Kapitel 13
Delacroix’ Gedanken wirbelten durcheinander. Er hatte Schmerzen und war zutiefst verärgert. Er fühlte sich schwach und hilflos, und das machte ihn rasend. Er verabscheute es, anderen etwas schuldig zu sein. Er haßte es, sich auf die Hilfe anderer verlassen zu müssen. Hauptsächlich aber konnte er den Gedanken nicht ertragen, daß ihn das unnatürliche Monster berührt hatte – und schon gar nicht konnte er sich damit abfinden zu verlieren.
Diese Schlacht hatte er haushoch verloren, und mit ihr die Gewißheit, daß sie die Kreatur überhaupt würden fangen können. Sie waren ihr nicht gewachsen, soviel war klar. Vonderbrück, der immerhin ihr Berater und Spezialist war, was alles Okkulte anging, hatte die Kreatur unterschätzt. Die Gruppe hatte sich auf seine Einschätzung verlassen. Eine Eisenschatulle hatte er ihnen gegeben und ihnen erklärt, sie müßten das Schattenwesen nur finden, solange es noch klein war, es dann in das Kästchen bekommen und den Deckel zuriegeln. Ganz einfach. Sei das Monster erst einmal gefangen, so Vonderbrücks Worte, würde er schon einen Weg finden, den Zauber zu brechen, der das Manuskript dem Zugriff entzog. Dann würden sie es finden.
Das Schattenwesen fangen, solange es noch klein war. Wie sollte man etwas fangen, das einem wie eine Lanze aus Eis in den Leib schießen und einem aus dem eigenen Schlund entgegenschreien konnte? Er schluckte, atmete tief durch. Das Letzte, was er wollte, war, sich vor von Görenczys Augen zu übergeben. Er war wild entschlossen, dem jüngeren Mann nichts von seinen Zweifeln und seiner Besorgtheit zu zeigen. Von Orven mochte sie verstehen, doch von Görenczy würde sie für Schwäche halten.
Delacroix haßte Schwäche. Er war ein Kämpfer. Nichts brachte ihn aus der Ruhe, doch dieses Erlebnis hatte ihn tief getroffen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Er spürte eine Bewegung neben sich und öffnete die Augen. Es war Udolf.
„Geht es Ihnen gut?“ fragte der. „Möchten Sie noch einen Zigarillo? Oder ein Glas Wasser?“
„Wasser wäre gut. Danke.“ Er nahm das Glas entgegen und konzentrierte sich darauf, ruhig und sicher zuzugreifen. „Wir müssen unsere Taktik überdenken“, sagte er dann nüchtern. „Ich habe Zweifel, ob wir dieses Stehaufmännchen niederzwingen können. Vonderbrück scheint mir dessen strategische Möglichkeiten unterschätzt zu haben. Möglicherweise müssen wir Verstärkung anfordern.“
Von Görenczy nickte und zündete sich noch einen Zigarillo an.
„Habe ich auch schon gedacht. Wir werden vielleicht nie nah genug dran sein, wenn es noch so klein ist, daß es in die verdammte Schachtel paßt, und in voller Größe ist es ein ziemlich ekelhaftes Ding. Ich habe noch nie von einem mythischen Wesen gehört, das ... so was ... kann.“
Es klopfte.
„Herein!“ rief Udolf, ehe Delacroix ihn noch auffordern konnte, den Besucher zuerst einmal zu überprüfen. Vielleicht war es besser so. Wer wußte schon, als was der Chevauleger seine Vorsicht verstanden hätte.
Ein Herr in dunklem Anzug trat ein, nahm seinen Zylinderhut ab und verbeugte sich. Er trug eine Arzttasche, die mit einer Messingschließe verschlossen war. Er sah für einen Mediziner ausnehmend jung aus, schmalgliedrig und blond. Sein dichtes, lockiges Haar fiel ihm nach amerikanischer Manier fast bis auf die Schultern. Sein hoher Kragen zwang ihn zu einer steifen Haltung, die sein liebenswürdiges, offenes Gesicht allerdings Lügen strafte.
„Meine Herren“, sagte er und schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln, „guten Morgen. Ich habe gehört, es hat einen Unfall gegeben? Ich bin Dr. Steinberg. Die Hotelleitung hat mich konsultiert. Meine Praxis liegt nur ein paar Häuser weiter. Lassen Sie mal sehen.“
Er stellte seine Tasche ab und öffnete sie mit einem lauten Klacken der Schließe, während von Görenczy sich selbst und Delacroix vorstellte. Dann wandte er sich seinem Patienten zu.
„Also“, fragte er und lächelte höflich, „was ist passiert? Wenn ich mir diesen Raum so ansehe, schließe ich daraus, daß ich Sie nicht mehr zur Ader lassen muß.“
Ein Grinsen glitt über Delacroix’ Züge.
„Sollten Sie mich bluten lassen wollen, Herr Doktor“, antwortete er, „werden Sie feststellen, daß ich immer noch ein würdiger Gegner bin.“ Er gestikulierte mit der rechten Hand. „Irgendein gottverdammtes schlängelndes Fey-Monster ist mir hier in den Arm geschossen. Ich habe es aufgehalten, indem ich mir meinen Kalteisendolch in die Schulter gestochen habe.“
Der Mediziner schnalzte mit der Zunge und sah ausgesprochen fasziniert aus.
„Das sollte es wirklich schnell aufgehalten haben. Eine sehr klarsichtige Reaktion, wenn Sie mir das Lob erlauben.“ Er verbeugte sich noch einmal und schälte den Verband von Delacroix’ linkem Unterarm, um die Eintrittswunde zu studieren.
Auch Delacroix tat das zum ersten Mal. Kurz unterhalb der Armbeuge befand sich in seinem Arm ein kreisrundes Loch mit einem schwarzen Rand. Es blutete nicht. Doch es sah ebenso ekelhaft wie bedrohlich aus. Er schluckte, biß sich mit den unteren Zähnen auf die Oberlippe.
„Ach du lieber Himmel“, bemerkte der Mediziner und klang trotz seines konstanten Lächelns ein wenig besorgt. „Können Sie mir die Kreatur beschreiben?“
Von Görenczy übernahm.
„Es materialisierte sich als Schatten, verteilte sich über eine weite Fläche und wurde unsichtbar. Dann zog es sich zu einer Schlangenform zusammen. Es stieß wie ein Speer in ... auf ...“ Die Worte gingen ihm aus. „Wir wissen nicht, was es sein könnte. Wir jagen dieses Wesen bereits seit gestern. Bislang ging es uns aus dem Wege. Verschwand einfach irgendwo in einer Wand, und zwischen einem Auftauchen und dem nächsten lagen immer ein paar Stunden.“
Der junge Mediziner nickte.
„Ich habe schon bemerkt, daß ein Bann auf dem Hotel liegt. Jemand versucht, etwas drinnen zu halten. Ich habe mich ein wenig mit den arkanen Wissenschaften beschäftigt, wissen Sie.“
„Oh, gut.“ Von Görenczy blies eine Tabakwolke aus. „Wir haben eben darüber geredet, ob wir einen weiteren Spezialisten zu Rate ziehen sollten, als Sie klopften. So ein Zufall.“
„Ein ganz außergewöhnlicher Zufall“, bemerkte Delacroix trocken. Ein Fünkchen Argwohn begann in seinen Gedanken zu glühen. Er hätte zu gern gewußt, was von dem jungen Mann zu halten war, der so rasch an seiner Bettstatt erschienen war.
Steinberg holte nun ein in Holz eingefaßtes Vergrößerungsglas aus seiner Tasche und inspizierte die Eintrittswunde sorgfältig. Die Verletzung in der Schulter hatte er bislang noch nicht angesehen. Delacroix fand das seltsam.
„Das ist ...“, der junge Mann zögerte einen Moment, „wirklich interessant. Ausnehmend interessant. Bedauerlicherweise kann ich Sie nicht mit in die Universität nehmen, um Sie dort den medizinischen Koryphäen mit ihrem rein materialistischen Denken vorzuführen. Sie würden ein ziemliches Aufsehen erregen. Aber“, er bohrte mit dem Daumen an der Wunde, was Delacroix ein erschrecktes Aufbrüllen entlockte, „wir sollten lieber etwas dagegen tun.“
Er wandte sich wieder seiner Tasche zu und nestelte darin herum, während er weiter fröhlich vor sich hin redete, als sei er Gast bei einem informellen Essen.
„Wissen Sie, Mr. Delacroix“, sagte er und zog ein Paar dicker Lederhandschuhe an, „Sie hatten wirklich Glück. Geradezu unverschämtes Glück. Das Geschöpf, das in Ihren Arm eingedrungen ist, ist äußerst selten. Über alle Maßen selten und recht gefährlich. Es ist so extrem selten, daß die arkanen Wissenschaften und viele ihrer Spezialisten für die Fey meist nicht einmal zugeben, daß es überhaupt existiert. Ich habe eine Abhandlung darüber geschrieben. Man hat sie sehr kontrovers diskutiert. Allerdings hätte ich nie zu hoffen gewagt, einem tatsächlichen Fall zu begegnen. Quasi actualiter.“
„Ja, ich war schon immer vom Glück verfolgt“, antwortete Delacroix bissig. „Ich bin ein großer Verehrer des Raren und Außergewöhnlichen.“
Der junge Arzt lachte und wirkte dabei noch jünger.
„Freut mich, daß Sie Ihren Sinn für Humor nicht verloren haben. Ich werde Ihnen wohl etwas weh tun müssen.“
Er holte ein Fläschchen Spiritus und einen kleinen Brenner aus der Tasche und entzündete ihn. Einem dickwandigen Holzkasten entnahm er ein Gerät, das wie ein großer Schraubenzieher mit einem langen Porzellangriff aussah und in einem grauen Metallstempel endete.
„Die Kreatur, der Sie auf so unerfreuliche Weise nahegekommen sind, ist – wenn ich mich nicht sehr irre – ein Wiatruschod, ein Sí-Ungeheuer, von dem die Legende berichtet, es lebe in der östlichen russischen Tundra. Genau weiß man es nicht. Es kann in einen menschlichen Körper eindringen und diesen dann übernehmen. Es ist ein Fabelwesen, und da es kaum Aufzeichnungen darüber gibt, gilt es als Märchen – aber das tun sie ja alle. Ich weiß nicht mal, ob mehr als dieses eine Exemplar existiert. Wenn es übrigens erst einmal einen menschlichen Körper übernommen hat, kann es darin eine Weile leben, so lange, wie er noch funktioniert, also noch nicht zu weit verwest ist. Sehen Sie, die ursprünglichen Besitzer der Körper überleben den Befall meist nicht lange. Gott sei Dank kann das Wesen nicht einfach jeden Leib übernehmen.“
Er hielt das graue Metallstück an seinem ausgesteckten Arm in die Flamme und wirkte dabei, als habe er Angst, sich zu verbrennen. „Sie fragen sich vielleicht, warum es überhaupt Menschengestalt annehmen sollte, wo es doch als Schatten viel mehr Bewegungsfreiheit hat und selbst durch Mauern dringen kann. Aber sehen Sie, wenn es erst einmal in einem menschlichen Leib ist, kann man es nicht mehr als Sí erkennen. Es könnte dann seelenruhig – wenn ich mal so sagen darf – hier aus dem Gebäude spazieren, ganz egal, was für ein Bann darauf liegt. Niemand würde etwas merken.“
Er gab Delacroix ein Stück Holz.
„Mr. Delacroix, vielleicht möchten Sie hier draufbeißen“, sagte er und preßte ohne weitere Vorwarnung das glühende Ende seines Stabes auf die Blessur.
Der Schmerz kam so plötzlich, daß Delacroix nicht einmal mehr Zeit zum Aufschreien hatte. Statt dessen rang er nach Atem und begann zu fluchen.
„Gut so“, sagte Steinberg mit einem glücklichen Lächeln. „Viel besser. Sehen sie, ich mußte die Rückstände daran hindern, in Ihren Leib einzudringen. Die arkanen Wissenschaften sind sich uneins über deren Wirkung, doch sie ist auf keinen Fall angenehm, weshalb man die Wunde behandeln muß. Sonst sterben Sie womöglich an dem Gift. Oder werden wahnsinnig, je nach Auslegung. Obwohl es auch Spezialisten gibt, die behaupten, es mache einen hellsichtig und danach wahnsinnig. Das hätten wir jetzt empirisch untersuchen können, wo wir Sie schon einmal als Musterexemplar haben. Allerdings hätten Sie das wohl nicht gemocht, und so sehr ich auch die Wissenschaften liebe, ich bin doch in erster Linie Arzt und dem hippokratischen Eid verpflichtet.“
Er seufzte, räumte sein bizarres Werkzeug vorsichtig wieder in das Holzkästchen und verschloß es.
„Dann wollen wir mal die andere Verletzung ansehen.“ Er schnitt die provisorische Bandage auf. „Sauberer Schnitt – und gut versorgt, wenn ich so sagen darf. Ihre Freunde haben das ausgezeichnet gemacht.“ Er tupfte etwas Salbe auf die Blessur und verband sie neu. „Das wird schnell heilen. Ich lasse Ihnen ein Stärkungselixier da. Trinken Sie viel und gönnen Sie sich Ruhe. Gefährlich ist es nicht. Allerdings sollten Sie die Verletzungen später noch einmal nachsehen lassen, damit man den Heilungsprozeß überprüfen kann. Wenn Sie gestatten, werde ich Sie noch einmal aufsuchen, solange Sie in München sind.“
Er packte seine Tasche zusammen und ließ nur ein Fläschchen draußen stehen. Dann nahm er einen Zettel und schrieb ein paar Wörter darauf.
„Wenn Sie das dem Hotelportier geben, wird er Ihnen eine Brandsalbe vom Apotheker holen lassen. Die ist für Ihre Armwunde – und versuchen Sie auf alle Fälle ein wenig auszuspannen. Ich schlage vor, Sie fixieren den Arm mit einer Schlinge, damit er sich nicht allzusehr bewegen kann.“
Er bedachte die beiden Offiziere mit einem charmanten Lächeln.
„Ich an Ihrer Stelle würde mir zweimal überlegen, ob ich dieses Lebewesen wirklich jagen will. Doch ich begreife natürlich den Reiz, den so ein seltenes Wesen ausübt. Obgleich es sein kann, daß man es gar nicht fangen kann. Dazu gibt es in Fachkreisen verschiedenste Theorien.“
„Tatsächlich“, entgegnete Delacroix trocken und stellte fest, daß es ihm auf einmal viel besser ging, obgleich der Schmerz in Arm und Schulter noch nicht abgeklungen war. Er war dankbar, denn er wußte, daß er nicht viel Zeit haben würde, sich zu erholen. Zeit war ein Luxus, den sie im Moment nicht genießen konnten.
„Ja.“ Wieder lächelte Steinberg sie fröhlich an. „Eine Meinung ist, man könne es gar nicht fangen. Andere gehen davon aus, man könne es in einer Kalteisenschatulle fangen, während es sich noch formt. Ich denke, das könnte zutreffen. Allerdings müßte man es fangen, bevor es gefährlich wird. Dazu müßte man genau wissen, wo es das nächste Mal auftaucht.“
„Unser Magier scheint eine ganz gute Einschätzung zu haben, wann und wo es jeweils materialisiert. Zumindest ungefähr“, sagte von Görenczy, ehe Delacroix ihn davon abhalten konnte.
„Ach ja? Interessant. Ich würde den Herrn wirklich gerne kennenlernen. Sein Fachwissen ist bemerkenswert.“
Er wandte sich zum Gehen.
„Noch eine Frage bitte“, hielt ihn von Görenczy zurück. „Wenn dieses Wiatra-dings einfach in einen menschlichen Körper fahren und das Hotel verlassen kann, warum ist es dann nicht schon weg?“
Der Arzt strahlte.
„Warum? Gute Frage, Herr Leutnant! Sehen Sie, es kann nicht jeden übernehmen. Es braucht jemanden, der schon einmal ein sehr extremes magisches Erlebnis hatte. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Sir“, er verneigte sich vor Delacroix, „doch ich nehme an, daß dies nicht Ihre erste große Konfrontation mit Magie war. Das Arkane muß Sie schon einmal sehr intensiv berührt haben. Das macht Sie zum idealen Opfer. Sie und jeden mit ähnlichen Erfahrungen. Man kann davon ausgehen, daß solche Erfahrungen überaus selten sind, deshalb sind die meisten Menschen in diesem Hotel wohl nicht in Gefahr. Sie dagegen schon. Ihr Magier wohl auch, obgleich ich annehme, daß er weiß, wie er sich zu schützen hat, wenn er so gut ist, wie Sie sagen. Dennoch sollten Sie ihn vielleicht darauf aufmerksam machen. Vielleicht weiß er ja nicht, womit er es zu tun hat.“
„Was ist mit Ihnen? Sind Sie in Gefahr?“ erkundigte sich von Görenczy.
„Kaum. Meine Kenntnisse des Arkanen sind rein theoretischer Natur. Ich übe keine magischen Künste aus. Ich bin Gelehrter, kein Magier.“
Er lächelte erneut freundlich.
„Ich sende meine Rechnung an die Rezeption. Gute Besserung und ... Waidmannsheil! Guten Tag, die Herren.“
Er verließ den Raum und schloß die Tür hinter sich.
Von Görenczy drückte seinen Zigarillo aus.
„Da soll mich doch der Teufel holen ...“, murmelte er und zwirbelte seinen Schnurrbart.
„Langfristig durchaus möglich“, unterbrach Delacroix und setzte sich vorsichtig auf. „Folgen Sie ihm. Ich möchte zu gern wissen, ob er das Hotel verlassen kann, während der Bann noch darauf liegt. Aber lassen Sie sich nicht erwischen!“
„Ich bin doch kein Idiot!“ erwiderte der Bayer und überprüfte seine Pistole.