Kapitel 33
Udolf beantwortete der Polizei alle notwendigen Fragen. Kannte er den Mann? Hatte er ihn schon einmal gesehen? Könnte er sich einen Grund vorstellen, warum der Bösewicht Delacroix angegriffen hatte?
Routine. Die Polizisten waren höflich. Offenbar hatte man sie informiert, daß das Team im Hotel direkt seiner Majestät unterstand. Ihr Wissensdurst zerfraß sie fast. Von Görenczy war jedoch weder in der Laune, ihnen etwas über ihren Einsatz zu erzählen, noch hatte er die Genehmigung dazu. Also sprach er nur von dem „allerhöchsten Auftrag“, in der Hoffnung, sie würden das als Erklärung hinnehmen.
Es erklärte im Grunde nichts. Nach einiger Fragerei war die Polizei dann aber doch gegangen und hatte den Leichnam mitgenommen. Die Gendarmen trugen ihn auf einer abgedeckten Bahre die Bedienstetentreppe hinunter. Ehe sie endgültig gingen, wandte sich der einzige Nicht-Unformierte – vermutlich der Vorgesetzte – dienstfertig von Görenczy zu und sagte: „Ich hege einen vagen Verdacht, wer das sein könnte, Leutnant. Wenn ich richtig vermute, könnte er zu den Oberschurken Münchens gehören. Raub und Schmuggel. Einer der Männer des ,Königs‘.“
Von Görenczy blickte ihn ungläubig an.
„Des Königs?“ fragte er und konnte nicht fassen, daß ein königlich bayerischer Beamter eine solche Majestätsbeleidigung von sich gab.
„Das sagt Ihnen höchstwahrscheinlich nichts“, antwortete der Beamte und lächelte eifrig. „Wir haben Grund zu der Annahme, daß er zu einer Bande gehört, die ihre Untaten in mehreren europäischen Ländern begehen. Ein wohlorganisierter Haufen. Landesgrenzen bedeuten ihm nicht viel. Bis jetzt konnten wir ihm nie etwas beweisen, und wir wissen auch nicht, wer hinter der Sache steckt. Wir wissen nur, daß der Kopf der Bande sich ,der König‘ nennt. Es kann beinahe jeder sein. Überall. Die Behörden in mehreren Ländern versuchen seit Jahren, mehr über die Bande herauszufinden. Aber sie läßt sich schlichtweg nicht fangen. Sie ist furchtbar gut organisiert. Ich hoffe, Ihr Freund hat sie sich nicht zum Feind gemacht. Sie ist gefährlich.“
Der Polizist hob die Hand und salutierte. Es sah seltsam aus, da er nicht in Uniform war.
„Ich komme später wieder, Herr Leutnant“, versicherte er, als entsönne er sich plötzlich wieder der eigentlichen Rangordnung. „Ich muß Colonel Delacroix befragen. Das kann ich ihm nicht ersparen. Vielleicht kann er ja Licht in die Sache bringen.“
Dann wandten die Polizisten sich zum Gehen. Udolf stoppte sie.
„Eins noch“, sagte er. „Vielleicht suchen Sie besser noch einmal das Hotel ab. Man hat mich heute im Keller unter der Gesindetreppe angegriffen, als ich einen Leichnam entdeckte. Leider war er fort, als ich wieder zu mir kam.“
„Fort?“
„Weg. Jemand hat mir von hinten eins übergezogen. War eine Weile weggetreten. In der Zeit muß man den Toten fortgebracht haben. Höchstwahrscheinlich ist er längst nicht mehr im Hotel.“ Er gab einen kurzen Report und beschrieb den Toten so gut wie möglich.
„Herr Leutnant“, sagte der Polizist, „wir haben Befehl, bei diesem Fall so unauffällig wie möglich zu sein. Aber wir tun, was wir können.“
Dann ging er.
Von Görenczy ging nicht gleich wieder nach oben in sein Zimmer. Er begab sich ins Herrenzimmer, steckte sich einen Zigarillo an und ließ sich ein großes Glas Cognac kommen. Genau, was er jetzt brauchte. Durch einen vermeintlichen Schuß von nebenan aus dem wohlverdienten Schlummer zu schrecken war so eine Sache.
Natürlich hatte er den Säbel gezogen und war losgestürmt. Cérise in Delacroix’ Zimmer zu finden hatte er jedoch weiß Gott nicht erwartet, und es hatte ihn zutiefst verstimmt. Wenn möglich, sprach er nicht mit ihr, und das Verhalten des Colonels legte zumindest nahe, daß er der Frau ähnliche Gefühle entgegenbrachte. Beide waren abgelegte Liebhaber der wunderschönen Sängerin.
Von Görenczys Romanze mit ihr war nur von kurzer Dauer gewesen, doch er hatte sie leidenschaftlich geliebt. Er liebte immer leidenschaftlich. Wie sonst? Nur dieses Mal hatte es für ihn mehr bedeutet als nur eine Affäre. Affären hatte er dauernd. Sie bedeuteten ihm nichts. Junge Frauen, oft genug aus der Unterschicht, die seine adrette Uniform und seine schneidige Art unwiderstehlich fanden. Er akzeptierte ihre Bewunderung als selbstverständlich. Daß sie ihn liebten, nahm er als süßen Zeitvertreib, daß sie sich ihm hingaben als das ihm als Helden zustehende Eroberungsrecht.
Er war jung, sah gut aus und war forsch. Natürlich mochten sie ihn. Er benahm sich, wie man es allen Chevaulegers nachsagte. Selbstbewußt und verführerisch zu sein war Teil des Truppencharakters. Man warnte Mädchen vor ihnen.
Die jungen Damen, die nicht auf ihre Mamas hörten, taten es wider besseres Wissen und mußten somit die Konsequenzen selbst tragen. Er hatte nie darüber nachgedacht. Er war ein Mann mit Bedürfnissen und Begierden, und er fand, es sei nicht seine Aufgabe, stellvertretend für andere über die Moral junger Frauen zu wachen. Das war Aufgabe der Eltern – und die der Mädchen war es, sich so zu benehmen, daß sie keinen Schaden nahmen. Von ihm konnte man das nicht verlangen. Chevaulegers waren dafür bekannt, eine Spur gebrochener Mädchenherzen hinter sich zu lassen. Die Kavallerie liebte und zog weiter. So war es eben.
Er hatte nicht damit gerechnet, daß etwas Vergleichbares auch ihm passieren könnte. Frauen konnten nicht so sein, hatte er gedacht. Frauen waren sanft und nachgiebig, naiv und romantisch, willig und oft leichtgläubig.
Natürlich wußte jeder, daß die Mädels von der Oper oder vom Ballett ein wenig freizügiger waren, und das war gut so. Sie verdienten eigenes Geld und lebten zumeist außerhalb des Schutzes, den eine Familie oder ein Ehemann bot. Folglich waren sie nur sich selbst verantwortlich.
Cérise hatte es ihm keinesfalls leichtgemacht. Sie hatte ihn lange hingehalten, hatte es verstanden, ihn immer verliebter zu machen. Wunderschön und kapriziös war sie. Sie hatte mit ihm gespielt, seine Werbung abwechselnd mit Wohlwollen oder Gleichgültigkeit bedacht, hatte ihm ihr süßes Lächeln geschenkt und trotzdem gewußt, ihn auf Abstand zu halten. Wie ein Verhungernder war er sich in ihrer Umgebung vorgekommen. Ganz wirr hatte sie ihn gemacht, bis er kaum noch gewußt hatte, wohin mit seiner gottverdammten Anbetung, und dann, in einer mondbeschienenen Nacht, hatte sie seinem Werben nachgegeben. Sie hatte ihn mit in ihr Zimmer genommen und sich ihm hingegeben, und ihm war gewesen, als verstünde er zum ersten Mal, was Liebe war. Er ging auf in ihrer Leidenschaft, verlor sich darin.
Verlor sich und war verloren, denn als er um ihre Hand anhielt, lachte sie. Sie wies ihn ab. Sie brauche ihn nicht. Sie hätten eine Affäre gehabt, nicht mehr. Er solle sich nicht lächerlich machen und sie wolle ja seine Gefühle nicht verletzen, aber er müsse doch begreifen, daß das ganz und gar unmöglich sei.
Das Schmerzhafteste daran war, daß ihre Argumente dieselben waren, die er selbst schon manchem verliebten Mädchen gesagt hatte, das sich ihm in die Arme geworfen hatte. Seine Wut war somit doppelt bitter.
Er versuchte, nicht daran zu denken. Sinnlos, länger über derlei nachzugrübeln. Es war einfach Pech, daß ihm die Frau immer wieder über den Weg lief. Er würde sich daran gewöhnen. Sie war nur eine Sängerin. Rangmäßig stand sie unter ihm, wenn man es kühl betrachtete. Hätte er sie geheiratet, seine Familie wäre entsetzt gewesen.
Also war es gut, daß er sie nicht geheiratet hatte. Sein Vater hätte ihn womöglich enterbt, wenn Udolf als der älteste Sohn ihm eine Schwiegertochter von der Bühne angeschleppt hätte. Jedenfalls wäre es schwierig geworden. Es war besser, wie es war. Cérise konnte nicht einem allein gehören. Sie war zu schön, zu berühmt, überall liebten und bewunderten Menschen sie. Viele Menschen. Viele Männer.
Aber was hatte sie in Delacroix’ Zimmer zu suchen gehabt? Sie hatte kein Recht, dort zu sein. Delacroix war ein Kampfgefährte, ein Kamerad. Er sollte keinen Besuch von ihr haben.
Es hatte nicht einmal entfernt nach einem Tête-à-tête ausgesehen. Die Leiche zwischen ihnen hatte gestört.
Sie hatte ihm das Leben gerettet. Das hatte Delacroix gesagt, bevor die Polizei kam und nachdem Cérise gegangen war. Er wäre ohne sie jetzt tot.
Udolf hatte dazu nur genickt. Er wollte es nicht wissen. Jemandem das Leben zu retten war etwas so Persönliches, daß es schon fast intim war. Es schuf eine Verbindung, ein lebenslanges Band.
Udolf war froh, daß Delacroix überlebt hatte. Er wäre noch froher gewesen, wenn er ihn gerettet hätte.
Verfluchte Frauenzimmer. Er stürzte den Rest Cognac hinunter und erhob sich. Es war an der Zeit, Delacroix die Informationen der Gendarmerie weiterzugeben. Ihm und Asko, dessen Talent für logische Folgerungen so gut war und der es liebte, Rätsel zu lösen.
Er selbst wußte nichts damit anzufangen. Eine Bande von Schmugglern, die länderübergreifend operierte – was konnte das mit dem Manuskript und dem Monster zu tun haben? Welches Interesse konnten sie daran haben, die Welt zu zerstören, und warum hatten sie einen Mörder zu Delacroix geschickt? Hatte es überhaupt mit dem Fall zu tun? Oder hatte Delacroix vielleicht alte Feinde aus früheren Fällen, die ihm nun folgten, um ihn zu liquidieren?
Sie wußten viel zu wenig. Sie standen vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Udolf war kein Feigling, doch die Erkenntnis, daß das Schicksal der Welt von ihrem Tun abhing, war zuviel für ihn. Er mochte Feinde, die man sehen konnte, Männer mit scharfen Waffen, die einem im offenen Kampf gegenübertraten. Jemanden, den man Auge um Auge, Zahn um Zahn bekämpfen konnte. Mann gegen Mann oder auch gegen mehrere Männer, wenn es sein mußte. Davor fürchtete er sich nicht. Er hatte keine Angst vor dem Tod auf dem Feld der Ehre. Er hatte keine Furcht, für König und Vaterland zu sterben.
Doch dies hier beunruhigte ihn auf beinahe erniedrigende Weise. Er sah vor seinem geistigen Auge wieder Miss Jarrencourt, wie sie starr vor Angst auf dem Boden gekauert hatte, während das Wesen sie eingehüllt und – sollte Delacroix recht haben – zu schänden versucht hatte.
Er richtete sich zu voller Größe auf. Er war ein Chevauleger. Furcht? Man warf das Herz über die Hürde und sprang hinterher. Egal wohin, Pflicht war Pflicht. Selbst die Kleine hatte bei der Suche nach dem ekligen Ding ihre Pflicht nicht gescheut, und sie mußte weitaus mehr Angst haben als sie alle zusammen. Tapfer. Asko hatte manchmal doch Geschmack.
Natürlich konnte man nicht wissen, ob sie nicht doch noch ihre Meinung ändern und fliehen würde, und der Anstandsdrache hatte sicher eine eigene Meinung zu der Angelegenheit. Trotzdem, die Kleine schien mehr eigenen Willen zu besitzen, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Ihre Fassung war respekteinflößend.
Er drückte seinen Zigarillo aus und machte sich daran, die Stufen zum dritten Stock zu ersteigen. Verfluchter Spuk. Verfluchter Zauberkram, und verfluchte Cérise.