Kapitel 62

Corrisande fühlte sich wie ein Jongleur. Sie hatte einen solchen Zirkuskünstler einmal gesehen. Er hatte Stilette, Schwerter und brennende Fackeln gleichzeitig durch die Luft gewirbelt. Seine Geschicktlichkeit war beeindruckend gewesen, und nun spürte sie, daß sie fast das gleiche tat.

Nett angezogen war sie und frisch frisiert. Ihre geschwollene Lippe war unter Reispuder versteckt, ihr Haar zu einer süßen, wenn auch ein wenig schulmädchenhaften Frisur geflochten. Marie-Jeannette und Eliza hatten ihr Bestes getan, sie wieder zu dem braven, sittsamen Mädchen zu machen, das sie einen Tag zuvor noch gewesen war, und sie hatte lächeln geübt, bis ihr Gesicht weh tat. Lächeln war schwierig geworden.

Sie hatte Marie-Jeannette eingeschärft, keine Anweisungen von Eliza mehr entgegenzunehmen, ohne nachzufragen. Die Schuld daran, daß sie das Hotel nicht verlassen konnte, hatte sie auf Dupont abgewälzt, und im Augenblick war sie damit beschäftigt zu erklären, weshalb es nötig gewesen war, den Mann zu töten. Das stellte sich auch als schwierig heraus.

„Er war dabei, Papa und mich zu verraten. Ich verstehe wirklich nicht, warum Papa ihn als seinen Repräsentanten hier in München ausgesucht hat. Papa macht sich nichts aus Magie. Wahrscheinlich hat er gar nicht gewußt, daß der Mann Meister des Arkanen war. Jedenfalls hat Dupont nur seine eigenen Ziele verfolgt, nicht die Papas.“

„Da hast du dich einfach entschlossen, ihn zu erstechen? Einfach so?“ Eliza saß auf dem Sofa ihres kleinen Salons, hielt ihre Stickerei in Händen und sah Corrisande ungläubig an. „Willst du mir wirklich erzählen, daß hier im Hotel irgendwo eine Leiche liegt, mit deinem Messer in der Brust, und wir jeden Moment die Gendarmerie erwarten müssen?“

Das Messer. Sie hatte das Messer nicht sichergestellt. Das war eine der Hauptlektionen ihres Lehrmeisters gewesen. Immer die Waffe verschwinden lassen.

Sie hatte nicht einmal daran gedacht. Ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Doch über die konnte sie auch nicht sprechen, und jetzt, da sie sich des Dolches entsann, war sie sicher, daß sie keine Lust verspürte, ihn dem Toten aus dem Herz zu ziehen. Allein der Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit.

„Außerdem“, fuhr Eliza fort, „wenn er gerade dabei war, dich und deinen Papa zu verraten – an wen denn bitte, und was ist mit dem Empfänger der Information? Hast du seinetwegen etwas unternommen?“

Delacroix. Alles drehte sich um ihn. Sie hätte nichts von dem Toten sagen sollen. Doch Eliza auch nur für Sekunden völlig sprachlos zu sehen, hatte sie für einiges entschädigt. Nur bohrte sie jetzt, getrieben von ihrem scharfen Intellekt, immer weiter, und alles, was sie Corrisandes vorsichtigen und mitunter völlig erlogenen Antworten entnahm, drehte sie so lange hin und her, bis sie einen neuen Angelpunkt fand, von dem aus sie weiterbohren konnte.

Corrisande verzweifelte unter ihrer gespielten Fassung. Sollte ihr Vater davon erfahren, daß einer seiner Leute Geheimnisse, die ihn betrafen, ausgeplaudert hatte, würde er ihr für ihr rasches und nachhaltiges Eingreifen danken. Doch er würde den Mitwisser keinesfalls unbehelligt lassen. Es bedurfte nur eines Briefes von Eliza, und Delacroix war so gut wie tot. Ein Schuß, ein Messer oder Gift. Mehr brauchte es nicht.

„Keine Sorge. Er war kryptisch in seinen Bemerkungen. Das kann niemand begriffen haben.“

„Wer kann was nicht begriffen haben?“ Elizas Blick spießte sie fast auf. „Kann es sein, daß wir wieder bei deinem geheimnisumwitterten und ach so leidenschaftlichen Delacroix sind? Du darfst ihn nicht schonen. Das darfst du nicht. Er wird dich auch nicht schonen. Das wird er nicht. Ahnt er, daß du Dupont getötet hast?“

Schlimmer. Er hatte es gesehen.

„Er ...“ Ihr blieb die Stimme weg. „Er hat die Sache auf sich genommen.“

Eliza schwieg eine ganze Weile.

„Da steckt doch noch mehr dahinter, nicht wahr, Kind?“ fragte sie nach ein oder zwei Minuten. „Ich kann dich in gewisser Hinsicht durchaus verstehen. Glaube mir. Ich bin eine Frau, und er ist ein wirklich beeindruckendes Exemplar der Gattung Mann, groß, stark und ungewöhnlich. Ich weiß nicht, ob dir seine Vertraulichkeiten angenehm waren oder nicht, doch das ist einerlei. Er hat dich nicht genug respektiert, um dich bei dieser ,Jagd aus der Schußlinie zu halten. Sein Respekt wird mit den Bemerkungen Duponts – egal wie kryptisch sie gewesen sein mögen – nicht gewachsen sein, und die Art, wie er dich angegriffen hat, spricht auch nicht für Ehrerbietung. Der Mann ist gefährlich. Er wird dich in den Staub treten wie ein Gänseblümchen, ohne einen Augenblick zu zögern. Ich gebe gern zu, seine maskuline Ausstrahlung und sein ungewöhnliches Auftreten haben etwas für sich – wenn man so etwas mag. Doch sie machen ihn nur noch gefährlicher. Du hast kein Recht, uns alle zu gefährden – für einen Mann, dem du vollkommen gleichgültig bist. Oh“, sie schenkte Corrisande ein gönnerhaftes Lächeln, „ich will gerne glauben, daß er dich attraktiv findet. Das würden die meisten Männer. Er würde dich nehmen, wenn er könnte, würde dich lieben auf seine rücksichtslose Art, eventuell mit Gewalt, und dann würde er dich trotzdem verraten. Ich kenne die Männer. Glaub mir. Ich kenne die Männer, und dieser Mann wird dich verraten.“

Corrisande konnte nicht sprechen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie fand keine Worte.

Eliza wußte viel über Männer. Möglicherweise hatte sie recht. Wahrscheinlich hatte sie recht. Sie hatte allerdings auch eigene Motive, das zu sagen, was sie sagte. Ihre eigene Sicherheit und ihr Wohlleben waren ihr wichtiger als alles andere, und sie machte sich Sorgen um beides. Corrisande kannte ihre Begleiterin gut genug, um zu wissen, daß ihr jedes Mittel recht sein würde, das sie sicher und bequem weiterleben ließ. Eliza war alles andere als selbstlos, und was sie tat, tat sie primär für sich.

„Du versteigst dich da in etwas“, sagte sie nach einer Weile, als sie ihrer Stimme wieder trauen konnte. „Meine Begegnung mit Delacroix ist vorbei und vorüber. Ich werde ihn nicht wiedersehen und – das hast du ganz richtig erkannt – bin ihm vollkommen egal.“ Es tat weh, das zu sagen. „Er hat Grund, mir dankbar zu sein, denn ich habe ihm das Leben gerettet, und er weiß weder über mich noch über dich noch über Papa irgend etwas, das uns in irgendeiner Weise gefährlich werden könnte. Ich weiß nicht, was seine Rolle in diesem – Abenteuer – ist, doch ich bin absolut sicher, daß sein plötzliches Dahinscheiden weitaus mehr Staub aufwirbeln würde als Duponts verworrene Gleichnisse. Es kann sein, daß du da anderer Meinung bist. Aber ich möchte, daß du weißt“, sie versuchte, entschlossen zu klingen, „daß – solltest du diesen Mann ermorden lassen, von Papas Leuten oder sonstwem – du mit mir eine Art Ärger bekommst, die du nicht mögen wirst. Ich kann auch kurzen Prozeß machen.“

Sie starrten einander böse an.

„Es ist Zeit, daß du heiratest und dich mit Ehe und Familie beschäftigst. Unsere Zusammenarbeit wird wohl kaum prosperieren, wenn du dir angewöhnst, in regelmäßigen Abständen mein Leben zu bedrohen.“

„Dann bedroh meines nicht!“ fuhr Corrisande auf und merkte erst hinterher, was sie gesagt und wie sie es gemeint hatte.

Sie stand auf und schritt zur Balkontür. Sie sah hinaus in den grauen Tag. Es regnete ununterbrochen, und es war sehr kalt geworden. Dafür war sie dankbar, denn das hieß, daß sie nicht nach draußen brauchte und nicht versuchen mußte, ob sie inzwischen durch die Hoteltür kam oder immer noch an dem Zauber hängenblieb. Einem Zauber, den sie nicht sehen und nicht wahrnehmen konnte, bis sie in ihm festhing. Vielleicht war er ja fort. Vielleicht war er mit Dupont gestorben. Sie wußte es nicht.

Sie hatten nach einer guten Modistin geschickt, einer Frau, die Mme. de Rhins-Epitué empfohlen hatte. Morgen würde sie kommen und Vorschläge für eine grande toilette für den Ball machen. Ein elfenbeinfarbenes Ballkleid für ihre erste Ballsaison in München. Perlen würde sie dazu tragen und Saphire, ein hübsches Juwelenset, das sie sich aus gesammelter Beute hatte fertigen lassen. Steine, die sie sich aneignete, ließ sie immer neu fassen.

Sie sollte sich auf das alles freuen, doch es schien ihr im Moment nicht erstrebenswert.

„Es tut mir leid, daß wir so aneinandergeraten sind. Ich weiß nicht, wie ich dich überzeugen soll. All unsere Geheimnisse sind sicher. Niemand kennt sie. Bitte glaube mir. Ich habe überhaupt kein Interesse, mich oder Papa in Schwierigkeiten zu bringen, und dir kann doch im Grunde gar nichts passieren, du bist viel sicherer als wir. Ich würde für meine Diebstähle in den Kerker geworfen oder deportiert. Für den Tod Duponts könnte man mich hinrichten. Wenn ich dir sage, es gibt keine Gefahr, dann mußt du mir das glauben. Ich habe noch viel vor, und Colonel Delacroix ist kein Teil dieser Pläne. Nicht einmal ein kleiner. Mach die Sache nicht schlimmer, als sie ist. Und dein Eingreifen würde sie nur schlimmer machen. Bitte glaub mir. Alles, was wir wollen, ist, eine gute Saison haben, und das werden wir. Ich werde einen charmanten, höflichen Mann heiraten, du wirst deine Provision einstreichen, und dann leben wir alle fröhlich bis an der Welt Ende, und niemand wird etwas erfahren. Ich bin Diebin und Einbrecherin. Ich weiß, wie man Risiken einschätzt, und hier gibt es kein Risiko.“ Sie log bewußt. „Ich bin doch kein Kretin. Nichts und niemand könnte mich dazu bringen, mich – oder dich oder Papa – zu verraten. Was hätte ich davon? Welchen Vorteil?“ Das war eine Sprache, die Eliza verstand. „Konzentrieren wir uns lieber auf unsere Ziele und besprechen wir die Garderobe, die wir möglichenfalls noch ordern müssen. Das ist wichtiger, und es wird unsere Gedanken von diesen unerfreulichen Dingen ablenken. Delacroix wird aus unserem Leben verschwunden sein, bevor die Schneiderin noch unsere Ballkleider liefert.“

Es klopfte kurz, und Marie-Jeannette trat ein. Auch sie sah todmüde und abgekämpft aus, obgleich auch sie ihren Bluterguß mit einer großen Menge Reispuder überdeckt hatte. Corrisande sah ihr an, daß sie immer noch sehr verunsichert war. Ihre natürliche Art, ihre kecke Sorglosigkeit war kaum mehr zu merken. Sie wirkte verzagt.

„Dieses Hotel ist zum Fürchten“, sagte sie und setzte sich in einen der Sessel. „Es sind nur so wenige Leute da. Das macht einen ganz nervös. Ich habe mit Herrn Hinterhuber gesprochen. Er sagt, sie nehmen im Moment keine neuen Gäste auf. Er weiß auch nicht warum, doch man hat ihm aufgetragen, allen Leuten zu sagen, das Hotel sei ausgebucht. Leute reisen ab, weil sie denken, es spuke hier. Hat es ja auch – und dann ist da noch eine junge Dame, die ganz unerklärlich und plötzlich krank geworden ist. Aber es geht ihr schon besser. Hinterhuber hat gesagt, der Vorfall mache alles noch schlimmer. Mme. de Rhins-Epitué ist noch da. Ich habe extra gefragt. Sie bleibt, und außerdem“, sie lächelte und hielt einen Umschlag hoch, „hat sie die Einladungen für den Ball geschickt.“

„Oh, gut“, antwortete Corrisande. „Wenigstens etwas, das planmäßig läuft. Nett von ihr, so schnell zu reagieren. Ich muß ihr unbedingt danken.“

„Wir werden wieder mit ihr speisen“, sagte Eliza. „Aber besser nicht heute. Ich möchte, daß du dich erst noch von deinen ... neuen Erfahrungen erholst, bevor wir ihr wieder unter die Augen treten.“

„Gute Idee“, antwortete Corrisande ein wenig trocken. Sie wußte, daß sie mehr als einen Tag brauchen würde, um sich von eben diesen neuen Erfahrungen zu erholen. Vergessen würde sie sie nie. Doch sie konnte allen etwas vorspielen, darin war sie gut. Sie würde ihr Lächeln üben und viel Gelegenheit haben, ihr Talent, an der Wahrheit vorbei ihre Realität aufzubauen, zu trainieren, und niemand, absolut niemand würde je erfahren, daß ein kleiner Anteil Feyon in ihr steckte.

Es klopfte erneut.

Das Obsidianherz
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