Kapitel 42
„Unser Meister des Arkanen hat uns informiert, daß wir in den Keller müssen“, erklärte Asko und lächelte Corrisande aufmunternd zu. Sie mochte sein Lächeln. Es war sanft und freundlich.
„Gehen wir“, befahl Delacroix und wandte sich der Haupttreppe zu. Die beiden Offiziere folgten ihm.
Corrisande blieb stehen, wo sie war.
„Augenblick, bitte“, sagte sie und hielt sie mit einer kleinen Handbewegung an. „Sie mögen meine Skrupel unter den gegebenen Umständen für müßig erachten, doch ich bitte Sie zu verstehen, daß ich mir nicht erlauben kann, gesehen zu werden, wie ich allein mit gleich drei Herren vom Militär durchs Hotel zu irgendwelchen Abenteuern aufbreche. Ohne den Schutz meiner Tante. Man fände ein solches Benehmen höchst fragwürdig.“
Delacroix’ Gesicht verzog sich genervt. Offensichtlich sah er das Problem nicht.
Asko hingegen schon. Er nickte, aber war nicht schnell genug, das, was er sagen wollte, auch von sich zu geben. Delacroix war mit einem einzigen Schritt wieder bei ihr. Er begann, ruhig auf sie einzusprechen und versuchte, seine Ungeduld nicht zu zeigen.
„Miss Jarrencourt, nachdem Ihre Tante so ausnehmend rasch und plötzlich in Morpheus’ Arme gesunken ist, werden wir wohl ohne ihren moralischen Beistand auskommen müssen. Ihre Bedenken sind artig und keusch, doch in dieser Situation hinderlich.“ Er lächelte leicht amüsiert. „Irgendwann müssen Sie mir erzählen, wie Sie Ihre Verwandte davon überzeugen konnten, so ungemein müde zu werden – in so kurzer Zeit. Aber da sie nun zu ruhen geruht, fürchte ich, Sie müssen mit unserem Schutz vorliebnehmen.“
Corrisande blickte ihn erzürnt an.
„Bitte, Sir“, gab sie zurück, „das ist nicht komisch. Die Situation – wie Sie sie nennen – ist schlimm genug, und ich weiß nur allzugut, wie schlecht meine Chancen stehen. Ich weiß es besser, als Sie glauben. Doch wenn ich das hier überlebe, will ich ungern aufgrund eines vermeintlichen Fehltritts, den eine kritisch-rügende Gesellschaft mir aus einem Mißverständnis heraus anlastet, meinen Ruf verlieren.“
„Selbstverständlich“, sagte von Orven. „Wir müssen unbedingt ...“
Delacroix unterbrach ihn: „Das Problem läßt sich ganz einfach beheben, Miss Jarrencourt. Die Herren Leutnants von Orven und von Görenczy werden jetzt die Haupttreppe nehmen, und wir beide schleichen uns unauffällig und leise die Hintertreppe hinunter. Jetzt, ohne weitere Verzögerung.“
Er ging achtlos an Askos wütendem Blick vorbei und führte Corrisande zur Tür zum Gesindetrakt.
„Sir!“ rief Asko entrüstet.
„Wir sehen uns unten, meine Herren“, sagte Delacroix und hielt der jungen Dame die Tür auf. Er sah sich nicht um. Erbost oder nicht, sie würden tun, was er sagte.
Die Treppe war leer. Zu dieser Stunde waren Köche und Kellner mit den Obliegenheiten des Abendessens beschäftigt, und die Hausmädchen mochten sich bereits zurückgezogen haben, denn sie mußten morgens noch lange vor Sonnenaufgang schon wieder fleißig sein.
Nebeneinander stiegen der Hüne und das zierliche Mädchen Stufe um Stufe die Treppen hinab. Delacroix suchte nach etwas Aufmunterndem, das er sagen konnte, doch sein Gehirn war sonderbar leer. Von Zeit zu Zeit spürte er den Blick der großen, blauen Augen, die ihn abwägend ansahen. Corrisande reichte ihm nicht einmal bis zur Schulter und mußte ihren Kopf seitlich nach oben drehen, um ihn anzusehen. Eigentlich machte das keinen Unterschied, aber es ließ sie noch fragiler wirken.
Auf dem zweiten Zwischenstock hielt sie an, wandte sich ihm zu und blockierte so sein Weiterkommen.
„Colonel“, sagte sie ungewöhnlich angespannt. „Wir haben noch ein wenig Zeit. Fragen Sie nicht, woher ich das weiß, das ist unwichtig. Ich weiß es einfach. Hören Sie mir zu.“ Sie lief rot an, biß sich auf die Unterlippe und sah mit einem Mal sehr jung und verschämt aus. Er sah in ihr gepeinigtes Gesicht und stellte völlig überflüssig fest, daß er ihr Parfum riechen konnte. Wildblumen. Ein seltsames Benehmen, fand er, sich hübsch zu kleiden, Parfum aufzulegen – für eine solche Gelegenheit. Sogar ihr Haar war kunstvoll arrangiert.
„Colonel Delacroix“, fing sie wieder an, und er merkte, daß sie Schwierigkeiten hatte, das auszudrücken, was sie sagen wollte.
„Was ist denn ...?“ fragte er leise und schluckte eben noch die Anrede ,Kind‘ hinunter. Sie wirkte so unbeschreiblich jung.
„Sie wissen, was es versucht hat, mir anzutun“, sagte sie und wich seinem Blick dabei aus. „Bitte. Wir wollen nicht darüber reden“, fügte sie rasch hinzu, und eine noch glühendere Röte ergoß sich über ihren Teint. „Sie wissen es, und ich weiß es. Ich habe eine Erkenntnis übrigbehalten, eine böse Ahnung. Ich weiß, daß es – das – erneut versuchen wird. Es wird auch nochmals versuchen, mich in Stein zu verwandeln ...“ Sie hämmerte ihre Worte eines nach dem anderen heraus, als müsse sie sie durch eine Wand schlagen. „... so kann es mich mitnehmen. Wo immer es mich haben will. Um mich dort zu ... behalten. Um mich zu ... Sie haben mir versprochen, daß Sie das nicht zulassen würden ...“
Ihr blieben die Worte weg.
„Ich habe es Ihnen versprochen“, sagte er, „und ich werde es nicht zulassen.“ Ein Meineid oder nur eine Lüge? Wie lange war es her, daß er ihre Prioritäten definiert hatte? Sie brauchten das Manuskript, auch wenn es Verluste gab.
Corrisande nickte.
„Ich zweifle nicht an Ihrer Tapferkeit oder Ihrer Unerschrockenheit“, sagte sie und biß sich ganz undamenhaft auf die Lippen. „Das müssen Sie mir glauben. Aber aus meiner letzten Begegnung weiß ich, daß Sie und Ihre Begleiter vielleicht nichts gegen die Kreatur ausrichten können.“
Er versuchte, sie mit einem Lächeln und einer tröstenden Geste zu beruhigen, doch sie unterbrach ihn und fing sein Handgelenk mit ihrer kleinen Hand. Sie hielt es mit einiger Kraft fest, ein offenes, direktes Manöver, das ihn überraschte.
„Bitte!“ sagte sie, und er sah, daß sie eisern bemüht war, ruhig und gefaßt zu wirken. „Erlauben Sie ihm nicht, mich mitzunehmen. Bitte! Das dürfen Sie nicht zulassen. Wenn es das versucht, dann dürfen Sie mich ihm nicht überlassen. Nicht lebend. Es darf mich nicht lebend bekommen. Verstehen Sie?“
Jetzt sah sie ihm direkt in die Augen.
Delacroix verstand. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Niemand hatte ihn je um einen so grauenhaften Gefallen gebeten. Es gab ein Schicksal, das schlimmer war als der Tod, und sie hatte ihn gebeten, sie davor zu bewahren. Wahrscheinlich war das sogar eine Art Ehre, ein grotesker Vertrauensbeweis. Er schluckte.
Ihre zarte Hand war immer noch um sein Handgelenk gekrampft, viel zu klein, um es zu umfassen, und sie sah ihn immer noch an mit diesen unglaublich großen, blauen Augen, die aussahen wie das Meer. Ihm wurde plötzlich klar, daß man ihn nie um etwas Schwierigeres gebeten hatte. Er verabscheute seine Rolle in diesem makabren Stück. Der Mann mit dem Dolch am Opferstein war diesmal er. Es war ihm, als habe er eben erst verstanden, wieviel Angst sie haben mußte. Er hatte nicht darüber nachgedacht, hatte sich nur damit beschäftigt, ans Ziel zu kommen. Jetzt führte er sie wie ein Lamm zur Schlachtbank. Das Jungfernopfer. Asko hatte recht gehabt. Sie hatten dazu kein Recht.
Er war Offizier, und er war im Krieg gewesen. Er hatte getötet, in der Schlacht, in Notwehr und wenn es gar nicht anders ging, auch kaltblütig direkt. Doch dies ging ihm gegen die Moral. Es war noch keine Stunde her, da hatte er ruhig über mögliche Verluste gesprochen. Damit, selbst der Scharfrichter sein zu müssen, hatte er nicht gerechnet.
„Verstehen Sie?“ fragte sie noch einmal und rang sichtlich um Fassung.
Er befreite sein Handgelenk und nahm ihre Hand. Sie verschwand vollständig in der seinen.
„Ich verstehe“, antwortete er schroff und drückte ihre Hand aufmunternd. „Versuchen Sie, keine Angst zu haben. Ich ... wir werden Sie beschützen.“
„Aber Colonel“, rief sie lauter und noch aufgeregter als zuvor, „haben Sie verstanden ... werden Sie ...“
Er unterbrach ihren Ansturm, indem er einen Finger auf ihren Mund legte. Sie schwieg, und er streichelte ihre Lippen, dann ihr Gesicht und dann wieder ihre Lippen, wo sein Daumen verweilte. Ihre Haut war zart und weich.
„Wenn es zum Ärgsten kommen sollte, Corrisande, dann können Sie sich auf mich verlassen“, versprach er und vergaß, daß sie ihm das Recht verwehrt hatte, sie beim Vornamen zu nennen. Ihre unfaßbare Bitte hatte sie einander nähergebracht. „Ich werde tun, was getan werden muß. Ich verspreche, es wird schnell gehen.“ Seine Hand lag an ihrer Wange, sein Daumen zwischen ihren Lippen. Er nahm sie fort. „Doch es wird nicht nötig sein“, versicherte er und hoffte, überzeugend zu klingen.
„Danke, Sir“, erwiderte sie höflich, als habe er sie gerade zum Tanz aufgefordert. Dann drehte sie sich schnell von ihm fort, und er erkannte an ihrer Bewegung, daß sie sich Tränen aus den Augen wischte. Hilflos stand er da, hätte sie gerne in die Arme genommen und aufgerichtet. Doch das war unmöglich. Schließlich brachte er sie in diese Gefahr. Er hatte entschieden, sie zum Spürhund dieser Hatz und zugleich zum Köder zu machen. Es gab keine andere Möglichkeit. Die Welt war wichtiger als Corrisande Jarrencourt. Auch wenn er sich in diesem Moment nicht vorstellen konnte, was genau auf der Welt wichtiger sein konnte als sie. Kein einziges Beispiel fiel ihm ein. Diese Einsicht durchfuhr ihn wie ein Schlag.
Als sie sich wieder umwandte, war keine Spur von Tränen auf ihrem Gesicht zu sehen. Sie lächelte nicht, doch sie wirkte gefaßt.
Er bot ihr höflich den Arm, und sie nahm ihn.
„Kommen Sie“, sagte er, und sie nickte nur. Sie gingen weiter.
Eine halbe Treppe höher stand Cérise und sah zu. Den Inhalt der Unterhaltung hatte sie nicht hören können, doch sie hatte Delacroix’ Gesicht gesehen. Der harte Kämpe und das Mädchen.
Fast machte es sie wütend. Wenn der sture Holzkopf sich schon noch einmal verlieben mußte, dann hätte es jemand ganz Besonderes sein sollen, eine verlockende, außergewöhnlich schöne Frau. Die Kleine war keine ebenbürtige Rivalin. Nun, eigentlich war sie überhaupt keine Rivalin. Schließlich wollte Cérise Delacroix keinesfalls zurück. Er war nicht mehr ihr Delacroix. Trotzdem, irgendwie ärgerte sie das Ganze genauso, wie es sie faszinierte.
Sie fragte sich, ob die Szene, deren Zeugin sie geworden war, ein Disput unter Liebenden gewesen war. Oder eher nicht? Irgend etwas war seltsam daran. Sehr seltsam. Sie würde es herausfinden. Sie folgte dem Paar. Diesmal würde sie das Auftauchen des Schattenwesens nicht verpassen. Schließlich hatte seine Majestät sie persönlich um Hilfe gebeten. Also würde sie dabeisein, auch wenn die Gruppe versäumt hatte, ihr Bescheid zu geben.
Es geschah nie, daß Delacroix nicht merkte, wenn er verfolgt wurde. Er mußte mit den Gedanken weit weg sein, wenn sie ihm einfach nachschleichen konnte, ohne daß er sie bemerkte. Er wurde nachlässig. Das sollte er besser nicht. Sie würde ihm das sagen müssen. Eindringlich. Einen Anschlag auf sein Leben hatte es bereits gegeben. Er konnte sich nicht darauf verlassen, daß sie immer dasein würde, um ihn zu retten, wenn ihm gerade jemand an den Kragen wollte. So wie er lebte, wäre das weiß Gott eine Vierundzwanzig-Stunden-Aufgabe gewesen.
Sie bemerkte den Mann nicht, der ihr folgte. Ein Stockwerk höher schlich er geräuschlos von Schatten zu Schatten. Sie hörte ihn nicht und spürte seine Gegenwart nicht. Sie war so beschäftigt mit der Analyse dessen, was sie beobachtet hatte, daß es ihr nicht in den Sinn kam, sich umzudrehen.
Sie merkte auch nicht, daß der Anhänger, den sie unter dem Kleid auf der Haut trug, wärmer wurde. Vielleicht irritierte es sie ein wenig, doch nicht genug, um ihr bewußt aufzufallen.
Eine unmögliche Verbindung, dachte sie wieder. Eine absolute mésalliance für beide. Irgend etwas störte sie an dem Mädchen. Der Puppencharme kam geradewegs aus dem Regelbuch für untadeliges Benehmen. Ein Klischee hatte sie die Kleine genannt, und Asko war wütend ob ihrer Einschätzung gewesen. Überhaupt, was war mit ihm? Er hatte deutlich den Eindruck hinterlassen, als wäre er hinter der zierlichen Miss her. Es war klar, warum sie ihm gefiel. Er war ein solcher Etepetete-Pedant, wenn es um Zucht und Anstand ging. Ihr wohlerzogenes Getue war vermutlich genau das, was er in einer Frau suchte.
Delacroix war anders. Seine Erziehung und seine militärische Karriere hatten es nicht geschafft, ihn zum perfekten Gentleman werden zu lassen, obgleich er die Regeln sehr wohl kannte. Nur hielt er sich selten daran. Sie wußte, er hatte durch seinen Stiefvater einen begüterten, wohlanständigen Familienhintergrund. Dennoch paßte er sich nicht an, obwohl er es konnte, wenn er wollte oder einen tieferen Zweck darin sah. Dann spielte er den Offizier und Gentleman, und das gut. Doch das Leben betrachtete er von einem anderen Standpunkt aus als die meisten. Deshalb reagierte er oft anders, als man es erwartete, und genau das war auch eine seiner aufregendsten Eigenschaften. Er unterwarf sein Leben keinen Konventionen. Es war eher, als sähe er dem täglichen Leben von außen zu wie ein gut orientierter Gast.
Was also sah er in diesem honigsüßen Jungfräulein? Das Mädchen war viel zu jung für ihn, dachte Cérise, und außerdem viel zu klein und zu dürr, und sie machte auch nicht den Eindruck, als könnte sie mit einem so ungemein leidenschaftlichen Mann wie Delacroix mithalten.
Doch das konnte man letztlich nie wissen. Cérise Denglot lächelte zynisch.