Kapitel 3

Marie-Jeannette Bouchard war Corrisandes Zofe. Sie war ein ausnehmend anmutiges Mädchen von siebzehn Jahren. Tizianrote Locken spitzten rebellisch unter ihrem Zofenhäubchen hervor, und ein Paar leicht schrägstehender, hellgrüner Augen luden scheinbar zur Ergründung eines süßen und rätselhaften Geheimnisses ein. Um ihren Mund spielte ein immerwährendes Lächeln.

Das lebhafte, intelligente Mädchen war die Tochter einer in Paris nicht unbekannten Lebedame, die in ihren jüngeren Jahren die intime Freundin so manch eines äußerst begüterten und einflußreichen Herren gewesen war. Da sie offiziell nie älter geworden war als neunundzwanzig, bedeutete eine erwachsene Tochter für sie eher eine Belastung als einen Segen.

Also hatte Mme. Bouchard, die auch unter dem Beinamen „la Grande Beautée“ bekannt war, ihr Kind der Liebe nicht als Tochter, sondern zur perfekten Zofe erzogen. Es konnte nicht viele Frauen auf der Welt geben, die mehr über die gewinnende Gestaltung von Frisur und Kleidung wußten als sie und die zudem das Talent hatten, selbst das unauffälligste Mauerblümchen noch schön und begehrenswert zu machen. Doch strebte sie ein anderes Leben an als das einer einfachen Zofe, und so war sie für einige Zeit in Corrisandes Dienst getreten, die ihr vereinbarungsgemäß erstklassiges Benehmen, die gesellschaftlichen Regeln der Oberschicht sowie mindestens eine Fremdsprache beibringen sollte. Irgendwann wollte Marie-Jeannette Karriere in den Pariser Salons machen und ihre wenig mütterliche Mutter an Beliebtheit schlagen.

Es war deshalb nur allzu natürlich, daß Marie-Jeannette ihre eigenen Gründe hatte, zuverlässig, eifrig und gewissenhaft zu sein – und das war sie auch. Nachdem sie es den Damen in der gemieteten Suite bequem gemacht hatte, war sie zu einer Exkursion durch das Hotel aufgebrochen. Ihre mangelnden Deutschkenntnisse hatten sie dabei nicht übermäßig behindert. In guten Hotels sprach man Französisch oder Englisch – und sie hatte innerhalb eines Jahres erstaunlich gut Englisch gelernt und beherrschte es inzwischen beinahe so flüssig wie ihre Muttersprache.

Der Hotelportier hatte sich als unzugänglich herausgestellt. Doch sein junger Gehilfe war Wachs in ihren Händen. Ein Lächeln, ein einladender Hüftschwung und ein kleines bißchen Unterschenkel – und er zappelte wie ein Fisch an der Angel. Sie fragte ihn aus, und er bemerkte es nicht. Er hatte das Mädchen ins Büro gezogen, um wenigstens ein Küßchen erhaschen zu können. Er bekam seinen Kuß und vielleicht sogar ein wenig mehr – und Marie-Jeannette bekam einen Blick ins Gästebuch und vielleicht sogar ein wenig mehr, als man ihn plötzlich fortrief.

Jetzt kam sie mit triumphierendem Gesichtsausdruck zurück in die Suite ihrer Arbeitgeberin. Sie schloß die Tür hinter sich, knickste mit spöttischer Übertreibung, ließ sich dann breitbeinig auf einen der Sessel fallen und streckte die Beine von sich.

Mrs. Parslow rümpfte pikiert die Nase.

„Na und?“ fragte Marie-Jeannette etwas anmaßend. „Es sieht mich doch keiner.“

Mrs. Parslow warf ihr einen abfälligen Blick zu.

„Wir hatten diese Diskussion schon. Ich werde meine Zeit mitnichten darauf verschwenden, mich zu wiederholen.“

„Oh, gut.“ Marie-Jeannette war nicht in der Stimmung für Schelte. „Ich weiß. Wenn jetzt jemand hereinkäme, fände er es merkwürdig, die Dienerschaft im Sessel lungern zu sehen.“

Mrs. Parslow entschied sich, hoheitsvoll auf eine Antwort zu verzichten.

„Ich bin ziemlich müde. Während Sie ein ausgedehntes Schläfchen gemacht haben, war ich in unserer Sache unterwegs. Ganz emsig. Herr Hinterhuber erwies sich als recht nützlich.“ Sie lächelte konspirativ.

„Wer“, fragte Mrs. Parslow, die ein solches Benehmen durch hoheitsvolles Schweigen mit Nichtachtung hatte strafen wollen und nun doch zu neugierig war, um diese Taktik durchzuhalten, „ist Herr Hinterhuber?“

Corrisande unterbrach sie: „Bevor du uns weiter berichtest, setz dich bitte erst einmal anständig hin. Anständiges Benehmen muß man leben, nicht gelegentlich spielen, oder du wirst Fehler machen, und das willst du doch nicht, oder?“

Marie-Jeannette richtete sich auf, stellte ihre Füße ordentlich nebeneinander, hielt ihr Kinn hocherhoben. Die Hände faltete sie brav im Schoß, während ihre Füße und die anmutigen Fußknöchel unter dem Rocksaum verschwanden. Plötzlich schien das bescheidene Zofengewand an ihr nicht mehr passend zu sein.

„Joseph Hinterhuber, der sich gerne Sepp nennen läßt, ist der Assistent des Portiers und ein wahrer Brunnen an Information. Oder heißt das Quell? Egal. Ich habe mir Notizen gemacht.“

Sie griff in ihr wohlgefülltes Dekolleté und zog ein zerknittertes Stück Papier hervor, das sie vor sich auf dem Tischchen glattstrich. Mrs. Parslow nahm es spitzfingrig auf und begann, laut vorzulesen, eine ganze Litanei von Namen und Titeln, die meisten davon deutsch, jedoch nicht alle.

„Ich glaube nicht, daß ich auch nur einen einzigen davon kenne“, seufzte sie, als sie die Liste fertig vorgelesen hatte.

„Wer weiß, ob man dafür nicht dankbar sein sollte“, murmelte Marie-Jeannette, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten.

„Ich schon“, sagte Corrisande. „Cérise Denglot. Sie ist eine weltbekannte Opernsängerin. Ich habe sie in der Pariser Oper gesehen. Du im übrigen auch, Eliza. Die üppige Blondine mit der ausgezeichneten Sopranstimme. Ich glaube, sogar du warst nicht ganz so gelangweilt wie sonst in der Oper.“

Corrisande nahm das Blatt auf und studierte es noch einmal eingehend.

„Seht nur“, sagte sie nach einer Weile. „Mme. de Rhins-Epitué ist auch da. Ich frage mich, ob sie länger bleibt. Sie kann uns unter Umständen nützlich sein. Ich habe sie ein- oder zweimal getroffen und mit ihr geplaudert und weiß, daß man mich ihr auf irgendeinem Ball persönlich vorgestellt hat. Sie könnte mir gewiß Zugang zu den höhergestellten Damen und Herren der Gesellschaft verschaffen. Ich bin sicher, daß sie nur in den höchsten Kreisen verkehrt. Sie entstammt einem uralten Adelsgeschlecht und ist reich wie Krösus. Das macht sie natürlich zum Teil des haut ton, wo immer sie auch sein mag, selbst wenn sie sich nach der Mode von vorgestern kleidet und eine grauenhafte Vorliebe für Turbane hat. Wahrscheinlich trägt sie die nur, weil sie ihr mehr Platz lassen, ihre vielen Diamanten, Rubine, Saphire und Smaragde irgendwo festzustecken.“ Corrisande hielt inne, ein Glitzern in den Augen. „Eine wirklich unglaubliche Verschwendung erstklassiger Edelsteine. Vielleicht sollten wir ...“

Mrs. Parslow unterbrach sie: „Nein, Kind. Bestimmt nicht. Wir sollten uns diese Option nur als absolut letzte Möglichkeit zugestehen. Du wolltest doch damit aufhören, nicht wahr? Wenn du die Dame kennst, sollten wir dafür sorgen, daß du eure Bekanntschaft erneuern kannst. Sie könnte uns als Schlüssel zur allerhöchsten Gesellschaft dienen. Ihr Auftauchen mag ein wirklicher coup de chance sein. Natürlich wäre eine Blutsverwandte noch besser. Doch deine gänzlich erfundene Großtante Amelie in Possenhofen wird uns kaum eine Hilfe sein. Ich habe von Anfang an gehofft, ohne sie auskommen zu können. Wir werden dafür Sorge tragen, daß wir beim Frühstück einen Tisch neben dem Mme. de Rhins-Epitués bekommen. Marie-Jeannette könnte das organisieren – vielleicht mit Hilfe des bezaubernden Herrn Hinterhuber?“

Die hübsche Zofe schüttelte nur den Kopf.

„Heute nicht mehr. Ich muß mit meinen Zugeständnissen sparsam sein, sonst wirken sie nicht mehr so gut. Für heute hat er seinen Kuß und gerade so viel Streicheleinheiten, daß er von mehr träumen kann, schon bekommen. Morgen wieder.“

Corrisande lächelte verschmitzt.

„Ich bin sicher, das kannst du am besten beurteilen. Schließlich ist es deine Spezialität. Wir werden es auch ohne dich zuwege bringen. Vielleicht reagiert Herr Hinterhuber ja auch auf einen flehenden Blick aus blauen Augen, selbst wenn ich keine Konkurrenz für deine hervorstechenderen accessoires de beauté bin.“

„Paßt auf, daß ihr keinen Skandal auslöst“, tadelte Mrs. Parslow mit wohlgeübter Herablassung. „Ich muß sagen, manchmal nehmt ihr – und da schließe ich dich sehr wohl mit ein, Corrisande – unsere Risiken wahrlich nicht ernst genug. Unser guter Name ist unser Kapital. Es gibt schließlich einen guten Grund dafür, daß dein Vater seine Tätigkeit unter Pseudonym ausübt.“ Sie erhob sich und wandte sich erneut ihrem Schlafzimmer zu. „Jetzt sollten wir uns besser zurückziehen. Wir müssen morgen frisch und munter aussehen.“

In diesem Moment fühlte Corrisande, wie ihr mit einem Mal die Haare im Nacken zu Berge standen. Ihr war, als hörte ihr Herz zu schlagen auf, als ein Gefühl schwarzer Vorahnung sie überkam wie eine Woge eiskalten Wassers. Schwärze breitete sich vor ihren Augen aus, hüllte sie ein und nahm Besitz von ihr, riß sie aus der Welt. Sie sprang abrupt auf, drehte sich zur Wand hinter ihr und fiel dann bewußtlos zu Boden.

Ein dunkler Fleck, nicht größer als eine Blütenknospe, entsproß der Rosentapete, wuchs rasch zu einem schwarzen Schemen, sprang von der Wand, flog, streckte sich schlangenförmig durch den Raum, traf auf die gegenüberliegende Wand, wurde wieder zum Fleck und verschwand im Nichts.

Das Obsidianherz
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