Kapitel 35
Corrisande freute sich nicht auf die drohende Auseinandersetzung mit Mrs. Parslow. Sie freute sich auch nicht auf das, was danach kommen würde. Sie freute sich auf gar nichts. Sie hatte sich zum Ausruhen aufs Bett gelegt, aber bald gemerkt, daß sie nicht schlafen konnte. Angst hielt sie in eisigem Griff, irgendwo zwischen ihrem Herzen und ihrer Magengegend. Wie körperlicher Schmerz saß die Furcht in ihr und quälte sie. Also lag sie nur da, halb angezogen, unglücklich und von innerer Unsicherheit zerrissen. Der Nachmittag verrann zäh und doch viel zu schnell.
Kurz hatte sie sich überlegt, wieder zu versuchen, durch einen der Ausgänge zu entkommen. Dann hatte sie sich dagegen entschieden. Sie wußte nicht, wie viele Menschen über den Feyon-Bann informiert waren, und sie wollte deren Aufmerksamkeit auf keinen Fall erregen. Wenn man sie für andersartig, fremd und unheimlich hielt, würde das ihre Chancen und ihre Zukunft eher ruinieren, als ein Skandal mit einem Mann das vermochte.
Niemand durfte es erfahren. Sie hatte Marie-Jeannette instruiert, keinem Menschen zu erzählen, daß sie das Hotel nicht verlassen konnte und ihr eingehämmert, ja nicht Mrs. Parslow über die Vorkommnisse in deren Abwesenheit zu berichten. Sie würde ihrer „Anstandsdame“ auch nicht von dem Abenteuer erzählen, das ihr noch bevorstand. Eliza hätte doch nur wieder darauf bestanden, „sofort abzureisen und kein Aufhebens zu machen“. Sie begriff nicht, daß Corrisandes Problem nicht durch ein bißchen Entschlossenheit und festen Willen gelöst werden könnte.
Doch sie kannte auch nicht den Grund dafür, und Corrisande würde ihn ihr nie anvertrauen. Niemandem konnte sie es sagen. Soweit sie das sah, brachte ihre zweifelhafte Abstammung ihr keinerlei Vor-, sondern nur Nachteile. Sie verfügte über keine übernatürlichen Begabungen, wenn man einmal davon absah, daß sie das nahende Monster spüren konnte. Sie war nicht hellsichtig, zeichnete sich durch kein besonderes Glück aus, war kein bißchen mysteriös – nicht daß letzteres irgendwie geholfen hätte.
Nereide hatte er gesagt. Wasser hatte sie immer gerngehabt. Doch was für ein Argument war das? Vielleicht war ihr jugendliches Aussehen ein Hinweis? Diese Kreaturen, so hieß es, lebten sehr lange oder waren gar unsterblich. Sie wußte es nicht. Unsterblich konnten sie nicht sein. Sie hatte davon gehört, daß es Menschen gab, die übersinnliche Wesen jagten und töteten. Die meisten Menschen allerdings hielten diese Berichte für reine Erfindung. Sie selbst hatte sie auch für Fiktion gehalten, und im Grunde hatte sich ihr Standpunkt dazu auch nicht geändert. Nichts hatte sich geändert in ihrer Meinung über die fantastischeren Elemente des Lebens.
Sie ließ sich das, was sie über ihre Familie wußte, durch den Kopf gehen. Die Anverwandten und Ahnen, die nicht in Kriegen gefallen oder Duellen erschossen worden waren, waren in der Tat recht langlebig. Ihr Urgroßvater väterlicherseits hatte das hohe Alter von hundertvier Jahren erreicht. Sie hatte ihn noch kennengelernt. Er hatte mit ihr und ihrer Mutter auf Jarrencourt Hall gelebt. Ihr Opa war in China gestorben, während der Opiumkriege. Damals war ihr Vater noch ein junger Mann gewesen.
Ihr Vater hatte nach dem Tod ihrer Mutter sein ganzes Leben umgestülpt, war nun „der König“. Außergewöhnlich war das und ungesetzlich zudem. Aber es hatte nichts mit ihrem angeblichen Fey-Erbe zu tun. Nichts wies darauf hin.
Sie hatte nie gefragt, was ihn zu dem gemacht hatte, das er heute war. Hatte es mit dem frühen Tod ihrer Mutter zu tun? Er hatte ihr nie eine Erklärung dazu gegeben. In anderen Dingen war er zugänglicher gewesen. Seine Stellung in der Unterwelt hatte er ihr nicht verschwiegen. Er war ein guter Vater. Sie konnte nicht klagen. Er hatte ihr eine gute Erziehung angedeihen lassen und sie nie zu etwas gezwungen, das sie lieber nicht tun wollte. Er hatte sie beschützt und tat es noch.
Doch er hatte ihr nichts über einen Sí in der Ahnenreihe gesagt, und sie war sicher, hätte er es gewußt, er hätte sie informiert.
Sie hörte, wie sich die Salontür öffnete. Eliza war zurück. Corrisande versuchte ein Lächeln. Nicht überzeugend, doch es würde reichen müssen.
Zögernd stand sie auf, zog ihr Kleid zurecht, rückte ihr Fichu gerade. Sie würde Marie-Jeannette rufen müssen, damit die ihr Haar ordnete. Welche Frisur trug man, wenn man seiner Nenntante eine Menge Lügen auftischen mußte und was war der passende Stil für einen Köder, den man einem brunftigen Ungeheuer vorwarf? Gab es etwas Spezielles, das Jungfrauen trugen, die man einem Drachen opferte?
Sie zitterte, ließ sich wieder aufs Bett fallen. Das mußte besser werden. Sie mußte an ihrer Fassung arbeiten. Brave Mädchen lächelten gemeinhin süß und blickten fröhlich und voller Vertrauen in die Welt.
Die Erinnerung an glitschige Tentakel, die ihre Schenkel hochkrochen, überfiel sie, und sie würgte vor Angst und Ekel. Wieder wurde ihr bewußt, wie knapp die Rettung durch den Colonel gewesen war.
Ein seltsamer Mann. Die eigenartigen Augen irritierten sie, machten ihr ein bißchen Angst, solange kein Lächeln in ihnen zu sehen war. Doch er hatte etwas, eine besondere Art und Weise, eine Qualität, die sie nicht beschreiben konnte, die sie aber doch berührte, sie ergriff und hielt. Dabei hatte er ihr nicht einmal Avancen gemacht.
Wo von Orven sie am liebsten sofort von der Gefahr weggebracht hätte, hatte der Colonel keinen Moment gezögert, sie einem geilen Monster als Lotsin und Lockvogel vorzusetzen. Ein Gentleman hätte das sicher nicht getan. Dennoch war sie sich sicher, daß sie bei Gefahr lieber den Schutz des Colonels als den Askos genießen würde. Er strahlte eine Entschlossenheit aus, die klarmachte, daß er nicht lange fackelte, wenn es galt, Dinge zu erledigen. Er war nicht der Typ, der sich von Überlegungen, wie die Welt sein sollte, davon abhalten ließ, sie so zu sehen wie sie war. Er würde Gefahren sehen, erkennen und bekämpfen, wann immer es nötig war.
Ein gefährlicher Mann. Sie mußte wachsam sein. Die Männer hatten gesagt, sie suchten einen Mörder. Damit war er vermutlich so etwas Ähnliches wie ein Polizist und zudem auch noch aus ihrem Heimatland. Mit der englischen Polizei wollte sie nichts zu tun haben. Sie konnte es nicht riskieren. Die Position ihres Vaters, aber auch ihre eigene war dazu zu prekär. Letztlich hatte auch sie kein einwandfreies Leben geführt. Sie hatte niemanden getötet, obwohl man ihr die Kunst der Selbstverteidigung beigebracht hatte. Doch sie hatte gestohlen. In England konnte man schon für den Diebstahl eines Apfels deportiert werden, und Äpfel waren es nicht gewesen, die sie für sich und für ihren Vater den Besitzer hatte wechseln lassen.
Es klopfte, dann erklang Elizas Stimme: „Bist du da drin, meine Liebe?“
„Ja“, antwortete sie, „bitte komm herein!“
Eliza trat in ihr Zimmer, ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen.
„Du errätst einfach nicht, was geschehen ist!“ rief sie. „Ich habe Mme. de Rhins-Epitué getroffen, und sie erinnert sich an dich. Sie mag dich. Du mußt sie sehr beeindruckt haben. Ist das nicht fabelhaft? Sie hat versprochen, uns Einladungen zum Hofball zu besorgen. Langsam beginne ich zu glauben, daß das hier doch noch ein Erfolg wird. Stell dir nur vor, mit etwas Glück wirst du seiner Majestät vorgestellt! Ist das nicht eine glückliche Fügung? Wir werden die Crème de la Crème der bayerischen Gesellschaft treffen. Wenn wir unsere Trümpfe richtig ausspielen, wirst du die Frau eines reichen bayerischen Adligen sein, bevor die Ballsaison noch vorüber ist.“
„Wunderbar!“ erwiderte Corrisande, lächelte süß und blickte fröhlich und voller Vertrauen in die Welt, genauso wie man es von ihr erwartete. Einen Moment lang fürchtete sie, Eliza könnte ihre Schauspielerei durchschauen, schließlich kannte sie all ihre Tricks, doch die Dame war zu enthusiastisch, um aufmerksam zu sein.
„Ja, nicht wahr?“ fuhr sie fort und setzte sich auf das Stühlchen vor der Frisierkommode. „Sie läßt dich grüßen und hofft, es geht dir bald besser. Ich habe ihr gesagt, du leidest an Reisekrankheit. Übrigens“, fuhr sie fort, nachdem ihr nun doch irgend etwas als ungewöhnlich aufgefallen war, „warum in aller Welt trägst du dieses schreckliche Kleid? Du hättest es nie kaufen dürfen. So etwas tragen leichtlebige Frauen beim Glücksspiel und nicht artige junge Mädchen, die einen anständigen Mann heiraten wollen. Es gefällt mir nicht an dir. Es steht dir auch nicht, macht dich blaß. Was ist nur in Marie-Jeannette vorgegangen, daß sie dir dieses Kleid herausgesucht hat? Du mußt dich vor dem Abendessen umkleiden. Was ist aus dem hübschen Gelben geworden, das du heute morgen anhattest?“
„Tut mir leid. Ich mußte mich umziehen. Mir war übel, und ich habe das andere Kleid vollständig ruiniert. Also mußte ich mich umkleiden, und ich wollte etwas anhaben, das locker genug war, damit mir nicht wieder ...“
„Ach du liebe Zeit.“ Eliza klang etwas eingeschnappt. „Ich hoffe, du hast nicht vor, dir diese Gelegenheit entgehen zu lassen, indem du dich einem sinnlosen Schwächeanfall hingibst. Das sähe dir nicht ähnlich. Öffne lieber das Fenster, laß ein bißchen frische Luft herein und mach dich für das Dinner zurecht. Mme. de Rhins-Epitué beliebt früh zu speisen, sagte sie mir. Also werden wir das heute abend auch tun, damit du sie auch nicht verpaßt. Du mußt ihr dafür danken, daß sie die Einladungen besorgt. Wir können nicht riskieren, daß sie das etwa vergißt.“
Sie musterte Corrisande mit einer Mischung aus Unbehagen und Sorge. „Du bist schrecklich blaß, meine Liebe. Marie-Jeannette muß dir dringend etwas Rouge auflegen. Was sollen die Leute denken, wenn ein junges Mädchen im heiratsfähigen Alter so einen Anblick von Gebrechlichkeit bietet? Schließlich“, fuhr sie fort, „gibt es einen Unterschied zwischen vornehmer Blässe und kränklichem Siechtum. Dein Vater wäre nicht glücklich, wenn er dich so bläßlich herumstehen sähe.“
„Natürlich“, erwiderte Corrisande. „Ich werde mir Mühe geben, besonders gut auszusehen. Wenn du bitte Marie-Jeannette hereinschicken könntest? Ich werde gleich anfangen, mich zurechtzumachen. Oh“, fügte sie dann hinzu, als hätte sie just einen neuen Gedanken gehabt, „vielleicht sollten wir noch eine Tasse Tee trinken, bevor wir nach unten gehen. Danach fühle ich mich sicher besser. Würdest du eine mittrinken?“
Mrs. Parslow konnte Tee nur selten widerstehen.
„Eine ausgezeichnete Idee. Wir werden zusammen Tee trinken, und du wirst dich gleich besser fühlen. Ich hole dieses nutzlose Mädchen. Schließlich ist es ihre Aufgabe, dich hübsch zu machen.“
Sie verließ Corrisandes Schlafraum und läutete nach Marie-Jeannette.
Corrisande schlüpfte aus ihrem grünen Gewand und warf Kleid und Fichu aufs Bett.
Marie-Jeannette trat ein und sah sie fragend an.
„Was meinst du“, fragte Corrisande. „Wird das kornblumenblaue Musselinkleid für ein Dinner mit Mme. de Rhins-Epitué angemessen sein?“
Marie-Jeannette sah sie fragend an, sah dann aber, wie sie mit dem Blick auf die halboffene Tür zum Salon deutete.
„Ja“, entgegnete sie. „Es paßt gut zu deinen Augen. Aber ich werde dich fester schnüren müssen.“
Corrisande nickte seufzend. Dann drehte sie sich um, in der Hoffnung, ihr würde nicht wieder übel werden. Sie hielt sich am Bettpfosten fest, während Marie-Jeannette ihre Taille zu einem entzückenden „Fastnichts“ zusammenzog. Hugo hatte behauptet, ihre Taille mit den Händen umspannen zu können, als sie dieses Kleid angehabt hatte. Sie hatte es ihm jedoch nie gestattet. Sie war stolz auf ihr Aussehen in diesem Kleid. Es machte sie noch zarter, als sie schon von Natur aus war.
Sie sagte nicht viel, während Marie-Jeannette sie in Kornblumenblau mit blaßgrüner Borte hüllte und ihr Haar hochsteckte. Die vermeintliche Zofe war so gut in ihrem Beruf, daß Corrisande bei einem Blick in den Spiegel feststellte, daß sie inzwischen gesund und frisch aussah.
„Danke“, sagte sie. „Es ist gut. Bitte laß uns jetzt Tee kommen.“
Als Marie-Jeannette das Zimmer verlassen hatte, betrachtete Corrisande sich noch einmal kritisch im Spiegel. Sie sah aus wie ein normaler Mensch. Nicht schuppig, nicht fischig. Sie wußte nicht, wie Nereiden tatsächlich aussahen, aber sicher nicht so wie sie. Sie sah nett und adrett aus, niedlich und sehr menschlich.
Gott sei Dank.
Sie wandte sich einer kleinen Ledertasche zu und öffnete diese. Vorsichtig holte sie eine daumengroße Glasphiole hervor und ließ sie in ihrem weiten Rock verschwinden. Drei Tropfen würden Eliza einen ungestörten Nachtschlaf bescheren. Die Mixtur war hochkonzentriert, und man mußte damit sehr vorsichtig sein. Zuviel, und die Person, die man schlafen schickte, erwachte nie mehr. Das durfte nicht geschehen.
Gleichwohl war es besser für alle Beteiligten, wenn Eliza schlief, anstatt sich einzumischen und die Dinge noch unerfreulicher zu machen. Vielleicht würde sie nicht einmal merken, daß man sie betäubt hatte.
Dummes Wunschdenken. Natürlich würde sie es merken. Das Gift gehörte ihr, und Corrisande wollte gar nicht wissen, warum ihre Anstandsdame das Fläschchen immer bei sich hatte. Eliza würde es merken. Doch das war nicht zu ändern. Bis sie wieder erwachte, hoffte Corrisande eine gute Ausrede dafür gefunden zu haben, daß sie ihre Vertraute schlafen schickte.
Drei Tropfen und kein einziger mehr. Es würde nicht leicht sein, mit solcher Präzision vorzugehen, während sie mit Eliza Tee trank und ihr ins Gesicht lächelte. Eliza kannte sie immerhin sehr genau.
Dennoch gab es Dinge, die Eliza nicht wissen mußte.
Sie lächelte in den Spiegel. Das Leben war plötzlich sehr kompliziert und unerquicklich geworden. Sie verabscheute die Aufregung, die den Weg in ihr Leben gefunden hatte. Aufregung war etwas, ohne das sie gut leben konnte. In den letzten Jahren hatte sie mehr als genug davon gehabt.
Das Ganze war unfair. Sie wollte doch nur ein ruhiges, bequemes Leben. Einen Ehemann, Kinder – Söhne. Auf alle Fälle Söhne. Keine kleinen Meerjungfrauen. War das so viel verlangt? Im Grunde nicht.