Kapitel 12
Cérise hatte die Tür zum Flur ein Stück offengelassen, um nicht zu versäumen, wenn jemand vorbeikäme. Sie hatte Marie-Jeannette in die nächste Suite gehen sehen, und jetzt sah sie Leutnant von Orven in ganz untypischer Hast den Gang entlangrennen.
Sie trat aus dem Zimmer und ihm in den Weg.
„Guten Morgen, Herr Leutnant“, grüßte sie ihn, und er beantwortete ihren Gruß, wenngleich auch etwas atemlos und ungeduldig.
„Ich bitte Sie, kurz zu mir hereinzuschauen. Ich wüßte wirklich gern, was gerade geschieht. Sie erinnern sich doch, daß ich dies wissen muß? Es ist meine Pflicht, n’est-ce pas? Mein – ‚königliches‘ Privileg?“
Von Orven lief rot an. Er fühlte sich immer ein wenig unbehaglich in der Gesellschaft dieser forschen jungen Frau, die manchmal wie ein Dragoner beim Angriff loszog und damit ihre männlichen Kameraden schon fast beschämte und sich zu anderen Gelegenheiten wie ein verwöhnter, eitler Backfisch aufführte, der ständig selbst in allem einen Angriff sah. Auch fand er, daß er zu dieser frühen Stunde nichts im Zimmer einer Dame verloren hatte – und was diese besondere Dame anging, auch nicht zu irgendeiner anderen Zeit. Es gehörte sich nicht. Man konnte vermutlich keinen Anstoß daran nehmen, wenn sie alle beisammen waren und sich berieten, doch allein mit ihr in ihrem Zimmer zu sein gehörte nicht zu den Dingen, auf die er Wert legte.
„Mlle. Denglot, bitte verzeihen Sie, aber ich habe es wirklich eilig ...“
„Das sehe ich, mein lieber von Orven. Es ist über alle Maßen deutlich. Sie können weiterlaufen, sobald Sie mir über die Neuigkeiten, die unseren Fall betreffen, berichtet haben. Görenczys Benehmen gestern abend war so gänzlich incroyable, daß ich davon Abstand genommen habe, Sie abermals aufzusuchen. Jetzt aber muß ich wissen, was geschehen ist. Also. S’il vous plaît!“
Sie lotste ihn in ihr Zimmer und blieb dabei hinter ihm, so daß er schon Gewalt hätte anwenden müssen, um an ihr vorbeizukommen. Sie wußte, daß er so ein Betragen einer Dame gegenüber nie an den Tag gelegt hätte.
Es ärgerte ihn, daß sie das wußte. Einen Augenblick lang wünschte er sich Delacroix’ Grobheit. Diese war zwar grundsätzlich beklagenswert, erleichterte einem aber das Leben sicher nicht unerheblich.
Sie schloß die Tür und führte ihn zu einigen Armsesseln. Er stellte erleichtert fest, daß dies ein kleiner Salon war und nicht ihr Schlafzimmer.
„Alors“, sagte sie und sah ihn aufmunternd an.
Er nahm Platz, nachdem er ihr den Sessel zurechtgeschoben hatte.
„Nun“, eröffnete er. „Wir haben es noch nicht gefangen. Vonderbrück erhält den Zauber aufrecht. Die Erscheinung hat sich im Dachboden materialisiert und Delacroix angegriffen. Er ist verletzt. Der Schatten kann sich augenscheinlich in eine schlangenartige Kreatur verwandeln, einen anspringen und sich in den Leib eines menschlichen Opfers hineinschlängeln.“ Er stolperte ein wenig über das Wort Leib. Kein Wort, das er normalerweise in Gegenwart einer ledigen Dame ausgesprochen hätte. „Delacroix hat sich selbst einen Kalteisendolch in die Schulter gestoßen. Das hat die Kreatur aus ihm vertrieben. Es war“, er überprüfte ihr Gesicht nach Anzeichen nahender Ohnmacht, doch sie wirkte nicht einmal besonders beunruhigt, „kein schöner Anblick.“
„Ist er schwer verletzt?“ fragte Cérise.
„Ich denke nicht. Die Klinge war sehr schmal. Er hat jedoch viel Blut verloren. Natürlich wissen wir nicht, welchen üblen Sí-Zauber man eventuell als Nebenwirkung erwarten muß. Wir wollten Vonderbrück befragen. Nur um sicherzugehen.“
„Sie sind aber gerade an seinem Zimmer vorbeigegangen, Leutnant. War er nicht Ihr Ziel?“
Er verwünschte sie für ihre Aufmerksamkeit, gleich danach sich selbst dafür, daß er Vonderbrück tatsächlich noch nicht ins Bild gesetzt hatte und sie beide schließlich dafür, daß er Miss Jarrencourt noch immer nicht zu Hilfe geeilt war.
„Mein lieber Leutnant, Sie sehen ganz dérangé aus. Was ist denn? Möchten Sie vielleicht einen kleinen Sherry?“
Nur Cérise konnte auf den Gedanken kommen, einem Offizier im Dienst in ihrem Zimmer am frühen Morgen alkoholische Getränke anzubieten.
„Ich danke Ihnen, Mademoiselle, aber das wird nicht vonnöten sein“, erwiderte er. „Ich bin tatsächlich sehr besorgt. Miss Jarrencourt, die junge Dame, der wir gestern zu Hilfe kamen, als unser Lärm Sie unverzeihlicherweise belästigt hat, ist in großer Gefahr. Sie hat anscheinend das seltene Talent, das Nahen der Spukerscheinung schon vorauszuahnen.“
„Wie ungemein praktisch“, kommentierte Mlle. Denglot, fand sich aber weitgehend ignoriert.
„Leider ist dieses Talent nun wahrscheinlich auch dem Wesen bekannt. Durch meine Unachtsamkeit.“ Er sprang auf. „Wenn ihr durch meine Schuld etwas passiert, werde ich mir das nie verzeihen.“ Er eilte zur Tür. „Ich muß sie warnen.“
„Warten Sie!“ rief Cérise ihm nach. „Ihre Zofe ist gerade erst gekommen. Das heißt, sie ist sicher noch mit der Morgentoilette beschäftigt. Sie wird Sie jetzt kaum empfangen. Zudem glaube ich, daß sie dem Schemen heute schon einmal ausgewichen ist, wenn ich das Geschehene richtig deute. Ihre ausnehmend schnelle Reaktion wurde letztlich nur übertroffen von ihrem außerordentlichen athletischen Können.“
Askos hellblaue Augen weiteten sich.
„Bitte?“ fragte er und sah dabei so irritiert aus, daß die Sängerin ein Lächeln nicht unterdrücken konnte.
„Miss Jarrencourt kletterte über das Balkongeländer und hielt sich von außen daran fest. Sie kann ausnehmend gut klettern. Sie zauderte nicht, sie fiel nicht, sie wurde bei einem Blick nach unten nicht hysterisch, und sie rief auch nicht um Hilfe. Es war erstaunlich.“
„Oh Gott!“ rief Asko. „Es hat sie in Panik nach draußen gejagt. Sie hätte sich zu Tode stürzen können!“
„Hätte sie“, sagte Cérise. „Hat sie aber nicht. Panik mag sie über das Geländer getrieben haben, aber sie kletterte zurück, ohne auch nur mit einem Wort um Hilfe zu bitten. Sie sah eher peinlich berührt aus als hilflos.“
Leutnant Asko von Orven starrte sie mit großen Augen ungläubig an.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Herr Leutnant.“ Sie lächelte ihn mit ihrem süßesten und unschuldigsten Bühnenlächeln an und wußte, daß sie dabei hinreißend aussah. „Sie gehen zu Vonderbrück und erzählen ihm, was Delacroix widerfahren ist, und ich selbst werde mich um Miss Jarrencourt bemühen. Ich denke, meine Chancen, um diese frühe Stunde bei ihr Einlaß zu erhalten, sind größer als die Ihren. Zudem machen Sie der jungen Dame mit Ihrer allzu großen Besorgnis vielleicht nur Angst, und das wollen Sie doch sicher nicht.“
„Mademoiselle, ich versichere Ihnen ...“
„Natürlich tun Sie das, mein lieber, lieber Herr Leutnant, und ich verstehe sehr wohl, daß Sie das hübsche Mädchen lieber selbst sehen möchten. Aber glauben Sie mir, die Gute wird einer anderen Dame gegenüber mit Sicherheit viel zugänglicher sein.“
Asko glaubte nicht, daß eine Opernsängerin Mrs. Parslows Definition von Dame vollends entsprach, doch höflich wie er war, sagte er nichts dazu. Cérise Denglot fuhr fort: „Jetzt gehen Sie zu Vonderbrück. Wir brauchen seinen Rat. Delacroix mag ein gefühlloser Sohn einer cocotte sein, aber ich möchte doch nicht, daß er sich plötzlich in ein schleimiges Monster verwandelt. Er ist ja so schon schwer genug zu ertragen.“
Dazu schwieg Leutnant Asko von Orven weise.