Kapitel 92

Von Görenczys Pferd rutschte immer wieder auf dem nassen, schneebedeckten Kopfsteinpflaster. Es war nervös und launisch und nicht an einen Reiter gewöhnt, der um einiges schwerer war als der Chevauleger, den es normalerweise trug. Und es hatte auch keine Lust, bei Wind und Wetter und Schneesturm aus dem Stall geholt zu werden.

Delacroix war ein guter Reiter. Er gehörte selbst einem Kavallerieregiment an, also konnte er kein schlechter Reiter sein. Doch die Umstände waren schwierig. Seine eigene nervöse Ungeduld und die dringende Notwendigkeit, sich zu beeilen, setzte sich in der Laune der geborgten Stute fort, und es bedurfte des Einsatzes seiner ganzen Geschicklichkeit, um das unwillige, scheuende Tier im Griff zu halten.

Er wäre lieber schneller vorangekommen, doch Leutnant von Orven ritt voran, und er war ein umsichtiger Mann. Er hatte durchaus recht. Es war dunkel und rutschig, und nichts wäre gewonnen, wenn sie stürzten oder sich verletzten, oder auch nur die Pferde verletzten. Trotzdem zerrte das langsame Vorankommen an den Nerven des Briten. Er sagte nichts dazu, hielt nur sein Pferd mit einer Art wohltrainierter Brutalität unter Kontrolle, die er normalerweise nicht auf Tiere anwendete. Er war ein eleganter und eher sanfter Reiter, trotz seiner Dimensionen und seiner ungeheueren Körperkraft.

Sie waren unterwegs. Endlich waren sie unterwegs. Es schien Äonen gedauert zu haben. Scheinbar stundenlange Diskussionen, was getan werden mußte oder nicht, waren vorausgegangen. Er versuchte zu verdrängen, daß er soeben seine Pflicht verriet. Er hatte den Raum verlassen, in dem es seine Aufgabe gewesen wäre, das Manuskript zu bewachen. Es war eine Pflichtverletzung der schlimmsten Art, denn er hatte die vielleicht größte Bedrohung, der die Menschheit je ausgesetzt war, einer Gruppe zur Bewachung überlassen, die aus einem erschöpften Magier bestand sowie aus einem verletzten Chevauleger, der nur seinen linken Arm gut einsetzen konnte, einer Opernsängerin, die sich ständig überschätzte, und einem Vampir.

Einem gottverdammten Vampir.

Doch er hatte nur diese eine Wahl, es so zu machen oder selbst zu bleiben und an das Mädchen zu denken, wie es langsam und qualvoll zu Tode gefoltert wurde. An Corrisande Jarrencourt zu denken und sich dabei vorzustellen, was sie ihr antun würden. Er brauchte nicht einmal eine besonders intensive Vorstellungskraft dafür, er wußte es zu genau, und sein Magen krampfte sich bei dem Gedanken zusammen.

Er hatte nicht bleiben können. Er hätte den Gedanken nicht ertragen, nur dazusitzen und auf den Morgen zu warten, immer wissend, daß er sie vielleicht hätte retten können, wenn er es nur versucht hätte.

Seltsamerweise hatte seine Entscheidung keiner Erklärung bedurft. Jeder verstand sie. Cérise hatte sie verstanden. Und die beiden Leutnants hatten sie auch verstanden. Und selbst der Vampir hatte verstanden und ihm ein Lächeln geschenkt, das so voll von warmherzigem Mitgefühl war, daß Delacroix sich zusammennehmen mußte, dem Mann nicht ins Gesicht zu schlagen.

Er hatte es nicht getan. Vielmehr hatte er gehofft, daß der Sí ihn auf diesem Ritt begleiten würde. Er konnte im Dunkeln viel besser sehen, und seine unglaubliche Körperkraft wäre hilfreich gewesen. Doch freilich das war nicht möglich. Wenn es eine Person gab, die ihn nicht auf seinem Weg ins Refugium begleiten konnte, dann war es der Feyon. Diese Gebäude waren gegen Sí-Attacken bestens gesichert. Wahrscheinlich waren sie bis unters Dach mit Kalteisen vernagelt.

Also wollte er allein reiten, aber Leutnant Asko von Orven hatte sich freiwillig gemeldet, ihn zu unterstützen. „Sie müssen das nicht tun“, hatte er dem jungen Mann gesagt. Der hatte darauf bestanden. Er hatte dem Mädchen versprochen, es zu beschützen, und er war vielleicht sogar schuld, daß man die junge Dame ergriffen hatte. Sie hatte ihn von seinen Versprechen entbunden, aber seine Ehre forderte, daß er half.

Der junge Mann war ein lebendiges Abbild schuldbewußter Verwirrung. Delacroix konnte es fühlen. Der Gedanke, ein Kloster angreifen zu müssen, behagte ihm nicht. Es ging ihm gegen den Strich, seine eigene Kirche zu bekämpfen. Er mochte die Pflicht, die er sich selbst auferlegt hatte, keineswegs. Doch er konnte sich auch nicht mit der Vorstellung abfinden, daß jemand das Mädchen, das ihm so gut gefallen hatte, langsam ermordete. Und wie groß seine Abneigung gegen die Fey auch sein mochte, so schien er doch verstanden zu haben, daß er etwas Wertvolles verloren hatte. Er war vielleicht ein Tor. Aber er war ein geradliniger, pflichtbewußter Tor.

Von Orven hatte ein wenig gebraucht, um zu begreifen, daß er nicht der einzige Bewunderer der jungen Frau war. Zuerst hatte ihn das irritiert, dann wirkte er beinahe erleichtert. Mit keinem Wort hatte er es kommentiert. Er hatte die Situation mit einer Art Interesse akzeptiert, mit dem man einer neuen wissenschaftlichen Theorie begegnete. Interessant, noch nicht bewiesen, aber vielleicht nicht von der Hand zu weisen.

Als sie losgeritten waren, hatte es heftig geschneit, doch inzwischen hatte das Schneegestöber nachgelassen. Ein eisiger, stürmischer Wind blies die Wolken über den Himmel, und die Wolkendecke brach auf. Ein kalter Halbmond war manchmal zwischen den Wolkenfetzen sichtbar und manchmal auch vereinzelte Sterne. Delacroix war dankbar für seinen wollenen Mantel. Das dicke Material schützte ihn vor der größten Kälte.

Die Bruderschaft hatte Corrisande in nichts als einem nassen, zerrissenen Kleid gefangengenommen. Sie mußte am Erfrieren sein. Wenn sie noch lebte. Vielleicht hatten witterungsbedingte Umstände ja längst aufgehört, eine Rolle in ihrem Dasein zu spielen. Vielleicht hatten sie angefangen, ihr weh zu tun, sie zu quälen und zu verstümmeln.

Sein Pferd tänzelte nervös, ging in den Galopp. Er verschaffte sich sofort wieder Kontrolle. Er mußte aufhören, solche Dinge zu denken. Es war sinnlos, darüber nachzugrübeln. Er mußte daran glauben, daß sie ihr noch nichts getan hatten. Sie wollten sie austauschen. Dafür mußte sie wenigstens halbwegs bei Gesundheit sein, sonst konnte ein Austausch nicht stattfinden.

Doch das setzte voraus, daß sie wirklich an einem Austausch interessiert waren. Vielleicht war das Manöver jedoch nichts als ein Trick, ihn von dem Manuskript fortzulocken. Sie hatten alle gewußt, daß das sehr gut möglich war. Der Akolyth, den sie gefangen hatten, – den der Vampir gefangen hatte, korrigierte sich Delacroix – hatte ihnen die Wahrheit gesagt. „Er konnte mich nicht anlügen“, hatte Graf Arpad versichert. „Er könnte mich nicht einmal anlügen, wenn sein Leben davon abhinge.“ Und das hatte es schließlich getan, oder nicht?

Also hatte der Mann die Wahrheit gesagt. Und er hatte sogar überlebt, was er vermutlich Cérises angeekelter Reaktion zu verdanken hatte. Jedenfalls nicht Graf Arpads Sinn für Gnade. Er hatte den Mann am Leben gelassen, schwach und anämisch, und mit einem Gedächtnis, das so weit gelöscht war, daß es nur noch Dinge aus seiner frühesten Jugend beinhaltete. Delacroix war sich nicht sicher, ob diese Gnade wirklich eine war. Doch das war nun einerlei. Er hatte ihnen die Informationen gegeben, die sie brauchten.

Es war allerdings durchaus denkbar, daß er die tatsächliche Wahrheit selbst gar nicht wußte. Er war vielleicht nur ein Bauer auf Pater Emanueles persönlichem Schachbrett. Der Priester würde wenig Hemmungen haben, einen nutzlosen Akolythen einem wirklich guten Zweck zu opfern. Immerhin würde der Bruder für eine höhere Sache sterben. Es lag in der Tat sehr nahe, daß der Pater genau so vorgegangen war. Damit hätte er die Kampfstärke seiner Feinde in zwei Hälften geteilt, eine davon in die Irre geschickt, oder sogar in eine Falle, während er den „Rest“ nun einfach im Hotel angreifen konnte. Divide et impera, es würde dem Pater ähnlich sehen.

Sie hatten alle verstanden, daß es so sein mochte, gewußt, in welcher Gefahr sie waren. „Machen Sie sich keine Sorgen“, hatte Graf Arpad gesagt, „ich passe auf alle auf.“ Er hatte wieder eines seiner charmanten Lächeln in die Runde gesandt, und vor Delacroix’ geistigem Auge war im Gegenzug das Bild aufgetaucht, wie der Vampir dem Klosterbruder die langen Zähne aus dem Hals gezogen hatte, um ihn dann wie ein Stück tote Beute einfach fallenzulassen. Er sah noch, wie der Feyon sich zu ihm umgedreht hatte, die Lippen blutverschmiert, die Reißzähne lang und scharf. Er hatte keinesfalls wie ein Mensch gewirkt und schon gar nicht charmant.

Irgendwann würde es Delacroix vielleicht noch leid tun, daß er ihn nicht vernichtet hatte, als er die Möglichkeit dazu gehabt hatte. Eine zweite Möglichkeit würde er nie erhalten. Doch er hatte sich dem Mann unterworfen, weil er nicht wußte, was er sonst hätte tun können. Und eine Weile, während der schmalgliedrige Sí seinen Hals streichelte, als melde er ein Besitzrecht an für alle Zukunft, hatte er geglaubt, er würde ihn nun aussaugen. Doch das war nicht seine Absicht gewesen. Er hatte sich nur eine kleine Rache erlaubt dafür, daß Delacroix ihn mit Kalteisen gebannt hatte. Ein Machtspielchen von der Art, wie auch er selbst es hätte spielen können. Er hatte eine Rangordnung aufgestellt, und Dela-croix hatte seine niedrigere Position zähneknirschend akzeptiert. Leicht war ihm das nicht gefallen.

Dennoch verstand er die Kreatur ganz gut. Sie waren beide Jäger, auf unterschiedliche Art. Ihre rücksichtslose Kämpfernatur war nur von einer dünnen Lackschicht Zivilisation überdeckt. Sie waren das, was sie sein mußten. Und er hatte sein Wort gegeben, den Vampir nicht zu verraten. Er würde sein Wort halten, auch wenn es ihm mehr als nur schwerfiel. Und auch wenn er glaubte, daß Cérise doch eine weitaus einfältigere Frau war als er angenommen hatte.

Doch die Hilfsbereitschaft und die Nützlichkeit des Mannes konnte er nicht leugnen. Er hatte ihnen sein Wissen mitgeteilt, hatte an ihrer Seite gefochten, war dabei verwundet worden, hatte herausgefunden, was wirklich geschehen war. Vielleicht machte es keinen Unterschied, wie.

Er hatte ihm auch gesagt, was Corrisande war, eine menschliche Frau mit einem Fünkchen Nereidenblut. Sie hatte keine besonderen Fähigkeiten, die sie vor der Bruderschaft schützen würden, doch ihr Durchhaltevermögen war stark. Ihr Stehvermögen übertraf das einer rein menschlichen Frau. Die junge Dame war zäh. Vielleicht würde ihr das helfen.

Vielleicht aber auch nicht, dachte Delacroix. Vielleicht würde es nur ihr Leiden verlängern.

„Wir sind fast da“, raunte Leutnant von Orven, und ritt langsamer. „Den Rest des Wegs sollten wir zu Fuß zurücklegen. Da fallen wir weniger auf.“

Sie stiegen ab und banden die Zügel ihrer Pferde an einen Eisenring, der sich an einer Hauswand befand. Sie waren bewaffnet, trugen Pistolen, und Delacroix hatte einige Messer in seiner Kleidung verborgen. Kein Kalteisen. Nur einfache, tödliche Klingen. Von Orven steckte eine geschlossene Blendlaterne an, die ihr Licht nur in eine Richtung abgab, und das nur, wenn man die Klappe wegdrückte.

„Die Kirche ist um die Ecke. Das Haus, das Graf Arpad beschrieben hat, muß gegenüber davon sein.

Sie näherten sich im Schutz der Dunkelheit, bis sie ein verschlossenes Metalltor in einer Mauer fanden, die ein hohes, schmales Gebäude einschloß. Tatsächlich sah es aus, als gehörte es zum Kloster, das sich in der Nähe der Kirche befand. Die Mauer war höher als man von einem normalen Haus erwarten mochte, glatt und steil, ohne irgendwelche Verzierungen, die man zum Klettern verwenden konnte. Eine Reihe scharfer Spitzen lief oben auf der Mauer entlang, kaum erkennbar in der Dunkelheit. Vermutlich waren sie aus Kalteisen, dachte Delacroix. Sie waren dazu da, Sí drinnen oder draußen zu halten, je nach Bedarf. Doch mit menschlichen Eindringlingen hatten die Erbauer des Refugiums weniger gerechnet.

„Leuchten Sie mir mal“, sagte er und bückte sich hinunter zum Schloß. Er nahm ein Bund Dietriche aus der Tasche und ging im mickrigen Schein der Laterne zu Werk. Das Schloß ließ sich nicht sehr einfach knacken. Es war ein gutes Schloß, sicher und von bester handwerklicher Qualität. Delacroix brauchte einige Zeit, um es zu öffnen, während er vor Ungeduld am liebsten gebrüllt hätte.

Doch dann gab es ein leises Klicken, und das Werkzeug drehte sich im Schloß.

Von Orven wollte sofort die Tür öffnen, doch Delacroix hielt ihn zurück.

„Warten Sie“, flüsterte er. „Das war zu einfach.“

Die beiden Offiziere traten ein wenig von der Tür zurück, und Delacroix drückte mit seinem Pistolenlauf vorsichtig die Klinke herunter. Die Tür bewegte sich nicht.

„Zusätzlich von innen verriegelt, verdammt. Die Tür geht nach innen auf, sonst würde ich die Pferde holen, um sie aufzuziehen.“

„Wir könnten uns dagegen werfen. Vielleicht bekommen wir sie so auf“, schlug der Leutnant wenig überzeugt vor.

„Sie ist aus Eisen. Wir würden uns nur die Schultern daran brechen. Nein. Wir müssen es wohl aufgeben, leise und unbemerkt hineinzukommen. Ich werde versuchen, die Scharniere fortzuschießen. Das ist wahrscheinlich wirkungsvoller als auf einen Riegel zu schießen, den wir nicht sehen. Treten Sie zurück!“

„Das war’s dann mit unserem Überraschungsangriff“, murmelte von Orven unglücklich.

„Es kann gut sein, daß sie mich ohnehin schon erwarten. Unser einziges Überraschungsmoment sind Sie. Ich möchte, daß Sie von mir wegbleiben. Wenn ich falle, bitte versuchen Sie, sie zu holen. Werden Sie das tun?“

„Selbstverständlich.“

„Dann gehen Sie jetzt in Deckung. Das hier könnte Querschläger geben.“

Der Leutnant trat zurück und verschmolz mit den Schatten. Delacroix setzte den Lauf seiner Pistole gegen die Stelle, wo er das obere Scharnier auf der anderen Seite vermutete. Dann feuerte er.

Der Schuß gellte durch die Nacht, hallte zwischen Kirche und anliegenden Gebäuden wider, war unüberhörbar und mußte wohl jeden Schläfer in mindestens einer Meile Umkreis geweckt haben.

Die Tür hing nun an dem unteren Scharnier und dem Riegel. Der obere Teil war nach innen gebogen. Der Colonel trat wütend danach, wobei sie sich noch ein bißchen mehr verbog. Doch sie war immer noch zu stabil und zu gut konstruiert und einfach zu sehr im Weg.

Der Engländer schoß noch ein zweites Mal, dankbar dafür, daß er eine zweischüssige Pistole hatte. Fortschritt war eine gute Sache. Das untere Scharnier brach nun ebenfalls.

In einigen Fenstern der umliegenden Gebäude konnten sie nun Kerzenlicht sehen. Die Menschen waren aufgewacht und versuchten vorsichtig herauszufinden, was in dieser frommen Umgebung vor sich ging. Den Männern ging die Zeit aus.

Er lud seine Waffe mit fliegenden Händen. Er konnte es im Dunkeln, hatte oft genug Gelegenheit gehabt, eben diese Fähigkeit zu üben. Er trat heftig gegen die Tür. Diesmal war ein lautes Knacken zu hören, und er kletterte durch die Öffnung.

Er sprang mit einem Satz in den Hof wie ein Löwe, doch es war niemand zu sehen, der ihn aufhalten wollte. Das war eigentümlich – und ziemlich unerwartet. Er blickte zurück zur Tür und sah, daß ein kleines Fäßchen am Innenriegel, den er aus der Verankerung gerissen hatte, befestigt war. Schwarzpulver. Wenn er auf den Riegel geschossen hätte, hätte er sich und den Bayern direkt in den Himmel katapultiert. Nun, zumindest sich. Der Bayer hatte sich ja kurz zuvor zurückgezogen.

Inzwischen mußten die Männer im Haus festgestellt haben, daß sie angegriffen wurden und daß ihre kleine Bombe nicht funktioniert hatte. Trotzdem. Eine nette Idee, dachte Delacroix. Es sah dem Pater ähnlich, Feinde sich selbst in die Luft sprengen zu lassen. Effektiv und sparsam.

Von Orven glitt jetzt auch in den Hof, doch blieb weit hinter dem Colonel im Schatten. Er war die Nachhut. Und wenn man seine Existenz nicht wahrnahm, konnte das nur von Nutzen sein.

Delacroix hörte nun Schimpfen und Geschrei aus dem Haus. Italienisch. Er trat vorsichtig auf den Haupteingang zu und unterdrückte den Drang, die Tür einfach zu erstürmen. Sie mochte ganz genauso gesichert sein. Er sprang behende auf ein Gesims, das um das unterste Stockwerk des Gebäudes lief, zog sich zu einem Fenster hoch. Er balancierte auf dem Fenstersims, verfluchte seine Größe und Breite und wünschte sich, wieder zehn Jahre alt zu sein und ein dürrer, kleiner Einbrecherjunge.

Er fiel nicht. Er öffnete das Fenster mit seinem Messer. Manche Fähigkeiten vergaß man nicht. Zudem hatte er gelegentlich schon auf anderen Einsätzen Anlaß gehabt, seine Kenntnisse aus Kindertagen gewinnbringend einzusetzen.

Just in diesem Augenblick kam es ihm in den Sinn, daß er den Leutnant nicht mit in die Gleichung genommen hatte. Der Mann wartete immer noch irgendwo in der Dunkelheit, war nicht mit ihm nach vorne zum Haus gekommen. Plötzlich mußte er wieder an das unerklärliche Verschwinden des Klosterbruders denken, an den Mann, der befreit worden war. Er begriff mit einem Mal, daß es gut möglich war, daß er einen Feind an seiner Seite hatte. Einen Verräter in der Truppe. Die heftige Art, mit der von Orven sowohl auf Graf Arpad als auch auf Corrisande reagiert hatte, ließ es nicht unwahrscheinlich erscheinen, daß der Mann andere Ziele hatte, als einen katholischen Orden zu erstürmen, der die Fey jagte.

Er blickte zurück, konnte ihn in der Dunkelheit jedoch nicht ausmachen. Er war verschwunden. Delacroix verfluchte sich ob seiner Leichtsinnigkeit. Doch es nützte nichts. Er hatte dies begonnen, er mußte es zu Ende bringen.

Er glitt in den dunklen Raum. Eine Laterne hätte er jetzt gut gebrauchen können, doch die hatte der Leutnant. Und der war fort. Delacroix konnte sich jedoch nicht des Gefühls erwehren, daß er ihn sehr bald wieder treffen würde.

Er tastete sich in der Dunkelheit an Möbeln entlang und fand schließlich eine Tür. Leise öffnete er sie und lugte vorsichtig hinaus.

Der Korridor war ein wenig besser ausgeleuchtet. Hier lagen Steinfliesen, und die Wände waren holzgetäfelt. Er konnte Rauch riechen. Der Geruch kam die Haupttreppe herunter. Irgendwo in diesem Haus brannte ein großes Feuer. Vielleicht waren die Ordensbrüder, die hier lebten, damit beschäftigt, es zu löschen. Vielleicht hatten sie auch nur eine Möglichkeit gefunden, Scheiterhaufen im Hause versteckt abzubrennen.

Er verbot sich das Bild, das sich dazu in seinen Gedanken formte.

Er konnte nun einzelne Worte des Geschreis verstehen, obwohl es von weiter oben kommen mußte. Es war dennoch laut genug. Irgend jemand wurde massiv dafür gescholten, daß er seinen Posten verlassen und den Eingang nicht gegen Eindringlinge verteidigt hatte. Und dann gab es den Befehl, mehr Wasser zu bringen und zwar schnell. Er erkannte die Stimme des Paters, obgleich sie aufgeregter klang als normal.

Mehr hörte er nicht. Aus der Richtung des Haupteingangs sah er von Orven auf ihn zutreten. Sein Gesicht war angespannt und unglücklich. Er hielt seine Pistole vor sich, zielte in Delacroix’ Richtung. Das war es also.

Er drückte ab, noch bevor Delacroix auch nur die Zeit hatte zu reagieren. Die Kugel flog so dicht an ihm vorbei, daß er meinte den Zug zu spüren. Hinter ihm fiel etwas zu Boden.

Delacroix drehte sich um. Ein junger Mann in einer Kutte lag reglos auf dem Boden, unter ihm halb verdeckt eine Muskete, die er in der Hand gehabt haben mußte.

Der Colonel atmete tief durch und nickte von Orven zu, der zurücknickte und seine Waffe neu lud. Sein Gesicht war grimmig und verschlossen.

Seine Loyalität schien nun außer Frage zu stehen.

Das Obsidianherz
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