Kapitel 68
McMullen saß da, halb verborgen zwischen seinen Büchern. Er hatte einen Freund, der in der Königlichen Bibliothek arbeitete, die vor einigen Jahren nicht allzuweit von der Residenz auf der Ostseite der Ludwigstraße erbaut worden war. Diesem hatte er eine Nachricht zukommen lassen, und der hatte ihm ein ganzes Paket Bücher über Ungeheuer und ungewöhnliche Fey zukommen lassen. Das meiste war untauglicher Nonsens. Wenn er hier nicht fündig würde, würde er als nächstes seine Loge um Hilfe bitten müssen. Bisher hatte er das vermieden.
Er las konzentriert, versuchte, eine Antwort zu finden, eine Lösung für ihr Problem. Das Kästchen stand immer noch auf dem Tisch, und die Offiziere machten einen Bogen darum, wenn sie durch das Zimmer gingen.
Von Görenczy hing halb dösend in seinem Sessel. Es langweilte ihn, auf Antworten zu warten, die eines größeren Zeitaufwandes bedurften. Von Orven summte ein fröhliches Liedchen und lächelte verträumt vor sich hin. Wenn er sich bewegte, schien sein Schritt etwas Tänzelndes zu haben. In der Tat tänzelte er im Zimmer mal hierhin, mal dorthin. Seine Augen strahlten vor Glück.
Delacroix bedachte ihn mit einem giftigen Blick.
„Leutnant von Orven“, bemerkte er. „Warum machen Sie nicht ein Päuschen und vertreten sich die Füße? Außerhalb dieses Raumes? Sie könnten dort zu Ende singen und dann zurückkommen, und wenn Sie schon dabei sind, könnten Sie uns etwas zu essen bringen lassen. Das wäre nett. Vielleicht mögen die hiesigen Küchenangestellten Ihre Musik.“
Asko lächelte.
„Natürlich“, sagte er. „Tut mir leid, daß ich Sie gestört habe. Aber ich bin sehr glücklich. Sie können sich nicht vorstellen, wie glücklich.“
„Offenbar kann ich das nicht“, gab der Colonel zurück. „Obwohl ich gerne zugestehe, daß Ihr Glück kaum zu ignorieren ist.“ Er fragte sich, was der glückliche Leutnant wohl zu dem Umstand gesagt hätte, daß kurz nach seinem Besuch bei Miss Jarrencourt die nämliche junge Dame zu ihm ins Schlafzimmer gekommen war, um dort beinahe zu sterben.
Er fragte sich außerdem, was von Orven dazu gesagt hätte, hätte er gewußt, daß er gerade die ersten Schritte für eine Bindung zu einem Wesen unternommen hatte, das immerhin entfernt verwandt war mit dem Ding in der Schachtel auf dem Tisch, das die Verwandtschaft erkannt und die Wunschgattin des Bayern zu koitieren versucht hatte.
Er konnte es ihm nicht sagen. Gern hätte er gefragt, ob der junge Mann tatsächlich um die Hand der hübschen Corrisande angehalten und welche Antwort sie ihm gegeben hatte. Doch er konnte es nicht. Es war völlig unmöglich. Es ging ihn nichts an.
„Hat sie ja gesagt?“
Jetzt hatte er doch gefragt. Am liebsten hätte er sich getreten. Asko starrte ihn erstaunt an. Eine so persönliche Frage hatte er nicht erwartet, und Delacroix hatte kein Recht, sie zu stellen. Es sollte ihn nicht einmal interessieren.
„Nun“, antwortete Asko. „Sie hat mir Grund zur Hoffnung gegeben, wenn Sie es genau wissen wollen. Mehr habe ich nach einem Tag Bekanntschaft auch nicht erwartet.“
McMullen blickte mit einem seltsamen Gesichtsausdruck von einem Mann zum anderen.
„Verzeihung“, sagte Delacroix. „Ich hätte nicht fragen sollen. Geht mich nichts an. Gratuliere.“
„Zu früh für Gratulationen“, antwortete Asko mit einem Lächeln. „Aber dennoch vielen Dank. Ich gehe dann mal und lasse uns etwas zu essen bringen – und singe dem Koch etwas vor.“
Er verließ den Raum. Es wurde auffallend still.
McMullen sah Delacroix an, als versuche er, Antworten in dessen Miene zu finden.
„Ich werde das Gefühl nicht los, Sie sollten mir etwas erklären“, brummte er, und Delacroix nickte, deutete aber mit dem Kopf auf von Görenczy, der in seinem Sessel döste und die Augen geschlossen hielt. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken.
McMullen machte eine Geste in Richtung des Chevaulegers, und der begann, sanft zu schnarchen.
„Also“, sagte er, „Sie haben sie nicht hergebracht. Daraus schließe ich, Sie haben sie selbst ausgehorcht. Was haben Sie herausgefunden?“
„Sie ist zum Teil Sí.“ McMullens Brauen schossen in die Höhe. „Sie sagt, sie hätte den Attentäter nicht gedungen, doch sie weiß, wer es war. Sie sagt, darüber“, er wies auf die Box, „weiß sie nichts.“
„Glauben Sie ihr?“
„Sie ist eine Schwindlerin, aber das glaube ich ihr.“
„Sie ist eine Feyon? Wie das? Ich meine, wie kann es sein, daß Sie das nicht bemerkt haben?“
„Nach dem, was Cérise oder besser Timothy – Cérises Fey-Liebhaber – sagte, muß es vor langer Zeit einen Fehltritt in der Ahnenreihe gegeben haben. Sie hat keine äußerlich sichtbaren Kennzeichen. Ich habe sie mit dem Kalteisendolch fast umgebracht. Ich habe sie schwer verletzt.“
„Schon wieder?“
„Schon wieder. Ich wußte es nicht. Können Sie etwas für sie tun? Sie hat eine schwere Verbrennung an der Hand. Es muß abscheulich weh tun.“
„Ich bin kein Mediziner. Meine Heilkräfte sind begrenzt, und sie funktionieren bei Menschen, nicht notwendigerweise bei Sí.“
„Sie sagte, sie wußte nichts von ihrem Erbe, bis sie in den Feyon-Bann gelaufen ist. Sie wußte nicht mal, was es war. Jemand hat es ihr erklärt.“
„Wer?“
Er hatte sie nicht gefragt. Die einzige logische Frage, und er hatte sie nicht gestellt.
„Ich weiß es nicht. Ich war unkonzentriert. Sie ist mir beinahe unter den Händen weggestorben. Mein Hirn hat nicht richtig gearbeitet. Cérise hat mich einen Idioten genannt. Höchstwahrscheinlich zu Recht.“
„Cérise ist eine kluge Frau – wenn sie will“, erwiderte McMullen.
„Cérise ist eine nervenzerfetzende, egoistische ...“
„Aber, aber. Ihr Ärger richtet sich doch nicht gegen Mlle. Denglot, oder? Was machen wir jetzt mit Miss Jarrencourt?“
Delacroix ließ sich auf einen Sessel fallen, stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub sein Gesicht einen Augenblick lang in den Händen.
„Nichts“, sagte er dann. „Gar nichts. Ich hoffe, sie ist vernünftig genug, sich nicht von unserem Leutnant vor den Traualtar schleppen zu lassen, und wenn sie es doch tut, hoffe ich inständig, daß er nie herausfindet, was sie wirklich ist. Er haßt alle Sí mit jeder Faser seines wohlanständigen, überbraven Wesens, und er ist ein ehrlicher und geradliniger Trottel, während ich sie im Verdacht habe, eventuell aus einem kriminellen Umfeld zu stammen.“
„Du liebe Güte.“ McMullen klang besorgt. „Was ist mit Ihnen?“
„Was soll mit mir sein?“
„Ich hatte den Eindruck, daß Sie gegen Miss Jarrencourts Charme auch nicht vollständig immun sind.“
„Ich werde mich ihr nicht wieder aufbürden. Nie mehr.“
McMullen ließ es dabei bewenden und wechselte das Thema.
„Sie haben mit Cérise gesprochen? Was hat sie gesagt – außer daß Sie ein Idiot sind?“
„Sie hat gesagt, ihr – Timothy – wisse von dem Manuskript. Sie sagte nicht, er sei auf unserer Seite, doch sie ließ durchblicken, daß er nicht gegen uns arbeitet. Sie wollte ihn bitten, uns zu berichten, was er weiß. Ich wünschte nur, sie gäbe besser auf sich acht.“
„Sie ist eine erwachsene, unabhängige Frau. Die Risiken, die sie eingeht, sind ihr Problem. Nicht Ihres, Delacroix.“
„Vorausgesetzt, sie tut es nicht mitten in einer meiner Kampagnen.“ Delacroix sprang wieder auf und lief unruhig auf und ab.
„Das ist auch wieder wahr.“
Sie schwiegen.