Kapitel 17
Von Görenczy rannte den Gang entlang. Es war unglaublich, mit welcher Behendigkeit der junge Arzt ihm entglitten war. Von Görenczy war schnell. Doch als er den Raum verlassen hatte, war der Doktor bereits verschwunden gewesen, und er konnte ihn nirgends erspähen.
Er rannte zur Treppe und von dort hinunter. Während er um die Ecke hastete, meinte er, den blonden Mann auf dem darunter gelegenen Stockwerk zu sehen, wie er gerade aus seinem Sichtbereich trat.
Er lief schneller, hetzte die Treppe hinunter, stolperte und schaffte es gerade noch, sich am Geländer festzuhalten, bevor er die gesamte Treppe hinuntergepurzelt wäre. Das Manöver kostete ihn wertvolle Sekunden. Er kam wieder auf die Beine und rannte weiter. Er bot ein Bild unzivilisierter Eile. Die Schöße seines Uniformrocks flogen, und er überrannte fast zwei ältere Herren, die ihm plötzlich im Weg waren.
Für eine Entschuldigung nahm er sich keine Zeit. Er erreichte die nächste Etage. Kein Zeichen von dem Arzt. Er fluchte und erschreckte damit zwei Damen, die gerade aus ihren Zimmern kamen. Sie blickten ihn bestürzt an. Er lächelte entschuldigend und murmelte etwas. Das Lächeln fiel wohl mißverständlich aus, denn sie wichen mit einem kleinen Aufschrei zurück in ihre Zimmer.
Aus dem Augenwinkel sah er einen hellen Haarschopf am anderen Ende des Korridors. Er hastete weiter. „Personal“ stand auf der Tür. Er öffnete sie. Sie führte zu einer engen, hölzernen Hintertreppe. Die Gesindestiege.
Er hörte schnelle Schritte, die nach unten liefen. Er lief hinterher, nahm zwei, drei Stufen auf einmal, flog fast die sich eng windende Treppe hinab. Der Mann konnte doch unmöglich so schnell sein!
Er erreichte das Parterre. Kein Lebenszeichen von dem Mann, den er verfolgte. Vier Türen führten von dem Flur weg. Er wußte nicht, welche er nehmen sollte. Inzwischen war er der Überzeugung, jemanden zu jagen, der weitaus trickreicher war, als er vermutet hatte. Er kontrollierte abermals seine Pistole.
Welche Tür sollte er nehmen? Er entschied sich für die, die der Treppe am nächsten war, hob die Waffe und stieß die Tür auf.
Er fand sich hinter dem Empfang in der Hotelhalle wieder und blickte in das verblüffte Gesicht eines jungen Mannes in Portieruniform, der ihn mit runden Augen anglotzte. Fast konnte er sehen, wie sich ein Schrei in der Kehle des mit offenem Mund dastehenden Angestellten formte.
„Haben Sie einen blonden Mann mit Arzttasche gesehen?“ fragte er.
Der Mann holte tief Luft und schluckte seinen Schrei hinunter, fand jedoch keine Worte, die in umgekehrter Richtung seinen Mund hätten verlassen können.
„Herr Portier! Ist hier jemand durchgekommen?“ fragte er noch einmal drängend.
Der Mann starrte auf seine Pistole.
„Ga...“ war alles, was er sagte.
Von Görenczy senkte die Waffe und trat auf den Mann zu. Mit der Linken packte er ihn an der Schulter und schüttelte ihn.
„Ist hier jemand durchgekommen?“
Der Mann schüttelte den Kopf. Udolf ließ ihn stehen und hastete zurück zur Hintertreppe. Während er die Tür hinter sich schloß, vernahm er die Stimme des Portiers.
„Herr Leutnant, das ist die Gesindetreppe. Gäste werden gebeten, nicht ...“
Noch drei Türen zur Auswahl. Der Doktor war inzwischen bestimmt fort. Von Görenczy war wütend. Er hatte wenig Lust, seinen Kameraden erklären zu müssen, daß seine Zielperson ihn ausmanövriert hatte.
Er öffnete die nächste Tür, die Pistole schußbereit. Ein vielstimmiger Schrei einer Gruppe Frauen schnitt durch sein Gehör. Er befand sich in der Waschküche. In den Dampfschwaden machte er eine ganze Anzahl kräftiger weiblicher Wesen aus, die in großen Töpfen und Zubern voller heißem Seifenwasser rührten. Beziehungsweise bis eben gerührt hatten. Nun standen sie alle reglos da, zu Tode erschreckt von seinem plötzlichen, wilden, bewaffneten Erscheinen.
„Verzeihen Sie, meine Damen“, begann er in der Hoffnung, diese Anrede würde ihnen schmeicheln, doch er konnte sich durch das Gekreische kein Gehör verschaffen.
„Entschuldigung“, hob er erneut an, ein wenig lauter diesmal, und fand sich plötzlich konfrontiert mit einer robusten Matrone, die einen gigantischen hölzernen Wäscherührer wie eine Keule schwang.
„Raus!“ schrie sie und ließ ihre Waffe in seine Richtung sausen.
Gerade konnte er sich noch ducken. Er entging dem Strafgericht so knapp, daß er den Luftzug über seinem Kopf spürte. Die bayerische Amazone ließ ihm keine Zeit, sich zu erholen. Die Kelle schwang sofort zurück. Er wich aus, trat falsch auf, fiel und setzte sich in ausgesprochen schmachvoller Weise auf den Hosenboden. Beim Aufprall drückte er versehentlich ab.
Ein ohrenbetäubender Knall hallte durch den Raum. Von der Decke rieselte Kalk auf die Wäscherinnen und ihre Zuber.
Wenigstens hatte er keine der Frauen getroffen. Der Schuß war in die Decke gegangen.
Einen Moment lang war es still. In die Stille hinein hörte er seine eigene Stimme sagen: „Ah, verzeihen Sie, meine Damen ...“
Die Matrone mit der Wäschekeule stand drohend über ihm. Für eine Sekunde dachte er über die Schmach nach, wenn Leutnant Udolf von Görenczy vom Königlich Bayerischen Chevaulegers-Regiment ein unrühmliches Ende durch die überlegene Kampfkraft einer erzürnten Waschfrau fände. Von all den Peinlichkeiten, mit denen er seine Familie in den letzten Jahren belastet hatte, wäre dies jedenfalls die peinlichste.
Doch die Frau schien ihre Fassung wiederzuerlangen.
„Herr Schwalangscher“, schalt sie ihn mit einer Stimme, deren bayerische Klangfärbung sie krampfhaft zu unterdrücken suchte, was die Strafpredigt weniger eindrucksvoll machte, als das beabsichtigt war. „Raus itzt, und nehmen’s Ihr Gewehr mit.“
Eine weitere weibliche Stimme erklang etwas schüchterner, ja beinahe ehrfurchtsvoll hinter ihr: „Bittschön, Frau Aufwärterin, das ist kein Gewehr. Das ist eine fünfschüssige Robbins & Lawrence-Pepperbox-Selbstladepistole vom Kaliber .31 mit ringförmigen Abzug und gezogenem Lauf.“
Von Görenczy glotzte ungläubig das rundliche Mädchen an, das beinahe verträumt auf die Schußwaffe in seiner Hand sah.
„Du gehst zurück an dein’ Bottich. Keiner hat dich was gefragt. Hast du keine Arbeit? Päppabox, wo komm’ ma’ denn dahin? Schäm dich, Creszenz. Ein anständiges Mädel sollt’ so was nicht wissen.“
Die Matrone drehte ihm den Rücken zu, war sie doch völlig damit beschäftigt, die wohlinformierte junge Frau auszuschimpfen. Leise stand Udolf auf und schlich zur Tür.
„Sie hat aber recht“, murmelte er in den Raum und zog die Tür hinter sich zu.
Zwei Türen noch. Es war höchstwahrscheinlich viel zu spät, doch er mußte es probieren.
Vorsichtig öffnete er die nächste Tür, hielt dabei immer noch seine Waffe in der Hand, während er zugleich versuchte, sie irgendwie harmlos aussehen zu lassen. Es gelang ihm nicht.
Treppenstufen. Sie führten in einen dunklen Keller. Einige Handlaternen und Zündhölzer waren akkurat oben an der Stiege aufgereiht. Ein gepflegtes Hotel. Er zündete eine Laterne an und stieg hinab in die Dunkelheit. Er konnte sich schließlich nicht blind nach unten tasten, und schleichen war nun auch überflüssig. Mit der Laterne in der Hand war er nur allzu sichtbar. Er würde ein gutes Ziel abgeben, wenn jetzt wirklich jemand aus der Dunkelheit auf ihn feuern wollte. Doch es nützte nichts, das Leben eines Chevaulegers war gefährlich. Waschfrauen konnten überall lauern.
Ein großer Keller öffnete sich vor ihm. Er fragte sich, ob dies der Raum war, in dem Delacroix in der vergangenen Nacht die Kreatur gesehen hatte. Dann verwarf er den Gedanken. Delacroix wäre mit Sicherheit der Verwesungsgeruch nicht entgangen, und auch die Leiche, die mitten auf dem Boden lag und mit glasigen Augen an die Decke starrte, konnte man nur schwerlich übersehen.
Von Görenczy kniete sich hin und legte Laterne und Pistole neben dem toten Körper ab. Der Mann war kalt. Er war kein Fachmann, aber frisch war die Leiche nicht. Mehr als einen Tag alt, schätzte er, suchte nach einer Verletzung und wünschte, er hätte Handschuhe dabei. Alte Leichname anzufassen war kein Spaß. Doch nach seinem Versagen bei der Verfolgung des Arztes wollte er nicht ohne irgendwelche Informationen zurückkehren.
Er fand, was er suchte: eine weiche, eingedrückte Stelle am Schädel des Toten. Der Knochen war gebrochen. Die Haut war nicht angekratzt. Dafür war er dankbar. Was er eigentlich erwartet hatte, war ein kreisrundes, schwarzes Loch, das irgendwo in den Mann hineinführte. Natürlich mochte er das immer noch finden, wenn er die Leiche komplett untersuchte. Vielleicht hatte der Mann sich ja beim Sturz den Kopf eingeschlagen, als das Wesen ihn verließ? Er mochte gar nicht darüber nachdenken.
Er fühlte sich ein wenig unwohl und schalt sich wegen seines Mangels an Kaltblütigkeit. Er war kein Feigling. Er war stolz darauf, genauso zu sein, wie Chevaulegers sein sollten, mannbar und waghalsig. Doch dieser Tote machte ihm zu schaffen.
Er kramte ein Taschentuch hervor und wischte sich die Hände ab. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Er griff nach seiner Pistole, erreichte sie aber nicht mehr. Etwas knallte gegen seinen Kopf. Schwärze machte sich in seinem Denken breit, geschmückt mit hellen Sternen, die er voller Erstaunen sah, während sein Bewußtsein schwand. Sein letzter Gedanke war, daß er genau auf die Leiche fiel und daß seine Kameraden ihn nun genauso mausetot finden würden. Erschlagen mit einem stumpfen Gegenstand.