kein Leben am Abgrund führen, wollte nicht außerhalb der Gesellschaft stehen. Sie hatte die Wahl. Zumindest hatte sie das bis jetzt geglaubt.

Nun war sie wieder „draußen“, schlimmer als je zuvor. Ihr Recht, ihr Leben frei zu bestimmen, verschwand im Nichts. Ihr neues Wissen über ihr bisher dunkelstes Geheimnis drückte sie. Feyon. Sie war eine Sí. Niemand durfte das je herausfinden.

Sie lächelte und sagte: „Genau das meine ich auch, Mme. de Rhins-Epitué.“ Sie hatte nicht zugehört, was die gute Dame erzählt hatte, doch es hatte geklungen, als warte diese auf Zustimmung, so hatte sie denn zugestimmt.

Sie lachte begeistert und doch züchtig-gedämpft über ein langweiliges Bonmot, das die Dame zum Besten gab. Ihr Gesicht tat vor Mühe weh, doch sie spielte ihre Rolle gut. Anständiges Benehmen muß man leben, nicht spielen, hatte sie Marie-Jeannette eingetrichtert. Angeboren oder anerzogen, ihr distinguiertes Wesen trug sie durch die Mahlzeit und die damit verbundene Konversation.

Sie war mit den Gedanken nicht bei der Sache, doch ihre Antworten verrieten ihre geteilte Aufmerksamkeit nicht. Sie wußte, sie sah niedlich und unschuldig aus und ihre Grübchen vertieften sich, wenn sie lächelte. Nur einmal hatte sie im rechten Augenblick unglücklich ausgesehen, als Mme. de Rhins-Epitué ihr gestand, daß sie selbst gedacht hätte, der nette, junge Comte de Lacy würde wohl irgendwann um Corrisandes Hand anhalten. Eine Tragödie. Ein so junger Mann, in der Blüte seines Lebens dahingerafft, und man hatte nicht einmal seinen Mörder gefunden. Furchtbar, einfach furchtbar.

Es hatte wenig Mühe gekostet, eine Träne hervorzupressen, die in ihren Wimpern glitzerte, aber das hatte gereicht, um die einflußreiche Dame davon zu überzeugen, das Thema zu wechseln. Sie war zu gutmütig, um über eine Angelegenheit zu sprechen, die dem jungen Mädchen Kummer bereitete, und schließlich waren sie ja nicht verlobt gewesen, nicht wahr?

So redeten sie wieder über den Ball. Ein herrlicher Ball. Großartig. Der junge König würde ihn eröffnen. Wie alt er jetzt war? Zwanzig? Einundzwanzig? Bestimmt war er derzeit der romantischste Souverän in ganz Europa.

Eliza holte Mme. de Rhins-Epitués Meinung dazu ein, wo am besten eine passende Garderobe für diesen Anlaß in Auftrag zu geben sei, und die Dame begann, ihre Meinung über die Mode auszubreiten, über den passenden Stil für sittsame, junge Damen und die beklagenswerte Tendenz junger Menschen im allgemeinen, sich zu freizügig zu geben.

Corrisande gelang es, an passender Stelle zu erröten und merkte, wie Mme. de Rhins-Epitué ihrem Charme immer weiter erlag. Sie hätte stolz sein sollen auf ihre Leistung und ihre Begabung, die ihr hierbei so förderlich war, doch ihre Gedanken waren mit einem anderen Thema beschäftigt, und das ließ sie vor Furcht beinahe beben.

Sie hatte Angst. Mit jeder Minute, die verstrich, wuchs die Angst, hüllte sie ein, griff mit Eisfingern nach ihrem Herzen. Burns’ Gedicht kam ihr wieder in den Kopf. „Du kleine, arme Kreatur, Panik in deinem Herzen nur!“

Panik war in ihrem Herzen. Sie versuchte, die Furcht fortzuschieben, einzumauern in sich selbst. Doch das änderte nichts. Bald würde es Zeit sein. Dann würde das Schattenmonster sie wieder jagen, und sie wußte ohne jeden Zweifel, daß sie eine zweite Attacke wie die letzte nicht ertragen würde.

Er hatte versprochen, es nicht zuzulassen. Sie sah Delacroix’ kantiges Gesicht vor ihrem geistigen Auge und wollte ihm so gerne glauben. Dann traf sie die Erkenntnis, daß sie nicht einmal wußte, ob er noch lebte. Männer im Dienste ihres Vaters waren Spezialisten, die ihr Handwerk verstanden. Der Colonel mochte schon tot sein. Der einzige Mann, dem sie zutraute, sie lebend durch die Pein zu bringen, war vielleicht schon ermordet.

Sie wußte nicht einmal, warum sie ihm mehr vertraute als den anderen. Sie zweifelte nicht an von Görenczys Tapferkeit und Geschick und an von Orvens aufopferungsvollem Kampfgeist. Doch konnte sie nicht so recht glauben, daß die beiden wissen würden, was zu tun war, um sie zu retten. Der eine war zu selbstbewußt und kühn, der andere zu beschäftigt mit den Feinheiten adäquaten Verhaltens, um so rücksichtslos entschlossen und tödlich zu sein, wie er wohl würde sein müssen.

„Finden Sie wirklich, ich sollte Weiß tragen?“ fragte sie Mme. de Rhins-Epitué, die das eben vorgeschlagen hatte und nickte, als die beiden älteren Damen über die Vorteile eines cremefarbenen Kleides diskutierten, das ihren Status als Debütantin zwar andeutete, sie aber dennoch nicht in die Flut debütierender nobler Bayerinnen einreihte, die mit diesem Ball in die Gesellschaft eingeführt werden würden.

Sie wußte, daß Asko auf alle Fälle sein Leben für sie riskieren würde – weil es seine Pflicht war, aber auch, weil seine Gefühle ihr gegenüber ihn zwangen, sie zu beschützen. Sie hoffte, daß diese Gefühle ihn nicht hindern würden, auf das zu achten, was wichtig war, und das zu tun, was nötig war.

Delacroix tat immer, was nötig war. Das wußte sie intuitiv. Mit einem Mal fühlte sie wieder seine kräftige, knochige Hand im Gesicht, spürte seinen Daumen, mit der er ihr über die Wange gestreichelt hatte. Die Erinnerung an diese Berührung schoß ihr durch den Leib wie ein bittersüßer Speer. Es war ein Gefühl, das sie noch nie erlebt hatte. Sie sehnte sich danach, es zu analysieren.

Doch zunächst mußte sie dieses Mahl zu einem guten und schnellen Ende bringen, ohne daß es auffiel und sie unmöglich machte, und eine Gelegenheit finden, Eliza schlafen zu schicken, damit sie sich nicht einmischte. Außerdem mußte sie Marie-Jeannette wegschicken, obwohl das Mädchen natürlich um ihr anstehendes „Abenteuer“ wußte. Aber mehr durfte sie nicht erfahren. Nichts wäre schlechter, als Marie-Jeannette Grund zu geben, über die Merkwürdigkeiten der letzten Stunden nachzusinnen und eventuell eins und eins zusammenzuzählen. Zwar würde sie Marie-Jeannette noch eher ein Geheimnis anvertrauen als Eliza, doch auch das Mädchen wäre vermutlich entsetzt und fassungslos gewesen, hätte es die beklemmende Wahrheit über ihre Arbeitgeberin erfahren.

So vieles war noch zu tun, so viele Probleme zu bedenken, alles nur, um etwas tun zu können, das sie gar nicht tun wollte, nämlich einer Gefahr zu begegnen, die sie nicht einmal wahrhaben wollte. Ein Abgrund tat sich unter ihr auf, und sie balancierte auf einem Strohhalm darüber. Sehnsuchtsvoll blickte sie auf die Ausgangstüren. Wenn sie nur hätte gehen können! Sie wäre schon im nächsten Augenblick verschwunden und nie wiedergekommen.

Doch sie konnte nicht weg. Die Türen sahen nur offen aus. Ihr waren sie verschlossen. Sie erinnerte sich an den brennenden Schmerz in der Hand, als sie versucht hatte, das Hotel zu verlassen. In ihren Gedanken lächelte wieder der Arzt, der sie berührt hatte und in ihr die Erinnerung an ein Ereignis geweckt hatte, das kein Teil ihres Lebens war. Mit ein paar freundlichen Worten hatte er ihr Leben auf den Kopf gestellt. Von ihrem Selbstbewußtsein war wenig übrig.

Sie spielte mit dem Essen. Genießen konnte sie es nicht, obgleich der Koch des Hotels in der Tat von erster Güte war. Eliza bemerkte ihren mangelnden Appetit, kommentierte ihn jedoch nicht. Viel aß sie in diesem Kleid ohnehin nicht. Dazu war es zu eng.

Mme. de Rhins-Epitué beendete ihre Mahlzeit. Das ließ Corrisande hoffen. Sie wollte diese Qual beenden, obgleich sie sich danach einer weit größeren würde stellen müssen. Mit deren beharrlichem Näherrücken stellte sie fest, daß immer mehr kunterbuntes Wissen sich in ihrem Kopf ansammelte, als käme es aus dem Nichts. Wie die Flut eroberte es Zoll für Zoll mehr Gebiet, um schließlich kaum bemerkt plötzlich den gesamten Strand zu bedecken. Fragmente eines allmählichen Verstehens, Gedanken und Gefühle ordneten sich wie von selbst an. Sie wußte plötzlich, wieviel Zeit sie noch hatte, bis das Monster wieder erschien. Sie wußte auch, wo es geschehen würde. Irgendwo im Keller. Sie würden darauf warten und versuchen, es zu fangen, während es noch klein genug dazu war.

Sie mußte ihnen genau sagen, wo es auftauchen würde. Ihr Leben hing davon ab.

„Danke, Mme. de Rhins-Epitué“, sagte sie artig und lächelte schüchtern. „Tante Eliza hilft mir immer bei der Auswahl meiner Garderobe. Sie hat einen erlesenen Geschmack.“

Die langatmige Konversation riß Wunden in ihr Nervenkostüm. Sie nahm ein Schlückchen Wein.

„Ja, mein Kind“, sagte Mme. de Rhins-Epitué, „in Blau sehen Sie besonders hübsch aus. Es betont Ihre Augen. So ein heiteres Blau! Es läßt einen unwillkürlich an das Meer denken.“

Corrisande verschluckte sich und begann zu husten, was ihr einen strafenden Blick Elizas einbrachte, die das Gespräch sofort von ihr ablenkte. Noch einen Tag zuvor hätte Corrisande die Beschreibung ihrer Augen für ein Kompliment gehalten, sogar für ein sehr nettes, und eigentlich hätte sie glücklich sein und sich freuen sollen, daß Mme. de Rhins-Epitué sie so selbstverständlich unter ihre Fittiche genommen hatte. Schließlich hatte sie keinen Anlaß, mehr zu sein als nur höflich. Doch die exzentrische Dame hatte Gefallen an ihr gefunden, und offenbar machte es ihr Spaß, sich dem Abenteuer zu verschreiben, ihrer jungen Bekannten eine gute Partie zu verschaffen. Manche Frauen waren so: nur glücklich, wenn sie jemanden unter die Haube bringen konnten. Dafür hätte sie dankbar sein sollen.

Doch ihre Angst zerriß sie. Wie einen körperlichen Schmerz konnte sie die Panik in sich wachsen, immer mehr Platz in ihrem Körper einnehmen spüren. Die Furcht preßte ihren Magen zusammen und zerquetschte ihr Herz in stählernem Griff.

Ihre Gedanken rasten. Mit absoluter Klarheit war da die Erinnerung an das Gefühl, als der aalglatte Schatten ihr in die Kleider geglitten war, sie gekost und mit lüsterner Zielstrebigkeit erforscht hatte. Diesmal würde er sie mit sich in seine Welt nehmen. Sie kannte den unfaßlichen, schwarzen Ort, an dem sie scheinbar in ihrer Ohnmacht geweilt hatte, und wußte, er würde sie dorthin mitnehmen.

Er würde sie wieder in Stein und Glas gießen, sie erstarren lassen in einer eigenen Art von Tod und sie in eine Realität des Entsetzens bringen, damit er dort für den Rest ihres Lebens, das keines mehr war, mit ihr tun konnte, was immer er wollte. Die Erkenntnis schnürte ihr den Hals zu.

Sie versuchte, die Gedanken von sich zu schieben, merkte, wie ihr Lächeln, ihre fröhliche und unschuldige Miene ihr gegen ihren Willen entglitten. Das Abendessen war beinahe vorüber. Nur eines mußte sie noch tun.

Sie machte eine ungeschickte Bewegung und schüttete dabei ihr halbvolles Glas um.

„Oh je“, rief sie entschuldigend und sprang sofort auf, um zu verhindern, daß der Wein auf Elizas Kleid tropfte. „Das tut mir leid! Wie ungeschickt von mir.“ Sie errötete, tupfte mit ihrer Serviette an dem feuchten Tischtuch herum und beförderte gleichzeitig einige Tröpfchen des Mittelchens aus der Phiole, die sie in ihrer Hand versteckt hielt, in Elizas Glas.

Nicht mehr als drei. Hoffentlich waren es nicht mehr gewesen. Genau konnte sie es nicht wissen. Sie wollte keinen Mord begehen. Vielleicht wäre es besser, Eliza davon abzuhalten, es zu trinken? Aber was dann? Es hatte ihr gesamtes Geschick erfordert, das Kunststück fertigzubringen, ohne daß ihre Begleiterinnen etwas merkten. Sie war sicher, sie hatten nichts gesehen. Doch sie selbst eben auch nicht. Sie konnte nur hoffen, daß sie ohne Hinzusehen korrekt kalkuliert hatte.

Ein Ober kam, um ihr behilflich zu sein und das Malheur zu beseitigen. Sie entschuldigte sich immer noch weitschweifig. Eliza blickte leicht irritiert. Corrisande neigte normalerweise nicht zum Ungeschick. Mme. de Rhins-Epitué war großmütig. Es machte doch nichts, wenn man etwas Wein vergoß. Das konnte jedem passieren. Vielleicht war Miss Jarrencourt ja ein bißchen nervös? Das war doch verständlich. Alles in München mußte ihr schließlich neu und fremd sein. Reisen war eine aufregende Sache für junge Damen.

Corrisande nickte und lächelte unablässig. In der Tat, es war alles schrecklich aufregend. All die Menschen und Dinge, die sie kennenlernte. Alles neu und so beeindruckend. Mme. de Rhins-Epitué erhob sich, und sie und Eliza standen ebenfalls auf, verabschiedeten sich und wünschten der älteren Dame eine gute Nacht.

„Wir sollten uns im Damensalon noch einen Kaffee bringen lassen“, schlug Eliza vor. Doch Corrisande lehnte dankend ab. Sie wollte im Zimmer sein, ehe der Schlaftrunk seine Wirkung tat. Sie wollte keinen Kaffee, und sie wollte keine Konversation mehr. Sie wollte nur, daß alles bald vorbei wäre.

„Gehen wir lieber nach oben. Da können wir ungezwungener reden“, schlug sie vor, und Eliza stimmte zu. Sie wandten sich der Treppe zu.

Als sie das untere Ende der Stufen erreichten, kam von Görenczy ihnen zielstrebigen Schritts entgegen. Er kam, um sie abzuholen, wußte sie und hoffte, er würde nicht anfangen, davon zu erzählen, was als nächstes auf der Agenda stand. Nichts konnte sie im Augenblick weniger gebrauchen.

Der Leutnant trat ihnen in den Weg und salutierte höflich. Eliza starrte ihn strafend an. Sie hatte sein Benehmen vom Abend zuvor nicht vergessen und schon gar nicht vergeben.

Also rauschte sie weiter auf die Treppe zu, ignorierte ihn und zwang ihn somit, zur Seite zu treten. Nur tat er das nicht. Empörte Anstandsdamen fanden sich nicht auf seiner Liste zu fürchtender Gefahren. Er stand direkt im Weg.

„Guten Abend“, wünschte er. „Wie gut, daß ich Sie hier finde. Ich weiß nicht, ob Miss Jarrencourt ...“

Corrisande unterbrach ihn: „Haben Sie den Roten schon gefunden?“

Er sah sie verdutzt an.

„Den Roten?“ fragte er und versuchte, ihrem Blick eine Erklärung zu entnehmen.

„Stell dir vor, Tante Eliza“, sagte Corrisande, begann die Stufen zu erklimmen und zwang somit sowohl Udolf als auch ihre Anstandsdame, mit ihr mitzukommen, „Leutnant von Görenczy hat mir erzählt, im ganzen Hotel sei der Rotwein gestohlen worden. Burgunder. Suchen Sie ihn noch? Ich frage mich, was das mit Ihrem Mord zu tun hat? Seltsam, nicht wahr?“

„Oh. Das.“ Er hüstelte künstlich. „Das hatte ich ganz vergessen.“

Eliza starrte ihn an.

„Wie bitte?“ fragte sie eisig. „Wollen Sie mir erzählen, Sie haben uns gestern heimgesucht, weil ein paar Flaschen Burgunder verschwunden sind? Oder bedeutet Ihre kryptische Aussage, daß Ihre Abenteuer vom Vortag Sie am darauffolgenden Tage nicht mehr interessieren?“

„Nun“, lächelte Corrisande und konnte es sich nicht verkneifen, Udolfs Unbehagen kräftig zu schüren. Es war, als könne sie ihm etwas von ihrem eigenen Leid abgeben. Es half ihr nicht sehr. Sie hatte immer noch genausoviel Angst wie vorher, doch nachdem sie ihrer falschen Tante nun bereits das Schlafmittel verabreicht hatte, fand sie, daß sie sich nicht trotzdem noch auf eine Diskussion einlassen wollte über Risiken, die sie einzugehen oder nicht einzugehen hatte – und schon gar nicht über die Gründe, die sie veranlaßten, diese Risiken einzugehen. „Genau das hat mir der Herr Leutnant heute morgen erzählt. Freilich ist es jetzt schon Abend, und eventuell erinnert er sich nicht mehr so genau daran – und wenn er es vergessen hat, dann war das eben wahrscheinlich nicht einmal richtiger Burgunder. Nicht wahr, Herr Leutnant?“

„Ah ... nein“, antwortete Udolf. Dann korrigierte er sich: „Oder vielmehr doch. Der Wein ist wieder aufgetaucht. Es handelte sich um ein Mißverständnis.“ Er hüstelte nervös und wußte nicht, was er sagen sollte. Immerhin hatte er verstanden, daß er Mrs. Parslow nicht mit den Plänen für den Abend konfrontieren durfte. Er fragte sich, wie Corrisande ihr Versprechen einlösen und ihnen helfen wollte, wenn sie das mit ihrer Tante noch nicht besprochen hatte.

Dann entschloß er sich mitzuspielen. Er lächelte höflich und wartete auf sein Stichwort.

„Wunderbar“, kommentierte Corrisande. „Ich hatte mir schon fast Sorgen gemacht. Es geht doch nichts über ein Glas Burgunder, und ich wäre schon sehr enttäuscht gewesen, wenn dieses Hotel jetzt nur noch Bier ausgeschenkt hätte. Obwohl das in diesem Land wohl kein allzu unübliches Getränk ist.“ Sie schenkte ihm ein zauberhaftes Lächeln, und er bemerkte ihre Grübchen. Niedlich, das kleine Fräulein, das Asko so verlockend fand – und voller Überraschungen. Gänzlich unberechenbar.

Sie hatten den zweiten Stock erreicht, als Mrs. Parslow jäh zu schwanken anfing.

Corrisande ergriff ihren Arm, und von Görenczy war sofort an ihrer anderen Seite.

„Gute Güte!“ beschwerte sich die Dame. „Ich fühle mich leicht desorientiert. Wie eigenartig.“

„Dann sollten wir uns beeilen, daß wir auf unser Zimmer kommen“, erwiderte Corrisande und gab Udolf ein Zeichen, Eliza zu stützen.

Er nahm ihren Arm, und obwohl es zunächst so aussah, als wolle sie sich nicht helfen lassen, ließ sie sich dann doch die Treppe hochgeleiten.

Als sie den dritten Stock erreichten, war sie bereits sehr unsicher auf den Beinen.

„Himmel“, murmelte Udolf, „vielleicht holen wir besser einen Arzt?“

„Das wird nicht nötig sein“, versicherte Corrisande, während sie sich darüber Sorgen machte, daß das Schlafmittel offenbar viel schneller und stärker wirkte als sie gedacht hatte. Das beunruhigte sie. „Meine Tante ist nur etwas müde. Sie muß einfach einmal richtig ausschlafen. Wenn Sie so nett wären, uns ins Zimmer zu begleiten? Das wäre sehr hilfreich.“

„Ach du liebe Zeit“, murmelte Eliza und sah Corrisande mit einem Blick an, der deutlich machte, daß ihr langsam klar wurde, was geschehen war. „Was hast du getan?“

„Beruhige dich, Tante Eliza. Es gibt keinen Grund, sich zu echauffieren.“

Udolf versuchte, der Unterhaltung zu folgen, fand aber, daß sie an ihm vorbeiging. Dann hatte er auch schon keine Muße mehr, sich damit zu befassen, denn kurz vor der Zimmersuite der Damen sank Eliza in die Knie.

„Bitte heben Sie sie auf, Herr Leutnant“, bat Corrisande und schloß die Tür für ihn auf. „Wenn Sie so freundlich wären, sie auf ihr Bett zu legen.“ Sie öffnete die Schlafzimmertür und ließ ihn ein. „Wie dumm, daß Marie-Jeannette nicht hier ist, um ihr zu helfen. Ich werde ihr eine Nachricht schreiben. Machen Sie sich keine Sorgen um Mrs. Parslow. Sie hat gestern nacht nicht geschlafen, und sie ist anfälliger, als man meinen sollte. Eine ungestörte Nachtruhe wird ihr sicher guttun.“

Lügen war einfach. Sie war immer gut darin gewesen. Nur fragte sie sich jetzt, ob ihre Falschheit nicht vielleicht ein Kennzeichen ihrer Herkunft war. Sie war eine Betrügerin, eine arglistige, begnadete Lügnerin. Sie schämte sich dafür.

Doch es half nichts. Es mußte sein.

„Wenn Sie mich jetzt bitte kurz allein lassen möchten, Herr Leutnant“, bat sie. „Ich werde gleich zu Ihnen stoßen. Wir haben ja noch Zeit, nicht wahr? Erlauben Sie mir, es meiner Tante vorher noch bequem zu machen.“

Er verbeugte sich kurz und ging.

Sie brauchte ihre ganze Kraft, um Eliza in eine Position zu bringen, die es ihr erlaubte, ihr Kleid und Korsett zu lockern. Wenn man schon betäubt wurde, sollte man wenigstens frei atmen können.

Sie beugte sich über Elizas Gesicht und lauschte deren Atem. Er war ruhig und regelmäßig. Sie schlief tief.

Corrisande ging zum Sekretär. Dort schrieb sie eine Nachricht für Marie-Jeannette.

„Gib gut auf Mrs. Parslow acht. Sie hat ein Schlafmittel genommen, und du mußt darauf achten, daß es ihr gutgeht und sie nicht etwa Probleme hat, Luft zu bekommen. Ich bin mit den Offizieren auf der Jagd. Sollte Mrs. Parslow erwachen, sag ihr nichts davon. Sie wäre nur im Weg.“

Sie dachte daran, den Ring abzunehmen, der ein solch unbestreitbares Indiz für ihre Andersartigkeit geworden war. Ihr war, als sei er an ihrer Hand eine greifbare Einladung für das schwarze Ungeheuer. Doch er war auch der Schlüssel zu den Männern ihres Vaters, falls sie diese noch benötigte und sollte nicht in die falschen Hände fallen, wo er offenbar schon gewesen war. So behielt sie ihn an.

Sie eilte noch einmal in ihr Zimmer und öffnete einen Koffer. Sie nahm einen Dolch in einer Lederscheide heraus und versenkte ihn in einer tiefen Tasche, die in ihren Röcken versteckt war. Sie wußte, daß sie damit das Monster nicht würde bekämpfen können, aber sie fühlte sich dessenungeachtet jetzt, wo sie ihn einstecken hatte, sicherer.

Wie eine schwarze Flut überkam sie ganz plötzlich die Angst, und ihr wurden die Knie weich. Sie mußte sich einen Moment setzen, um nicht zu fallen.

Eine abscheuliche Situation. Ihr Vater sagte immer, man habe zu jeder Zeit die Wahl oder könne einen Ausweg finden, doch sie sah nichts als Konsequenzen. Sie hoffte, daß sie Eliza nicht vergiftet hatte. Sollte ihre Begleiterin an dem Schlaftrunk sterben, würde man sie des Mordes anklagen. Mörderinnen wurden gehängt, hier wie in jedem anderen Land, und trotzdem konnte es gut sein, daß sie nicht einmal mehr lange genug leben würde, um sich um die Folgen ihrer Tat Gedanken machen zu müssen. Ihr wurde klar, daß sie diese Nacht vielleicht nicht überleben würde. Ihr Tod war eine Möglichkeit. Ihre Chancen standen alles andere als gut ... und dann schoß ihr ein weiterer Gedanke durch den Kopf: Von allem, was ihr nun geschehen mochte, war ihr Tod noch nicht das Schlimmste.

Sie erhob sich mühsam und besah sich im Spiegel. Der Blick auf ihr angespanntes, blasses Gesicht half ihr, einen Weinkrampf zu schlucken, in den sie sich gerne geflüchtet hätte. Weinen machte häßlich, und ihre Aufgabe war es, hübsch auszusehen. Bis zum Vortag zumindest war das ihre Hauptaufgabe gewesen. Die Dinge hatten sich nachhaltig geändert. Sie holte tief Luft.

„Contenance, Corrisande!“ flüsterte sie sich selbst zu und zwang ihren Gesichtsausdruck in eine Miene, die wenigstens annähernd nach ruhiger Gelassenheit aussah. Sollte sie wirklich in dieser Nacht sterben müssen, dann wollte sie dabei wenigstens präsentabel aussehen.

Sie wünschte, sie wäre ein religiöser Mensch und hätte irgend-ein Ritual, mit dem sie sich auf das Kommende vorbereiten könnte. Bayern war ein katholisches Land, und in jedem Zimmer hingen kleine Weihwasserspender aus Porzellan neben der Tür. Sie überlegte, sich mit der frommen Flüssigkeit zu bekreuzigen, ließ es dann aber. Sie atmete tief durch, blickte zurück auf ihr Zimmer, als nehme sie davon und auch von ihrem Leben Abschied.

Sie wußte nicht, ob sie es wiedersehen würde.

Sie trat auf den Gang. Die drei Offiziere standen bereits vor der Tür und warteten auf sie. Sie sahen sie zweifelnd an.

„Guten Abend“, grüßte sie höflich, und zum ersten Mal in ihrem Leben schaffte sie es nicht, mit dem Gruß ein Lächeln zu verbinden.

Das Obsidianherz
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