Kapitel 18

Corrisande saß auf dem Bett und versuchte, nicht zu weinen. Weinen war nutzlos, es ließ einen nur häßlich und aufgedunsen aussehen. Sie war stolz darauf, nur Tränen zu vergießen, wenn sie dadurch ein bestimmtes Ziel erreichen konnte. Sonst weinte sie nie. Außer unter ganz besonderen Umständen.

Am Vorabend hatten besondere Umstände geherrscht, und an diesem Tag waren sie nicht minder schlimm. Doch sie wollte nicht weinen. Sie verabscheute Hysterie und gestattete sich nie, darin zu versinken. Tränenreiche Erschütterung war etwas, was man gegebenenfalls bei entsprechendem Anlaß gut inszenieren mußte, dem man sich aber wenn möglich nicht einfach hingab. Also weinte sie nicht. Im Grunde war ihr auch mehr danach, laut zu kreischen. Doch auch das hatte man in einer zivilisierten Umgebung tunlichst zu unterlassen.

Sie hatte Eliza aus dem Zimmer komplimentiert. Sie wollte sich nicht noch weitere Hypothesen und Pläne anhören, oder was immer es war, das ihre Begleiterin gerade zu sagen hatte. Sie wollte einfach, daß alles vorbei wäre.

Sie hatte sich auf die Münchner Ballsaison gefreut. Nach dem Desaster vor einigen Monaten in Paris schien sie einen Neuanfang wert. Armer Hugo. Sie hatte ihn gemocht. Er war nett und freundlich gewesen, und was konnte man von einer guten Partie sonst schon verlangen? Liebe und Leidenschaft waren etwas für französische Schundromane und hatten nichts mit dem normalen Leben zu tun.

Es war eine unglückliche Fügung, daß er auf ihr Familiengeheimnis stieß. Üblicherweise fand man nur heraus, was man herausfinden sollte. Die Jarrencourts waren eine intelligente Familie. Die Hintergrundgeschichte war gut durchkonstruiert und hielt einigen Nachforschungen stand. Ihr Vater war ein kränkelnder Invalide, der nie Gäste empfing. Kontakt konnte nur durch Briefwechsel erfolgen.

Die Leute glaubten das, bedauerten sie ab und zu dafür, daß so ein junges Mädchen nur mit ihrer Tante in die Gesellschaft ging und nicht mit dem einzigen verbleibenden Elternteil. Hugo hatte es auch geglaubt. Anfangs. Es war ja auch keine besonders ausgefallene Geschichte. Das Leben war so. Menschen erkrankten und gingen nicht mehr in Gesellschaft. Das konnte jederzeit passieren.

Aus Hugos Sicht war es freilich allzu sorglos gewesen, sie mit seinen Erkenntnissen zu konfrontieren, anstatt diese einfach nur bekanntzumachen. Sie erinnerte sich noch gut an den Abend, als er sie besuchen kam, seine Miene voll bitterer, wütender Entrüstung. Er stürmte in ihren Salon, warf ihr drei dicke Geldbündel zu Füßen. Für ihre Dienste, erklärte er, und er habe nicht vor, in eine Bande von Räubern und Mördern einzuheiraten und denke gar nicht daran, sich mit einem Schwiegervater abzufinden, der fern davon, ein hilfloser Invalide zu sein, die wildeste Spielhölle in Paris leitete, wenn auch unter Pseudonym. Er habe nicht die Absicht, eine Braut zum Altar zu führen, die in übel beleumundeten Häusern aufgewachsen und deren einziges Ziel sein Geld sei. Wenn Geld ihr ganzes Anliegen sei, da könne er helfen. Da habe sie Geld, Geld genug, und sie solle glücklich damit werden. Er plane nicht, sich ein paar Wochen nach der Hochzeit in seinem Ehebett ermorden zu lassen, nur um die Welt um eine extrem wohlhabende Witwe reicher zu machen.

Der letzte Kommentar war besonders grob. Corrisande hegte keine solchen Pläne. Sie hoffte vielmehr auf ein beschauliches Eheleben in einer sicheren, geordneten Umgebung. Sie liebte ihren Vater im gleichen Maße, wie sie ihn fürchtete. Freilich war ihre Jugend etwas ungewöhnlich gewesen, doch ihre Ausbildung hatte alle Fertigkeiten und Qualitäten beinhaltet, die eine Dame von Stand erwerben mußte, denn ebendies war sie. Sie hatte nur darüber hinaus noch mehr gelernt. Doch ihr Vater hatte nie darauf bestanden, daß sie sein ungewöhnliches Leben teilte. Er hatte ihr die Wahl gelassen, und sie hatte sich schließlich entschieden, gut zu heiraten. Hugo zu heiraten.

Sie hatte gefleht und gebettelt. Sie hatte ergreifende Kullertränen vergossen. Sie hatte die Hände gerungen. Sie hatte ihn gebeten, sie von einem Leben zu erretten, das sie nicht ertragen könne. Sie war erblaßt. Sie war errötet. Nichts hatte geholfen.

Er sei nur gekommen, um das Verlöbnis aufzukündigen. Das schulde er seiner guten Erziehung. Er habe Briefe an seine Familie und die Behörden geschrieben, sagte er, die die Machenschaften einiger besonders übler Verbrecher aufdecken sollten. Er hatte sie noch nicht aufgegeben. Doch sie solle wissen, daß er das jederzeit tun könne. Er gebe ihr nur die Chance, das Land vorher zu verlassen. Nicht weil er glaube, ihr irgend etwas schuldig zu sein, sondern weil er ein Gentleman sei und der Gedanke, daß seine ihm Angelobte in Ketten gelegt und in den Kerker geworfen würde, ihm deshalb nicht behagte. Vermutlich, hatte er hinzugefügt, sei er viel zu großzügig und sie solle sich sehr schnell aus dem Land, ja aus dem Erdteil entfernen. Noch in der gleichen Nacht. Er schlug Amerika vor, oder Indien. Oder China. Dann ging er.

Er kam nie zu Hause an.

In der gleichen Nacht hatte sich Corrisande als Jüngling verkleidet und war zu seinem Haus gegangen. Es war leicht gewesen, dort einzubrechen. Die Briefe hatten auf seinem Sekretär gelegen, fein säuberlich zur weiteren Verwendung gestapelt. Sie hatte sie an sich genommen und verbrannt. Das Unheil war abgewendet gewesen, zumindest soweit es sie und ihren Vater betroffen hatte.

Nun waren sie also nach München gekommen, um hier nach einer passenden Partie zu suchen. Eliza begleitete sie wie immer, um ihren Ruf tadellos zu halten und zudem, weil Corrisande ihr im Erfolgsfalle einen hohen Bonus versprochen hatte. Eine Beteiligung, die um so höher ausfiel, je besser die Verbindung wäre, die Corrisande einging. Wenn die Dinge anders gelaufen wären, hätte sich Eliza diese Beteiligung bereits verdient. Aber es hatte nicht sein sollen, und nun fingen sie wieder von vorn an. Eine neue Saison. Eine neue Residenz. Doch nichts war bislang eingetroffen wie erhofft, und nun saß sie fest.

Unangenehm war es gewesen, unendlich unangenehm. Mrs. Parslow und Corrisande waren aus dem Hoteleingang getreten, und plötzlich hatte Corrisande keinen einzigen Schritt mehr tun können. Sie hatte das Geländer am Eingang umfaßt, als ginge es um ihr Leben, hatte es nicht loslassen können. Kaum hatte sie atmen können. Sie hatte sich verzweifelt umgesehen, in der Erwartung, der Spuk werde nun gleich über sie kommen, um sie mitzunehmen in jene schwarzeisigen Gefilde der Hoffnungslosigkeit. Doch nichts dergleichen war geschehen. Allerdings hatte eine überwältigende Macht sie daran gehindert, von dem Hotel zu lassen. Sie hatte keinen Schritt mehr tun, ihre Hand nicht vom Geländer nehmen, sich nicht zur Droschke weiterbewegen können. Es war gewesen, als sei sie gegen eine Wand gelaufen.

Magie, hatte sie gefolgert. Es mußte Zauberei sein. Was sonst? Heißer Zorn war in ihr aufgestiegen. Irgend jemand hatte es ihr unmöglich gemacht, das Hotel zu verlassen.

Sie war zurückgestolpert, fast durch die Flügeltüren in das Gebäude hineingefallen. Ein Portier hatte sie aufgefangen. Er hatte ihr zu einer Couch in der Lobby geholfen, und sie war zitternd darauf niedergesunken.

Der alte Portier hatte sie merkwürdig angesehen, als sähe er sie zum ersten Mal. Es war eher ein mißtrauischer denn ein mitleidiger Blick gewesen, den sie nicht hatte deuten können.

Eliza hatte sich eingefunden und sie leise dafür gescholten, daß sie sie einfach draußen hatte stehenlassen. Sie hatte sie aufgefordert mitzukommen. Die Droschke warte.

Eventuell hätte Corrisande es erneut versucht, wenn nicht inzwischen eine Reihe hilfsbereiter Menschen herbeigeeilt gewesen wären, die sich für den Schwächeanfall der jungen Dame interessierten.

Es hatte keine Wahl gegeben. Sie hatten zurück auf ihre Zimmer gemußt. Eliza hatte es gehaßt, die eben getroffenen Arrangements wieder umzuwerfen. Sie hatte Corrisande töricht und albern geheißen. Schließlich müsse sie nur die Stufen hinuntergehen und das Geländer loslassen.

Doch Corrisande wußte, daß sie das nicht vermochte.

Inzwischen konnte sie sich vorstellen, was geschehen sein mochte. Sicher war es dieser Delacroix gewesen. Bestimmt war er ein Zauberkünstler oder so etwas. Das würde zumindest seine fremdartigen Augen erklären. Er hatte die Türen verzaubert, damit sie nicht abreisen konnte. Er dachte wohl immer noch, er könne sie dazu bringen, ihm bei der Verfolgung der Gespenstererscheinung zu helfen. Er hatte kein Recht dazu. Sie war erbost.

Dem würde sie es zeigen. Jawohl. Ganz bestimmt.

Sie erhob sich und ging in den Salon. Dort gab es ein Schreibpult. Sie nahm Papier und Feder zur Hand.

„Eliza“, fragte sie ihre Gesellschafterin, „wie gut sind deine Kenntnisse bezüglich arkaner Angelegenheiten?“

„So gut wie nicht existent, fürchte ich“, antwortete die Dame und klang immer noch etwas beleidigt. „Was willst du wissen?“

„Endet ein Zauberspruch mit dem Tod dessen, der ihn ausgesprochen hat?“

Eliza sah sie verblüfft an. Langsam schien sich ein Gedanke in ihrem Sinn zu formen. Sie lächelte ziemlich unangenehm.

„Ich könnte es mir vorstellen. Was hast du vor?“

Corrisande tauchte die Feder ins Tintenfaß.

„Ich denke“, sagte sie, „ich werde Papas Repräsentanten in München einen Brief schreiben.“ Sie lächelte unangenehm. „Ja, ich glaube, das werde ich tun. Schließlich hat Papa uns ja jede erdenkliche Unterstützung versprochen.“

„Wenn du es für nötig hältst, dann solltest du das tun, meine Liebe.“

Eliza nahm ihre Stickerei wieder auf.

Corrisande begann zu schreiben.

„Sehr geehrter Herr“, schrieb sie. „Im begründeten Vertrauen auf Monsieur J.s Vorausblick und Sorgfalt bin ich mir sicher, man hat Sie bereits informiert, daß ich in München bin und unter seinem besonderen Schutz stehe. Ich möchte Sie bitten, mir in einer sehr unangenehmen Angelegenheit behilflich zu sein. Ich befinde mich im Nymphenburger Hotel, das ich auf Grund der Machenschaften eines Colonel Delacroix, dessen magische Fähigkeiten ich nicht bezweifle, nicht verlassen kann. Augenscheinlich hat er mich mit einer Art Zauberspruch belegt, der mich an das Gebäude bindet. Ich wäre Ihnen für entsprechende Unterstützung außerordentlich dankbar, denn ich will diesen Ort dringend noch heute verlassen. Soweit ich hörte, überlebt ein Zauber nicht den Hexenmeister, der ihn wirkte.“

Sie unterzeichnete den Brief nicht, sondern zog ihren Ring vom Finger und öffnete den Stein. Unter ihm war ein Wappen zu sehen, eine Nixe, die ein Herz hielt. Sie sah den Stein zaudernd an. Das Wappen der Jarrencourts. Eine noble, alte Familie.

Sie ergriff das Schreiben, riß es entzwei und zerknüllte es. Einen Moment lang saß sie nur da, zornig, daß sie nicht wie ihr Vater sein konnte. Dann änderte sich ihre Wut, richtete sich gegen sie selbst, und sie verstand nicht, wie sie auch nur hatte erwägen können, einen Mord in Auftrag zu geben. Sie erinnerte sich wieder an die gelblichen Augen, die von so nah in ihr Gesicht geblickt hatten.

Der Mann war unmöglich. Gewiß. Doch sie wollte und konnte nicht seine Mörderin sein.

Langsam stand sie auf und ging in ihr Schlafzimmer. Sie schloß die Tür leise und vorsichtig hinter sich und besiegte heldenhaft den Impuls, sie einfach nur wütend ins Schloß zu werfen. Sie setzte sich wieder aufs Bett. Es mußte eine andere Lösung her. Irgend etwas mußte ihr einfallen.

Im Salon schritt Eliza zum Sekretär und holte den zerknüllten Brief aus dem Papierkorb. Sie nahm Feder, Papier und den Siegelring zur Hand. Auf ihrem Gesicht lag ein fast mütterliches Lächeln.

Das Obsidianherz
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