Kapitel 34
Er war heißhungrig, raubgierig und hielt sich an dem Bewußtsein fest, daß seine Gedanken nur noch um die Befriedigung seines Hungers kreisten. Er war gefährlich, wenn er so war, gefährlicher, als er gerne sein wollte, doch sein rationales Denken trat hinter sein Verlangen zurück, hinter die physische Gier.
Er hatte gehofft, der Bann werde bald brechen. Er wußte, wie schwer es für einen Menschen war, eine solche Barriere aufrechtzuerhalten. Man brauchte einen oder mehrere gut ausgebildete Magier, um den Bann undurchlässig zu halten. Doch sie war noch da. Er sah die Luft um das Hotel flimmern, sah den kristallenen Schimmer arkaner Macht, den nur die Fey erkennen konnten.
Graf Arpad saß fest. Er verfluchte sich dafür, daß er zwei Nächte zuvor nicht jagen gegangen war, doch in der einen war er angereist, in der anderen hatte er sich auf das Treffen mit seinen Patrioten vorbereitet, und jetzt konnte er nicht hinaus, saß in einer Falle, die – da war er sich sicher – gar nicht ihm galt. Aber das war egal. Natürlich hatte er nicht ahnen können, daß dies geschehen würde. Doch er hätte mehr auf seine Bedürfnisse achten müssen. Seine Bedürfnisse machten ihn aus, unablässig und ohne Unterlaß.
In seinem langen Leben hatte er es sich zur Regel gemacht, nicht dort zu jagen, wo er schlief. Doch als die Stunden vorüberschlichen, wußte er, daß er eine Ausnahme machen mußte. Er würde im Hotel jagen müssen, und zwar solange er noch so weit an sich halten konnte, daß er eine Spur nüchternen Denkens behielt. Wenn ihn der Hunger übermannte, würde er nicht nur zur Gefahr für seine Beute, sondern auch für sich selbst werden.
Er versuchte gemeinhin, nicht zu töten. Er mußte nicht töten, um satt zu werden. Er empfand Achtung vor dem Leben, obwohl er nicht altruistisch war. Aber er schätzte die Vielfalt des Lebens und dessen zähe Ausdauer und Beharrlichkeit. Er brauchte Blut zum Überleben. Es mußte kein Menschenblut sein, doch das zog er vor. Er liebte den Geschmack und genoß die Befriedigung, wenn er es trank. Lust und Hunger waren eins für seinesgleichen.
Die Menschen nannten ihn Vampir, ein hohles Wort, das sie mit einem noch hohleren Konzept verbanden. Ihm hing kein Grabgeruch an. Er lebte. Er fühlte sich lebendiger als seine Opfer, erlebte alles intensiver. Seine Sinne waren geschärft von der Jagd in hunderttausend strahlenden, blutwarmen Nächten.
Die Nacht war sein Revier. In den Abertausenden von Grautönen sah er seine Farben. Wo Menschen hilflos und blind waren, konnte er jedes Detail seiner Umwelt ausmachen, konnte in finstre Fernen blicken und die Körperwärme der von ihm Auserwählten wahrnehmen, ihr pulsierendes Leben, ihren lauten Herzschlag, der ihn wie eine Mittagsglocke zum Mahl rief.
Seine Sinne wurden schärfer, wenn er Hunger hatte oder darbte. Nur ein schmaler Grat trennte seine erhöhte Wahrnehmung von dem Verlust an Vorsicht und Sorgsamkeit, an freiem Willen und geplantem Vorgehen. Lust und Begierde drohten ihn dann zu übernehmen, trieben ihn den gefährlichen Weg rückhaltloser Befriedigung entlang, der zwar seinen eigenen süßen Jägerlohn bot, doch auch Gefahr bedeutete und bisweilen sogar Reue.
Menschen waren fragil. Es war so leicht zu töten. Im allgemeinen bemühte er sich, es nicht zu tun. Eine Spur leergetrunkener Leichen würde nur zu unangenehmen Fragen führen, zur verrückten Hatz auf ihn. Er war sterblich. Man konnte ihn töten, so man wußte wie.
Holzpflöcke ängstigten ihn nicht. Warum auch? All die Klischees, die Menschen aus Angst gebaren, aus der Ahnung, es könne so etwas wie ihn geben. Aberglauben zu sammeln war ihm Zeitvertreib. Manche Vorstellungen waren bar jeder Realität, andere kamen der Wirklichkeit nahe.
Eines Tages, dachte er, würde er ein Buch über Vampire schreiben und dabei jeden Aberglauben nennen, den er je gehört und gesammelt hatte. Ein Buch der Leidenschaft, mit Liebe und Gefahr, finsteren Burgruinen, Kruzifixen, stinkendem Knoblauch und blutunterlaufenen Augen. Es wäre amüsant, so etwas zu schreiben oder schreiben zu lassen. Doch im Moment hatte er nicht die Muße, sich mit derlei zu befassen.
Er mußte trinken. Er konnte sich nicht mit Planereien belasten. Er mußte jagen, mußte hier im Hotel eine Person finden, die allein war. Ein Mädchen oder eine Frau schwebten ihm vor. Es konnte aber auch ein Mann sein. An einem Ort mußte er sie finden, an dem er ungestört wäre. Keine leichte Angelegenheit.
Noch war es nicht Nacht. Er hatte die Vorhänge zugezogen, draußen im Flur jedoch fiel allzu helles Tageslicht durchs Fenster. Er haßte helles Licht, es blendete ihn, beeinträchtigte seine Sehkraft, so wie Dunkelheit die Menschen blind machte. Sonnenlicht verbrannte seine Haut, also mied er es. Ein heiterer Sommertag schwächte ihn nachhaltig. Ein bedeckter Frühlingsnachmittag wie dieser machte ihn fiebrig und beeinträchtigte seine Sinne. Doch er würde sich zurechtfinden.
Er setzte seine dunkle Brille auf. Fortschritt war praktisch. Die Sonnenbrille war seine Lieblingserfindung. Dennoch mußte er wachsam sein. Sehr sogar. Er hatte einen Mönch in Kutte durch das Hotel spazieren sehen, die Züge voller sauren Argwohns. Mönche stiegen nicht in teuren Hotels ab. Er kannte nur eine Sorte, die da aus bestimmten Gründen eine Ausnahme machte. Das hieß, sie waren hier. Seine Gegner. Die Gegner aller Fey, aller Sí.
Sie versuchten, die Erde von ihm und seinen Geschwistern zu läutern, strebten eine ärmere Version der Welt an, eine nur für Menschen, die sie Gotteskinder nannten. Über die Jahrhunderte hatten sie viele seiner Art zerstört, und das Wissen und Können der Gruppe war Jahrzehnt um Jahrzehnt gewachsen. Langsam, aber sicher hatten sie die Ausmerzung allen intelligenten, nicht-humanoiden Lebens perfektioniert, sie in eine finstre Kunstform umgewandelt, die sie unter der Ägide der Kirche praktizierten, die ihrem Treiben leidenschaftslos und nachsichtig zusah, ohne ihre Existenz jemals zuzugeben.
Was die Kirche und ihr Dogma anging, so existierte er nicht einmal. Dennoch gab es die Bruderschaft, eigens gegründet, um Wesen wie ihn zu jagen. Er verstand Religion nicht, hatte keinen Sinn für religiöse Mystik und ihre irdische Konsequenz. Doch ihm war klar, daß es besser war, sich von den Jägern fernzuhalten.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er sie nicht fürchten müssen. Aber sie hatten viel gelernt. Er wußte, sie verfügten über Erkenntnisse, mit deren Hilfe sie ihn oder seinesgleichen letztlich doch vernichten konnten. Doch er mußte sich nur selten Sorgen um sie machen. Ihre Ära war vorbei, und sie waren in diesem Jahrhundert nur noch ein kleines Häufchen Männer in einer großen, aufgeklärten und wenig abergläubischen Welt. Er fragte sich, was sie hier taten. Ihre Präsenz beunruhigte ihn, doch die Bedürfnisse seines Körpers ließen ihn den Gedanken nicht zu Ende denken. Die Ziele der Bruderschaft waren weniger eminent als seine eigenen.
Er öffnete die Tür seines Zimmers und spähte hinaus. Nur wenige Menschen waren auf dem Flur. Sie sahen ungefährlich aus. Frauen konnte er vernachlässigen. Nur Männer konnten zur Bruderschaft gehören. Sie waren nicht gezwungen, die Zeichen ihres Ordens sichtbar zu tragen, und sie tauchten selten irgendwo allein auf. Sicher war nicht nur einer von ihnen hier.
Er konzentrierte sich, spürte die Energielinien der Umgebung. Zauber, jemand manipulierte die Feinabstimmungen der Realität. Er spürte es in seinen Fingerspitzen. Doch es gelang ihm nicht, den Ort des Geschehens zu lokalisieren. Das hieß, daß es mehr als eine Quelle gab. Mehr als ein Meister des Arkanen war am Werk. Das war ihm aber längst klar gewesen.
Er hätte sie bekämpfen können, das wußte er, doch eventuell hätte er den Kampf verloren, und er hatte keine Priorität. Die hatte seine Jagd und sonst nichts. Er zog seine ausufernden Gedanken in sich zusammen in der Absicht, normal zu erscheinen, selbst keinen Zauber zu wirken, keinen Geist zu manipulieren. Das fiel ihm schwer, denn die Wahrnehmung anderer zu dem zu biegen und zu formen, was er sie denken, fühlen und sehen lassen wollte, war Teil seines Naturells. Er tat es unablässig, seit langer Zeit. Wenn er satt und rational war, war es einfach, seinem Geist Einhalt zu gebieten, doch im Moment kostete es ihn Überwindung und Kraft.
Er trat auf den Flur, schloß die Tür hinter sich ab. Zwei Damen liefen vorbei. Die Jüngere erwiderte sein Lächeln. Er zwang sich, den Blick von ihrer Kehle zu nehmen, zog die Fänge ein. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht sie. Obwohl es bedauerlich war. Er sog ihren Wohlgeruch ein, der sein Verlangen aufblühen ließ. Mühsam wandte er seine Schritte in die entgegengesetzte Richtung, fühlte die Präsenz des Mädchens direkt auf seiner Haut. Sein Körper reagierte, wuchs ihr entgegen in dem physischen Verlangen, das sie mit der Liebkosung eines Lächelns ausgelöst hatte.
Er ging zur Gesindetreppe, schlüpfte ungesehen in den Teil des Hotels, der für Gäste nicht zugänglich war. Die Treppe hinab. Vorbei an Wäscheschränken und Teewagen. So sauber und seifig roch hier alles, daß es für ihn fast unerträglich war. Er mochte keine intensiven Gerüche. Seine überempfindsame Nase empfand sie als erdrückend.
Er fand, was er suchte. Eine junge Wäscherin trat aus einem Raum. Sie war rundlich mit einem kräftigen Körper und bewegte sich zielsicher. Seine Lippen öffneten sich. Er folgte ihr, sog den Duft ihrer Haut ein, selbst auf die Distanz, selbst durch die seifige Luft des Treppenhauses. Lustvoll nahm er Witterung auf.
Sie hielt inne und drehte sich um, wirkte alarmiert. Doch sie sah ihn nicht. Ohne darüber nachdenken zu müssen hatte er sich in den Hintergrund aus Schatten eingefügt. Sie sah an ihm vorbei, drehte sich wieder um und setzte ihren Weg fort.
Er fragte sich, wo sie die Wäsche hinbringen würde, und hoffte, es wäre ein einsamer Ort. Als sie eine Tür öffnete, glitt er hinter ihr in den Raum. Wäscheleinen waren hier gespannt, und einige Laken hingen bereits zum Trocknen darauf. Sie nahmen die Sicht zum Ausgang.
Lautlos bewegte er sich zwischen den aufgespannten Stoffen, dann hatte er sie erreicht. Sie erschrak, als er vor ihr auftauchte, öffnete den Mund, um zu schreien, seufzte jedoch nur, als seine Gedanken die ihren ergriffen und hielten. Sie war keine Schönheit, nicht einmal hübsch, doch im Moment war er nicht wählerisch. Er zog sie an sich, preßte seinen geschmeidigen Körper an den ihren, legte seinen linken Arm um ihren Rücken. Sie musterte seine Eckzähne, ohne zu verstehen, was vor sich ging.
Seine Rechte streichelte zart ihre runden Brüste und wanderte zu ihrer Kehle, dann zu ihrem Kinn, das er sanft nach hinten schob und somit präzise den Ort an ihrem Hals freigab, den er anstrebte, den er erobern wollte und mußte. Sie lächelte irritiert und erwartungsvoll, und das machte sie beinahe schön. Ihre Brüste hoben und senkten sich mit ihrer Atmung, und er beugte sein Gesicht hinunter zu ihr, zur Quelle, zu seiner Erfüllung. Seine Zähne gruben sich in ihre Ader, und er sog ihr warmes Blut gierig ein.
Sie stöhnte, gab sich ihm hin wie einem Liebhaber, und er trank, lüstern und triebbesessen, hielt sie dabei fest in seinem Arm.
Nach einiger Zeit verlor sie das Bewußtsein, erschlaffte in seiner Umarmung, und er raffte seinen Rest von Vernunft und Entscheidungskraft zusammen, um sich von ihr zu lösen. Er war noch nicht satt, noch nicht befriedigt.
Doch er wollte sie nicht umbringen und wußte, daß nicht mehr viel dazu fehlte. Wenn er weitertrank, würde er sie töten. Er legte sie auf den Boden, drapierte sie auf eine Weise, die vermuten ließ, sie sei gestolpert und gestürzt. Noch einmal beugte er sich über sie, doch nur, um ihre Wunden zu lecken und so zu verschließen. Die kleinen Löchlein in ihrem Hals schlossen sich ordentlich und sahen wie zwei Mückenstiche aus. Sie würde schwach sein. Aber sie würde leben. Ziemlich sicher.
Zwei, drei Schritte brachten ihn zur Tür. Er brauchte mehr Blut, doch er mußte jetzt anderswo jagen, oder es würde auffallen, und er mußte sich schnell bewegen, konnte nirgends lang verweilen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, den Männern, die seine Art auszurotten suchten, den Weg zu ihm zu weisen.
Er war keine Sekunde zu spät, duckte sich hinter die sich öffnende Tür. Eine Matrone trat ein und rief: „Creszenz?“
Er glitt hinter ihr durch die Tür, und sie bemerkte ihn nicht. Nach oben, unters Dach zu den Gesinderäumen. Sie versprachen eine gute Jagd. Oder vielleicht sollte er doch versuchen, die junge Frau wiederzufinden, die im Korridor an ihm vorbeigegangen war? Sie hatte ihm zugelächelt.
Vielleicht war sie inzwischen allein in ihrem Zimmer. Er würde sie finden, mußte nur ihrem Duft folgen. Wenn sie allein war, würde er sie nehmen, wie er sie immer nahm, zärtlich und unbezwingbar. Der Vorgeschmack ihres Körpers und ihres warmen Blutes ließ ihn nach Atem ringen.
Jetzt fühlte er sich besser. Er war noch hungrig, doch Lust und Gier trieben ihn nicht mehr so absolut wie zuvor. Er brauchte einen klaren Kopf. Für das, was er vorhatte, mußte er seine Leidenschaft im Griff haben.