Kapitel 25

„Haben wir einen Plan?“ fragte Udolf hoffnungsvoll.

„Nein“, sagte Delacroix und gab ihm das Eisenkästchen, in dem sie das Wesen fangen sollten. „Hier. Ich bin mit dieser verdammten Schulter etwas behindert.“ Er hielt sein Messer in der Rechten. „Ich schätze, auf dieser Etage brauchen wir keine weiteren Gäste zu erwarten. Jetzt, wo die Damen Jarrencourt und Parslow abgereist sind, haben wir den Korridor ganz für uns.“

„Es wäre besser, wenn wir mehr wären als nur drei Leute“, sagte von Orven. „Wenn wir es diesmal wieder nicht fangen, müssen wir wohl Verstärkung anfordern. Zudem bin ich der Meinung, wir sollten das Hotel räumen lassen. Die Gäste sind unnötig in Gefahr.“

„Zu auffällig“, antwortete Delacroix. „Aber es wird ja schnell leerer. Sie nehmen keine neuen Gäste mehr auf.“

Die drei schritten langsam den Korridor entlang, öffneten eine Tür nach der anderen und blickten in die leeren Räume.

„Wissen Sie“, sagte Udolf, „ich bin verdammt froh, daß Cérise nicht da ist.“

Delacroix schenkte ihm einen ironischen Blick.

„Ihre liebenswürdige Fürsorge ehrt Sie“, lobte er. „Ich bin auch froh darüber. Es wäre schade, wenn der Welt eine solche Stimme verlorenginge.“

„Das auch“, entgegnete Udolf. „Aber sie wäre auch im Weg.“

„Zweifellos“, bestätigte Delacroix.

Langsam schritten sie weiter, Delacroix in der Mitte, Udolf mit dem offenen Kästchen in der einen und der geliehenen Pistole in der anderen Hand. Er suchte die Wände ab, ließ den Blick über Decke und Fußboden schweifen. Asko bildete die Nachhut, achtete darauf, was hinter ihnen geschah und hielt dabei seine Handfeuerwaffe in der Rechten und das kleine Obstmesser in der Linken.

Jeder Schatten auf dem Teppich, jeder Sonnenstrahl, der durch das Treppenhausfenster fiel und Muster malte, jeder winzige Fleck auf den Seidentapeten ließ sie anhalten und besorgt nach einem Feind Ausschau halten, der möglicherweise plötzlich hinter ihnen aufgetaucht sein könnte.

„Großer Gott!“ fluchte Udolf, „hoffentlich schieße ich nicht sämtliche Spinnen ab und habe dann keine Munition mehr, wenn die Bestie auftaucht.“

Die anderen wußten, was er meinte.

Sie hatten Angst. Keiner von ihnen hätte das je zugegeben, doch Angst hatte sich hinterrücks in ihre wackren Herzen geschlichen. Von Orven hoffte inständig, die Auskunft, das Wesen könne nur über Menschen mit magisch berührter Vergangenheit herfallen, wäre richtig. Von Görenczy seinerseits hoffte, nie ein magisches Abenteuer erlebt zu haben, an das er sich etwa nach einer durchzechten Nacht nicht mehr entsann. Delacroix fühlte einen Klumpen Eis in der Magengrube bei der Vorstellung, das Wesen könne ihn erneut auf die gleiche Weise anfallen. Er spürte noch, wie sich die Kälte durch seinen Körper geschlängelt hatte, nachdem das Monster in ihn eingedrungen war, und er spürte noch das Messer auf dem Weg in sein Fleisch und die heftigen Schmerzen, die ihn fast gelähmt hatten. Er schob diese Gedanken fort, doch das Bild der schwarzen Eiswelt ohne Ausweg und das des sterbenden Mädchens befielen ungewollt immer wieder seine Gedanken.

Er ließ fast das Messer fallen, als ein Schrei durch die Stille schnitt. Er kam aus der Zimmerflucht, die die Jarrencourt-Damen bewohnt, den Räumen, die sie als leer erachtet hatten.

Die Tür flog auf und krachte an die Wand. Mit wehendem Kleid rauschte Corrisande Jarrencourt aus dem Zimmer und rannte wie ein Hase davon. Sie hastete den Flur entlang, entfernte sich dabei von ihnen.

Die drei Männer schrien fast gleichzeitig.

„Was zum T...“, fluchte Asko.

„Es ist hinter ihr her. Wir müssen es kriegen!“ schrie Delacroix.

„Gottverflucht!“ rief Udolf.

Sie brauchten einen Moment, um zu durchschauen, was da geschah. Alle drei reagierten falsch. Statt in die Richtung zu laufen, aus der das Mädchen geflohen war, rannten sie hinter ihm her, um es zu schützen.

Nur ein, zwei Sekunden, und sie erkannten ihren Fehler und drehten sich dem entgegen, was die Quelle von Miss Jarrencourts Panik gewesen war. Diese Sekunden jedoch waren entscheidend.

Wie eine sich schlängelnde Lanze schoß die Kreatur aus der offenen Tür, dem Mädchen hinterher. Mit einem kühnen Sprung warf sich von Görenczy ihr in den Weg und versuchte, das Wesen mit der offenen Box aufzuhalten und es in dieser zu fangen. Doch das Monster war zu groß und zu schnell. Der Aufprall warf ihn um, und er purzelte Hals über Kopf taumelnd und rollend über den Boden, ohne sich sofort fangen zu können. Er fühlte eine eiskalte Berührung am Hals. Wie eine Schlange wand sich Kälte um seinen Kehlkopf und drückte zu. Er ließ Waffe und Eisenschachtel fallen und griff mit beiden Händen nach dem Feind, der ihn im frostklirrenden Würgegriff hatte. Doch er fand nur seinen eigenen schmerzenden Hals. Das Geschöpf war schon wieder fort.

Er versuchte, sich abzurollen, um wieder auf die Beine zu kommen und geriet dabei genau in den Weg Leutnant von Orvens, der in Richtung der schreienden jungen Frau rannte, über ihn stolperte und nun ebenfalls der Länge nach auf den Boden fiel. Dabei verlor er sein Messer und feuerte beim Aufschlag seine ungesicherte Pistole ab. Er schlug mit dem Kopf hart gegen ein Möbelstück, das an der Wand stand.

Delacroix sprang über die beiden hinweg und umklammerte sein Messer mit finsterer Entschlossenheit. Er sah Corrisande am Ende des Ganges am Boden kauern. Auf den Knien lag sie, gleichsam zusammengeklappt, den Oberkörper auf die Schenkel gedrückt, die Hände im Nacken gefaltet, während sie versuchte, mit Armen und Ellenbogen ihren Kopf zu schützen. Der Schatten ließ ihr hellgelbes Kleid bräunlich und fleckig wirken. Er umspann sie wie in einem Kokon, schlierte und waberte an ihr entlang, als suche er Einlaß. Sie hatte zu schreien aufgehört und zitterte so sehr, daß Delacroix es schon aus einigen Metern Entfernung sehen konnte. Wie ein Bündel grauer Schleier streichelte Dunkelheit ihren bebenden Körper, liebkoste ihn mit ekelerregender, widerlicher Lust. Schattenfinger rieben sich an ihr, schlüpften ihr ins Dekolleté und die Beine hoch. Ein ganzes Schlangennest begann sich unter der gelben Seide zu winden und an ihrer Haut entlangzukriechen.

Sie sah zu ihm auf. Ihre himmelblauen Augen waren aufgerissen vor Entsetzen, ihr Gesicht totenbleich. Ein schlängelndes Tentakel aus Schatten flutete über ihr Antlitz und versuchte, ihr die Lippen zu öffnen.

Er stand jetzt dicht neben ihr und erwartete den Ansturm auf ihn selbst.

„Laß sie in Ruhe“, befahl er heiser, kniete sich neben sie und beugte sich über ihre schmale Gestalt. Die Hand mit dem Messer zitterte leicht – vor Entschlossenheit? „Du willst doch gar nicht sie. Du willst mich. Weißt du nicht mehr? Ich bin derjenige, den du übernehmen kannst.“

Der Schatten erstarrte zu schwarzem Glas. Innerhalb weniger Sekunden wurde das kauernde Mädchen zu einer obsidianschwarzen Skulptur. Sie war in sich selbst eingeschlossen, wurde zu spiegelndem, dunklem Kristall. Eine schwarze Träne sah er auf ihrer Wange, eingefroren auf dem Weg von ihrem Auge nach unten.

Delacroix brüllte vor Enttäuschung auf und stach mit seinem Kalteisendolch zu.

Das Mädchen zerschmolz, nahm lebende Gestalt an, als der Schatten sich teilte. Delacroix warf sich herum, bevor sein Messer die junge Frau vor ihm treffen konnte. Es glitt an der Wand entlang, schnitt und kratzte nur wenige Zentimeter von Corrisandes Halsschlagader durch die Seidentapete. Er überprüfte sie mit einem kurzen Blick. Unversehrt.

Sie stöhnte schmerzerfüllt und rang nach Atem, verkroch sich noch tiefer unter seiner Waffe. Ihr weißes Gesicht sah mit riesigen, entsetzten Augen zu ihm auf.

„Bitte nicht!“ bettelte sie, doch er hatte keine Zeit mehr für sie, sah sich aufgeregt nach dem Monster um. Wo war es?

Es war noch da. Dunkle Schattenschleier wogten in etwas Abstand um sie beide, lauernd, abwartend. Er drehte sich um, blickte von ihr fort, kniete vor ihr, um sie mit seinem Körper abzuschirmen, während seine Hand die Luft um ihn herum zerschnitt, in dem rasenden Versuch, die Kreatur, die niemals dort war, wohin er sich auch noch so schnell bewegte, mit der Waffe zu berühren.

Das Wesen kam näher, und er kroch auf den Knien weiter zurück, klemmte die junge Frau zwischen sich und der Wand ein. Er spürte ihren bebenden Körper an seinem Rücken.

Dann stieß das Wesen zu, abermals wie eine Schlangenlanze, spitz, tödlich zielte es auf sein Herz. Er brüllte das Monster an und stach mit dem Messer danach. Wie ein Fechtmeister wich es aus. Die alte Narbe über seinem Herzen schien in weißglühendem Feuer aufzuflammen, und er spürte, wie sich sein Amulett in die Haut brannte.

Noch einmal stieß er einen Kampfschrei aus und hackte mit seinem Messer wild um sich, ohne noch genau zu wissen, ob das Böse schon in ihn eingedrungen war oder nicht.

Dann sah er Asko von Orven in einem langen Sprung auf sich zustürzen. Er schwang dieses sinnlose kleine Obstmesser. Zwei dunkle Klingen trafen sich beinahe im Schwung, und der Schatten bäumte sich auf, wurde dünn – und schien verschwunden.

Das Obsidianherz
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