Kapitel 91
Sie hatte natürlich nicht schlafen können. Sie saß nur da, die Augen geschlossen, ihren Körper möglichst klein zusammengerollt, die Arme um die Knie geschlungen, als ob sie so sich selbst wärmen könnte, und sei es nur dadurch, daß sie möglichst wenig mit dem kalten Boden in Berührung kam.
Wieviel Zeit vergangen war wußte sie nicht. Die Kerze war schnell heruntergebrannt, und danach hatte sie in der Dunkelheit gesessen. Sie konnte das Glühen des Kalteisens sehen, doch es machte ihre Zelle nicht heller. Die Dunkelheit griff nach ihren Gedanken, fraß jegliche Hoffnung, die sie entgegen besseren Wissens doch noch gehabt hatte, daß jemand kommen würde, um sie zu befreien.
Niemand war gekommen. Und es würde auch niemand kommen.
Sie hatte gebetet. Sie konnte nicht glauben, daß diese Menschen recht hatten und sie nicht Gottes Kind war, sondern eine Abscheulichkeit, ein Fehler der Natur, der korrigiert werden mußte. Sie wünschte, sie wüßte mehr über ihre Abstammung, und sei es nur, um irgendeine Vorstellung davon zu haben, wofür sie sterben mußte.
Als sie das Licht die Kellertreppe hinunter scheinen sah, dachte sie, sie würden sie nun doch austauschen. Vielleicht war jemand gekommen? Delacroix? Er war zu ihr gekommen. Doch dann sah sie, daß es der große, wuchtige Mönch war. Sein breitschultriger Körperbau hatte einen Schatten an die Wand geworfen, den sie für einen Augenblick mißdeutet hatte. Er war so groß wie der Colonel. Und auch so dunkel. Ihr Herz krampfte sich vor Enttäuschung zusammen. Ihre plötzliche Hoffnung starb im gleichen Moment. Es tat weh, als hätte ihr jemand ins Herz gestochen.
Er hielt eine Petroleumlampe in einer Hand und irgend etwas Undefinierbares in der anderen. Sie konnte nicht erkennen, was es war. Aber er lächelte. Selbst durch die Dunkelheit konnte sie sein Lächeln erkennen.
Er war allein. Niemand war da, um ihn zurückzuhalten. Er näherte sich ihrem Käfig langsam und musterte sie, tastete sie mit seinem Blick ab. Sie rappelte sich hoch, wollte ihm nicht sitzend begegnen. Sie überlegte sich, ob sie um Hilfe schreien sollte. Vielleicht würde jemand kommen? Vielleicht brauchten sie sie ja noch lebend? Vielleicht war er ohne Erlaubnis hier?
Sie schrie nicht. Statt dessen sprach sie ihn an.
„Sind Sie gekommen, um mir weh zu tun?“ fragte sie ihn und versuchte, seinen Blick zu treffen, doch die dunkeln Augen bewegten sich unstet hin und her, von ihrem Antlitz über ihren Körper und zurück zur Treppe. Die Lampe erleuchtete sein Gesicht von unten her, und seine Züge hatten etwas Diabolisches, waren voller unnatürlicher Schatten.
Er setzte die Lampe ab und schloß den Käfig auf. Jetzt konnte sie sehen, was er hielt. Es war eine Art Messer, nicht der lange, geschwungene Dolch, mit dem er sie schon bedroht hatte, sondern ein seltsam aussehendes Ding mit einer extrem kurzen Klinge. Sie verstand, daß dies etwas war, um Wunden zu schlagen, die nicht töteten. Und sie begriff nicht, wie Menschen sich so etwas ausdenken konnten, solche Gerätschaften bauen konnten, ihre gottgegebene Phantasie für solche Grausamkeiten gebrauchten.
Er hatte ihr nicht auf ihre Frage geantwortet, doch jetzt trat er zu ihr und sagte etwas auf Italienisch. Sie verstand, daß er sie aufforderte, sich bei ihm zu bedanken dafür, daß er sie nun einer Reinigung unterziehen würde.
Die Haarnadel war in ihrer Hand, wohlversteckt. Sie war nur eine winzige Waffe gegen einen Mann, der die Kraft hatte, ihr mit bloßen Händen die Knochen zu brechen. Sie wich vor ihm zurück, und er folgte ihr gemächlich. Es machte ihm offenbar Freude, und er hatte es nicht eilig. Sie konnte seine ganze Vorfreude fühlen. Ihre Haare stellten sich im Nacken hoch. Die Angst hetzte ihre Gedanken von einem unmöglichen Ausweg zum nächsten. Er hatte die Tür nicht wieder verschlossen. Vielleicht würde sie entkommen können?
Rückwärts wich sie, rückwärts in einem kleinen Kreis, immer in dem Versuch, nicht zu nah an die Wand zu geraten, damit er sie nicht dagegen drücken, sie einklemmen konnte zwischen sich und der Mauer. Er wiederum gab acht, daß er immer zwischen der Tür und ihr war. Sie erkannte, daß er die Tür mit Absicht offengelassen hatte, um sie zu schmähen, um ihr eine Hoffnung vorzugaukeln, die er zerschlagen konnte. Er wußte nicht, daß ihm das schon allein mit seinem Schatten an der Treppenwand gelungen war.
Nun griff er nach ihr, und sie entwand sich in einer Drehung, seine große Hand verpaßte sie, berührte sie nur kurz, griff nach ihrer Kleidung, die dabei quer über ihrer Brust kaputtriß. Mehr passierte nicht. Ein Stück weißer Spitze von ihrem Unterkleid flatterte zu Boden. Sie rang nach Atem. Sie war ihm entkommen. Einen Moment lang hatte sie gesiegt.
Im nächsten Augenblick hatte er sie schon in seinem Griff, und nun schrie sie vor Angst und vor Verzweiflung. Er hielt ihr die Arme mit einer Hand hinter ihrem Rücken, bog sie rückwärts, und sie sah, wie seine zweite Hand ganz langsam auf ihr Gesicht zukam. Die kurze Klinge war auf ihr rechtes Auge gerichtet. Er nahm sich Zeit, hielt sie noch ein wenig fester, klemmte sie zwischen sich und die Außenwand. Sein Körper rammte hart gegen ihren.
Sie konnte sich überhaupt nicht rühren. Sie konnte sich nicht entwinden, nicht wehren, war vollständig bewegungsunfähig. Kein Ausweg bot sich. Er würde sie blenden, ihr die Augen ausstechen, fast konnte sie den Schmerz schon fühlen, sah Elizas verstümmeltes, augenloses Gesicht vor sich, wußte, daß sie das gleiche Schicksal ereilen würde. Nur war sie dabei noch am Leben.
Sie fühlte den eisigen Wind auf ihrem Gesicht, der durch das zerbrochene Fenster wehte. Das letzte, was sie sehen würde, war das glühende Drahtgitter aus Kalteisen.
Sie schrie immer weiter, und dann traf es ihre Augen, brannte in sie hinein, und sie konnte nichts mehr sehen. Beide auf einmal hatte er ihr genommen, dachte sie, doch sie hörte ihn fluchen, sein Griff wurde locker, und sie begriff, daß es nicht seine Klinge gewesen war, die sie getroffen hatte. Tränen strömten aus ihren Augen. Tränen, kein Blut. Und ganz langsam konnte sie den Kalteisenschimmer über sich wieder sehen.
Sand. Sie waren von Sand getroffen worden. Mitten im Spätwinter, während es draußen schneite, hatte trockener Sand sie getroffen. Teilweise war er ihr in den offenen Mund gefallen, und ihre Zähne schliffen sich daran. Ein weiterer Teil war ihr in die Nase gekommen und in die Augen, aus denen nun die Tränen liefen.
Jemand hatte Sand nach ihr geworfen, nach ihnen beiden, verstand sie mit einem Mal, denn er hatte sie losgelassen, kratzte an seinem Gesicht herum, fluchte und spuckte, rieb sich die Augen. Es tat ihm weh. Und ihr nicht. Zumindest nicht so weh, wie sie erwartet hatte. Dies war nichts im Vergleich. Sie hatte noch ihre Augen, was bedeutete da Sand? Er hatte sie ihr nicht ausgestochen, hatte seine Klinge nicht hindurch geschrammt, hatte sie nicht in zwei Hälften gespalten, wie er – und das wußte sie jetzt – das vorgehabt hatte.
Der Sand schmeckte nach Eisen, wie ferne Blitze, kribbelte auf ihrer Haut und ihrer Zunge. Sie mußte an Steinberg denken und an den Sand auf seinem Tisch, fühlte plötzlich den unwiderstehlichen Drang, zu ihm zu gehen, bei ihm zu bleiben. Er rief sie zu sich. Nur wußte sie, daß er bereits tot war.
In diesem Moment trat sie zu. Und er klappte in der Mitte zusammen. Man hatte ihr beigebracht, welches die Stellen waren, die man treten mußte, wenn man sich gegen einen männlichen Angreifer verteidigte. Bislang hatte sie dieses Wissen nie gebraucht. Und ihr war auch niemals bewußt gewesen, wie stark sie war. Er grabschte mit einer Hand nach ihr, und sie rammte die Haarnadel in sein Fleisch, durchbohrte die Hand mit einem Stoß. Sie wußte nicht, wie sie das hatte tun können, doch die Kraft war mit einem Mal dagewesen, aus dem Nichts erstanden.
Er ließ vor Schreck sein kleines Messer fallen, und sie fing es, während es noch fiel, entwickelte eine Geschwindigkeit, die sie noch nie zuvor gehabt hatte. Er faßte noch einmal nach ihr, und sie schnitt ihm mit der kurzen Klinge quer über die Hand, bevor er das Messer fing und ihr die Klinge wieder aus der Hand riß. Sie drehte sich um und rannte.
Aus dem Käfig rannte sie, vorsichtig, damit sie keinen Teil der Tür berührte. Am liebsten hätte sie ihn eingesperrt, doch sie konnte das Schloß immer noch nicht anfassen. Und das Kalteisen schien an Intensität zugenommen zu haben, leuchtete heller als je zuvor. Aber er würde sie nicht bekommen. Sie war schnell, sie war mächtig, sie war Sí, und sie gehörte zu einer neuen Rasse. Und er war nichts.
Sie stürmte die Treppen hinauf, flog fast die Stufen hoch, und als sie oben angekommen war, verließ sie die plötzliche Macht. Das Gefühl der Unbesiegbarkeit war fort – verschwunden mit dem letzten Sandkorn, das sie sich aus den Augen geweint hatte. Und auch die Kraft war fort, ebenso ihre unglaubliche Schnelligkeit. Sie war einfach nur wieder Corrisande, klein und unscheinbar, zart und schwach gegen einen solch riesigen Kerl. Und sie war in Schwierigkeiten. Sie sah sich um. Er kam ihr bereits hinterher. Seine blutenden Hände waren ihr entgegengestreckt.
Mit seiner Linken zog er die Haarnadel aus der Rechten. Blut tropfte auf den Boden. Sie hatte die Kellertür erreicht, schaffte es nicht, sie zu öffnen. Sie war versperrt. Sie rüttelte daran, während er näher kam. Ihre Verzweiflung und Angst kostete sie wertvolle Sekunden, doch dann sah sie, daß er sie von innen eingesperrt hatte, und sie drehte den Schlüssel im Schloß. Sie hätte gerne den Schlüssel abgezogen und von außen wieder zugesperrt, aber er steckte fest, ließ sich nicht von ihren fliegenden Händen herausziehen. Und so verließ sie den Keller, warf die Tür ins Schloß, ohne abschließen zu können.
Sie hatte gehofft, einen Riegel vorzufinden. Doch da gab es keinen Riegel. Der Schlüssel bot die einzige Möglichkeit, die Tür zu verriegeln. Sie hätte sich die Zeit nehmen sollen, ihn innen aus dem Schloß zu ziehen. Zu spät jetzt. Sie konnte nur noch weglaufen. Sie hörte bereits, wie er auf der anderen Seite der Tür näher kam. Er war schon fast da.
Und sie rannte auch bereits. Die Haupteingangstür war verschlossen. Das wußte sie, sie hatte gesehen, wie sie verschlossen wurde. Keine Zeit, das Schloß zu knacken. Und selbst wenn sie die Zeit gehabt hätte, wäre sie nur in einen geschlossenen Hof gelangt mit einer Kalteisentür, die ebenfalls verschlossen war. Keine Zeit dafür, und keine Chance in dieser Richtung.
Sie nahm sich nicht die Zeit, weiter darüber nachzugrübeln, rannte bereits die Stufen hoch, hielt dabei ihre zerrissenen Röcke hoch, um nicht darüber zu fallen. Ein Korridor öffnete sich, mit Teppichen wohnlich gemacht, getäfelt, gemütlich und behaglich. Bestickte Vorhänge unterteilten ihn. Das Leben von Heiligen war darauf abgebildet. Und ein weiteres großes Kruzifix hing an der Wand.
Sie griff nach dem schweren Holz, zerrte es von der Wand.
„Vergib mir, bitte, vergib mir“, betete sie und warf es in einer schwungvollen Bewegung hinter sich, in der Hoffnung, es möge ihn treffen oder ihn auf der Treppe zum Stolpern bringen.
Doch sie hatte schlecht gezielt. Ein Kruzifix war kein Wurfmesser, und sie traf nicht. Es schlug gegen die Wand, drehte sich und warf eine Petroleumlampe um, die dort stand und ein wenig Licht gab. Sie fiel auf den Boden, und der Zylinder zerbrach in zwei Hälften. Flammen breiteten sich auf dem Teppich aus, züngelten orangerot darüber hinweg, erreichten den Vorhang, griffen nach den trockenen Holzwänden. Sie verlor eine wertvolle Sekunde, während sie betrachtete, was sie angestellt hatte.
Da war er auch schon. Er hatte den Treppenabsatz erreicht, sprang über die Flammen, irritiert doch unbeirrbar. Er wurde nicht einmal langsamer. Sie rannte schon wieder, obgleich sie wußte, daß es nur noch eine Frage von Sekunden war, bis er sie erreichen würde. Mit seinen langen Beinen war er viel schneller. Ihre Panik trug sie weiter, und sie versuchte, im Vorbeilaufen Gegenstände aufzunehmen und hinter sich zu werfen, in der vagen Hoffnung, er würde darüber stolpern oder fallen.
Er fluchte hinter ihr. Und er war schon so nah. Fast hatte er sie erreicht. Eine Tür öffnete sich auf der rechten Seite, und sie wirbelte drumherum, duckte sich daran vorbei. Sie war klein und behende, es ging. Der Schwung des schweren Mannes trug ihn direkt in die Tür. Ein ärgerlicher Schwall Italienisch erschallte hinter ihr, und sie erkannte die Stimme des Priesters, hatte jedoch keine Zeit und keine Energie zu lauschen, ob sie mehr als nur ein paar Worte verstehen würde.
Die Hintertreppe war nun vor ihr, und sie sah den alten Mönch von unten her hochsteigen. Er hielt nun auch einen glühenden Gegenstand in seiner runzligen Hand, und ihr wurde klar, daß er genauso gefährlich war, wie die anderen. Runter und an ihm vorbeizurennen hatte keinen Zweck, also rannte sie hoch, die Röcke in einer Hand, zwei Stufen auf einmal nehmend. Hoch, in panischer Hast, höher und höher. Dann endete die Treppe, sie hatte den obersten Stock erreicht, und sie jagten sie noch immer, blockierten den Weg nach unten.
Von der Vordertreppe konnte sie auch Lärm hören und lautes Knallen. Sie schossen auf sie? Oder nicht? Sie konnte den Schützen nicht sehen, aber sie wartete auch nicht darauf.
Sie öffnete die Tür zu einem Zimmer, sprang hinein und schloß sie hastig hinter sich. Auch hier keine Rettung, kein Versteck. Nicht einmal ein Schlüssel war in der Tür. Mit einer Hand stemmte sie einen Stuhl unter die Klinke, in der Hoffnung, das würde ihre Verfolger wenigstens einen Moment lang behindern. Wieder eine Petroleumlampe neben einem Bett, auf dem ein Mann hingestreckt lag. Seine Augen waren halb geöffnet, und sie fürchtete, er könnte jeden Moment aufspringen, um sie zu fangen. Doch er schien sie nicht wahrzunehmen, starrte nur leer und ausdruckslos gegen die Wand. Noch ein Opfer?
Sie ergriff die Lampe, nahm sie mit sich zum Fenster. Eine Waffe. Das Fenster war schnell geöffnet, und in der nächsten Sekunde stand sie auf dem Fensterbrett. Draußen war es dunkel, und sie konnte fast nichts sehen. Sie mußte im zweiten Stock sein, oder im dritten? Sie wußte es nicht. Allzu hoch konnte das Gebäude nicht sein. Sie hatte es in der Dunkelheit von draußen kaum gesehen. Jedenfalls war es zu hoch, um zu springen. Und außerdem konnte sie nicht erkennen, wohin sie sprang.
Also weiter nach oben. Sie warf die Lampe gegen die Tür, wo sie zerbarst und Feuer wie eine Wand an ihr hochstieg. Eine sehr kleine Wand. Keine Barriere, die ihre Verfolger aufhalten würde. Doch sie war schon draußen, fingerte blind an der Fassade entlang nach einem Halt, fand Efeu.
Efeu war nicht stark genug, sie zu halten, das wußte sie. Doch eben barst die Tür hinter ihr, und so versuchte sie es trotzdem, zog sich an den glitschigen, schneefeuchten Blättern hoch, suchte nach einem Halt für ihre Zehen. Wieder kletterte sie um ihr Leben. Und diesmal wußte sie nicht, was sie tun würde, wenn sie erst das Dach erreicht hatte.
Wahrscheinlich würde ihr doch nichts anderes übrigbleiben, als davon hinunterzuspringen.