Kapitel 28
Das Hotel war verhältnismäßig neu. Es war auf dem neuesten Stand, und das hieß, daß sie ihren eigenen Wasservorrat im Schlafzimmer hatte. Corrisande war dafür dankbar. Es stand immer ein zusätzlicher Krug mit Wasser da. Sie wusch ihr erhitztes Gesicht. Ihr war danach, sich noch einmal zu erbrechen, doch ihr Magen war inzwischen völlig leer.
Ihre Kehle brannte. Sie gurgelte mit Pfefferminz-Lavendel-Lösung. Die Flüssigkeit milderte etwas den schrecklichen Geschmack in ihrem Mund.
„Hilf mir aus dem Kleid“, befahl sie Marie-Jeannette. „Schnell. Ich kann es keinen Moment länger ertragen. Mach schon!“
„Hör auf zu zappeln. So kriege ich die Häkchen nicht auf.“ Marie-Jeannette war es im Moment einerlei, ob jemand hörte, daß sie ihre Arbeitgeberin duzte.
Corrisande kämpfte gegen das Kleid wie gegen einen Feind. Seide ging in Fetzen.
„Du machst es kaputt!“ schalt Marie-Jeannette.
„Egal. Ich ziehe es nie wieder an. Verbrenn alles, was ich anhabe. Ich will nichts mehr davon sehen.“
Marie-Jeannette war bestürzt.
„Aber du mußt doch nicht …“
„Tu, was ich dir sage!“ befahl Corrisande zu erschöpft, um freundlich zu sein.
Sie warf das Kleid von sich, danach ihr Unterkleid, das Korsett, die Petticoats, die Krinoline, den Unterrock, die Halbstiefel, die spitzenbesetzten Unerwähnbaren und die Seidenstrümpfe.
Marie-Jeannette wandte sich ab, war es nicht gewöhnt, daß sich ihre Arbeitgeberin völlig vor ihr entblößte. Doch Corrisande hatte diesmal andere Prioritäten. Sie schleuderte ihre Kleidung von sich und wiederholte dabei: „Daß du sie mir auch wirklich verbrennst. Ich will, daß sie fort sind. Ich werde nichts davon je wieder anziehen.“
Sie stellte sich dann nackt hinter ihren Paravent und befahl Marie-Jeannette, die auf der anderen Seite stand: „Geh hinaus zu den Herren. Sag ihnen, es wird noch eine Weile dauern, aber ich würde gerne noch mit ihnen sprechen, ehe sie gehen. Bitte sie zu warten. Laß ihnen Erfrischungen aus der Küche kommen, und dann komm gleich wieder. Ich brauche dich hier. Du mußt mir beim Ankleiden helfen, und wenn ich hier fertig bin, laß alles sauber und frisch machen.“
Marie-Jeannette verschwand aus dem Zimmer.
Corrisandes Hände fuhren durch ihr Haar, zogen Haarspangen, Zierkamm und Bänder heraus. Voller Ekel warf sie alles von sich. Sie wollte nichts an sich haben, was dieses Geschöpf angefaßt hatte. Ihr langes, seidiges Haar fiel ihr über den Rücken. Sie schüttelte es aus. Dann nahm sie einen Waschlappen und ein Stück Seife und begann, sich zu waschen, methodisch, sorgfältig, ohne auch nur einen Zoll ihres Körpers auszulassen. Nach einer Weile legte sie den Lappen weg und nahm die Nagelbürste, schabte und kratzte damit kräftig über ihre Haut und ignorierte die Tatsache, daß es weh tat. Sie kämmte ihr Haar mit der nassen Bürste.
Dann stand sie vor dem Spiegel und musterte ihren nackten Leib. So etwas tat man nicht. Eine zivilisierte Dame spazierte nicht im Evaskostüm vor einem Spiegel herum.
Aber sie mußte es wissen. Sie suchte nach Malen auf der Haut, Spuren, die der Schatten eventuell hinterlassen hatte. Es war nichts zu sehen, nur die Kratzer und blauen Flecke, die sie sich selbst mit der Nagelbürste zugefügt hatte. Eine einzige rote Linie lief über ihren Hals. Sie sah aus wie eine Verbrennung und schmerzte. Doch das war das einzig Ungewöhnliche, was sie feststellte.
Irgendwie hatte sie Fischschuppen erwartet. Als sie gespürt hatte, daß das Wesen sich ihr durch den Boden näherte, war sie gerannt. Sie wollte nicht noch einmal in einem schwarzen Ohnmachtsanfall gefangen sein und hatte Angst, weil es ihren Namen kannte und ihr irgendwie weh tun konnte. Doch als es sie am Ende des Korridors überwältigt hatte, war das zuerst nicht schmerzhaft gewesen, hatte nicht so weh getan, wie sie befürchtet hatte. Das Geschöpf hatte sie liebkost. Mehr als das. Es hatte sie auf eine ekelerregende, körperliche Art umworben, und plötzlich hatte sie verstanden, daß es etwas Ähnliches, etwas Verwandtes in ihr sah. Eine Freundin, eine verwandte Seele, sofern die Fey Seelen hatten.
Das hatte alles noch schlimmer gemacht, und es war etwas, das sie den Männern dort draußen, die so tapfer und entschlossen darum gerungen hatten, sie zu befreien, nicht anvertrauen konnte. Sie war nicht einmal sicher gewesen, ob sie begriffen hatten, was ihr da passiert war. Delacroix hatte es verstanden. Ein wenig haßte sie ihn dafür.
Sie mußte sich überlegen, was sie ihnen sagen wollte. Niemand durfte erfahren, daß auch in ihren Adern Feyon-Blut floß. Daß sie Feyon genug war, um das Nahen des Monsters vorauszuspüren, bevor es sich noch materialisierte, und daß sie nicht durch den Feyon-Bann treten konnte und somit gezwungen war, als umworbenes Weibchen einer mit Fangarmen versehenen Kreatur, die direkt aus der Hölle kommen mußte, hier auszuharren.
Das Ding mußte sterben. Man mußte es töten, selbst wenn das hieß, daß sie bei der Jagd helfen und ihm erneut gegenübertreten mußte. Selbst wenn das hieß, daß es sie vielleicht wieder in schwarzem Glas erstarren ließ, daß sie wieder tot sein würde, denn das war sie gewesen, ein lebloses Stück Stein. Sie hatte gespürt, wie ihre Haut, ihre Adern sich in einer einzigen Sekunde verfestigt hatten. Ihr Blut war erstarrt. Ihr Herz gefroren. Die Schmerzen waren entsetzlich gewesen, kaum auszuhalten, und sie hatte instinktiv gewußt, daß dies nur der Anfang einer Metamorphose war, die noch weitaus grauenhafter werden würde.
Ihre Knie wurden weich, und sie wankte, krallte sich an der Wand fest. Nur nicht fallen. Sie weigerte sich, ihren Augen nachzugeben, die sich schließen und dem Schwarz ergeben wollten. Sie wollte nicht schutzlos einem weiteren Angriff ausgeliefert sein. Jeden Moment konnte es zurückkehren.
Doch dann wußte sie plötzlich genau, daß das Wesen vor dem Abend nicht zurückkommen würde. Sie wußte nicht, woher sie dieses Wissen hatte. Es war einfach da. Die plötzliche Gewißheit ließ ihren Magen erneut rebellieren. Übelkeit stieg in ihr auf, und sie kämpfte mühsam dagegen an, blickte zweifelnd nach dem Eimer.
Sie nahm frische Unterkleidung aus dem Schrank und begann, sich anzuziehen. Sie hatte versucht, das, was der blonde Arzt ihr eröffnet hatte, als Hirngespinst abzutun. Doch es stimmte. Es mußte stimmen. Nereide hatte er sie genannt. Meeresnymphe.
Sie versuchte, sich daran zu erinnern, ob es etwas in ihrer Familiengeschichte gab, das ein Hinweis auf ihre Abstammung hätte sein können. Nichts. Doch als sie jetzt darüber nachdachte, fiel ihr auf, daß die Jarrencourts immer Söhne gehabt hatten, nie Töchter. Daß Vermögen und Titel vom Vater auf den Sohn übergingen, war alltäglich. Daß es jedoch nie etwas anderes gegeben hatte als Söhne, war abnorm. Sie war die erste Tochter der Jarrencourts.
Vielleicht trat das Fey-Erbe ja nur in der weiblichen Linie auf? Vielleicht hatte es deshalb niemand bemerkt? Sie mußte mehr darüber lesen, doch jetzt war die falsche Zeit. Im Moment war nur eines wichtig: das Geheimnis zu wahren. Es durfte nicht ans Licht kommen. Niemand durfte Bescheid wissen. Nicht einmal ihr Vater, dem alles Arkane sehr suspekt war, der aber vermutlich schnell willens sein würde, irgendwelche bizarren und unnatürlichen Talente, sollte sie solche besitzen, für sich einzusetzen. Bizarr und unnatürlich waren die Worte, die sie gesucht hatte. Sie war ein bizarres Monstrum.
Marie-Jeannette kam zurück.
„Die Herren haben sich nach deinem Wohlbefinden erkundigt. Sie trinken jetzt Kaffee. Mit Keksen. Der blonde Leutnant sieht aus, als würde er am liebsten hereinkommen und dir beim Anziehen helfen.“
Corrisande zwang sich zu einem Lächeln.
„Denkbar. Doch er würde es nie tun. Er ist ein perfekter Kavalier.“
Marie-Jeannette grinste.
„Wenn du mich fragst, ich würde ja ...“
„Aber ich frage dich nicht, Marie-Jeannette, und es tut im Moment auch nichts zur Sache. Hilf mir lieber ins Korsett und schnür es nicht zu eng. Das wäre meinem gegenwärtigen Befinden nicht zuträglich. Ich werde das grüne Kleid anziehen.“
„Grün steht dir doch nicht. Es macht dich bleich.“
„Damit ist es nicht allein. Andere Dinge machen mich auch bleich.“
„Aber du siehst in dem blaßlila Musselinkleid so viel besser aus ...“
„Dies ist kein Empfang. Was immer für den Rest des Tages geschieht, es wird nicht durch die Farbe meines Kleides beeinflußt. Das Grüne ist weit und bequem, und das brauche ich jetzt.“
Es war still im Zimmer. Marie-Jeannette biß sich auf die Lippen. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben.
„Ähm ...“, sagte sie schließlich, „ich bin nicht sicher, aber dieses Schreiben, das ich für dich ...“
„Welches Schreiben?“ fragte Corrisande.
„Das an den Repräsentanten des ,Königs‘. Über Colonel Delacroix …“
Corrisande setzte sich hastig, als ihre Knie nachgaben.
„Was?“ fragte sie bestürzt.
„Mrs. Parslow gab mir ein Schreiben für Herrn Dupont. Nur war er nicht da. Er soll hier im Hotel sein. Wer weiß warum. Seine Nummer Zwei hat mir versprochen, sich sofort um den Fall zu kümmern.“
Corrisande fragte nicht, welcher Fall gemeint sein konnte. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und saß reglos und erstarrt da.
„Oh Gott“, rief sie. „Wir müssen ihn warnen. Wenn er unseretwegen umkäme, würde ich mir das nie verzeihen. Du mußt ihn warnen!“
„Wie denn?“ fragte Marie-Jeannette. „Wir können nicht zu ihm gehen und ihm beichten, daß wir leider aus Versehen einen Mörder auf ihn angesetzt haben. Er würde uns nicht glauben, und wenn doch, würde er Fragen stellen – und was dann?“
„Dann mußt du diesen Mörder finden. Er muß ja hier herkommen. Sag ihm, es war alles ein Mißverständnis.“
Marie-Jeannette sah unglücklich aus. Sie wollte dem Banditen nicht noch einmal begegnen. Wahrscheinlich würde sie ihn nicht einmal finden.
„Er ist bestimmt ein geübter Meuchelmörder. Da paßt er sicher auf, daß ihn keiner sieht“, warf sie ein.
Die beiden saßen schweigend da.
„Eine anonyme Warnung?“ fragte Marie-Jeannette nach einer Weile.
Corrisande sprang auf.
„Genau. Das ist es. Ein Bleistift liegt auf meinem Nachttisch. Haben wir Papier?“
„Nur Lockenpapier. Der Schreibblock ist im Salon.“ Marie-Jeannette gab ihr einige dünne Streifen braunen Papiers, das sie normalerweise dazu benutzte, um ihrer Arbeitgeberin Löckchen zu drehen.
„Das muß reichen. Er ist ein Mann. Er hat höchstwahrscheinlich keine Ahnung, was Lockenpapier ist.“
Corrisande kniete sich neben ihr Nachtschränkchen.
„Sir“, schrieb sie in steilen Versalien, bemüht, ihre Schrift zu verstellen, „dies ist eine Warnung. Ein Meuchelmörder ist hinter Ihnen her. Er wird heute noch zuschlagen.“ Sie unterzeichnete mit „Ein Freund.“
Sie faltete den Papierschnipsel sorgfältig.
„Soll ich ihn in sein Zimmer schmuggeln?“ fragte Marie-Jeannette.
„Nein“, entgegnete Corrisande. „Wir wissen nicht, wann er dorthin zurückkehrt. Ich werde ihn in seiner Rocktasche deponieren. Da findet er ihn zweifellos.“
Marie-Jeannette nickte. Ihre Brotherrin war, wie sie wußte, eine geschulte Taschendiebin. Hätte sie es gewollt, sie hätte ihren Lebensunterhalt damit verdienen können.
Sie waren mit dem Anziehen fertig.
Corrisande musterte sich im Spiegel. Sie war bleich. Das Grün stand ihr nicht. Es ließ sie alt aussehen, fast so alt, wie sie war, und das Dekolleté war zu groß und zeigte mehr, als ein junges Mädchen zeigen sollte.
„Es ist zu tief ausgeschnitten“, sagte sie, doch Marie-Jeannette kam schon mit einem schwarzen Spitzenfichu, das sie über den Ausschnitt drapierte. Grüne Seide und schwarze Spitze. Nicht gerade das, was man von einem achtzehnjährigen Fräulein erwartete. Egal.
„Was machen wir mit deinem Haar?“ fragte Marie-Jeannette „Es ist noch feucht.“
„Wir lassen es offen. Keine Zeit für eine Frisur. Steck es an den Seiten zurück.“
Marie-Jeannette holte zwei Haarspangen und schob sie in Corrisandes Haar. Dann musterte sie sie kritisch.
„Nicht dein Stil“, sagte sie unglücklich. Sie war stolz auf ihre Verschönerungsfähigkeiten, und ihre Arbeitgeberin sah nicht aus, wie sie sollte.
„Ich pfeife auf Stil“, antwortete Corrisande in einer Ausdrucksweise, die sie sonst tunlichst vermied. Marie-Jeannette sah sie erstaunt an.