Kapitel 22
Colonel Delacroix hatte gerade seinen lebensrettenden Dolch gesäubert und dessen rasiermesserscharfe, schmale Klinge inspiziert, als es an der Türe klopfte. Rasch ließ er das Messer in der Armschlinge verschwinden.
„Herein!“
Die Tür öffnete sich, und ein drahtiger Herr in einer schwarzen Soutane betrat sein Zimmer. Er segnete es mit einer raschen Geste, die er dann großzügig auf den Colonel ausdehnte.
Die Gesichtszüge des Offiziers wurden mit einem Schlag hart und kalt.
„Padre Emanuele“, sagte er und fuhr auf Italienisch fort: „Natürlich. Ich hätte wissen müssen, daß Sie hier auftauchen würden.“
„Das hättest du in der Tat“, entgegnete der Priester, „wenn du alles bedacht hättest. Die Frage ist, hast du alles bedacht?“
Der Diener Gottes ließ sich auf einem der Sessel nieder, ohne eine Einladung abzuwarten.
„Bitte nehmen Sie doch Platz“, kommentierte Delacroix beißend, „wenn Sie denn glauben, es lohnt sich für die kurze Zeit Ihres Aufenthaltes hier. Die sehr kurze Zeit.“
„Ah, Felipe ...“
„Nennen Sie mich nicht so!“ unterbrach ihn der Colonel und stand plötzlich mit einem einzigen wütenden Schritt vor dem Priester. „So heiße ich nicht.“
„Nein. Natürlich nicht. Wir haben dich ja Delacroix getauft. Ich erinnere mich. Getauft, nachdem wir dir dein Leben und deine unsterbliche Seele gerettet hatten. Ich dachte, das wäre dir vielleicht entfallen, nachdem du der Kirche den Rücken gekehrt hast.“
Delacroix blickte ihn erbost an.
„So wie Sie das sagen, klingt es, als sei ich Mönch oder Priester in Ihrem Orden gewesen und hätte mein Gelübde gebrochen. Ich meine mich jedoch zu erinnern, daß ich gerade mal ein vierzehnjähriger Junge war, der sich dafür entschied, mit seinem Adoptivvater mitzugehen.“
„Oh ja. Dieser plötzliche, unerwartete Adoptivvater. Nicht einmal ein Katholik. Ein Häretiker.“
„Anglikaner.“
„Was ist mit dir? Bist du jetzt auch ,Anglikaner‘?“
Delacroix fummelte mühsam mit einer Hand einen Zigarillo aus seinem Silberetui und zündete ihn an.
„Natürlich. Das wissen Sie doch. Was sonst sollte ich als britischer Offizier sein?“
Der Diener Gottes lachte bitter auf.
„Ja, was sonst? In einem Land, das Katholiken als Menschen zweiter Klasse behandelt, hätte es dir natürlich die Karriere verbaut, wenn du dem wahren Glauben treu geblieben wärst. Einem Glauben, den dir nahezubringen wir mit sehr viel Sorgfalt versucht haben.“
„Ja“, antwortete Delacroix, „mit sehr viel Sorgfalt und sehr nahe. Ich trage noch so manche Narbe davon. Fast alle, um genau zu sein. Jedoch“, fuhr er mit beißendem Spott fort, „sehe ich natürlich gerne ein, daß die kurze Zeit, die Ihnen zur Verfügung stand, mich zu einem gehorsamen Sohn der Kirche zu machen, Stock und Peitsche unerläßlich machten, um mir den wahren Glauben tief genug unter die Haut zu treiben und in den Kopf zu prügeln.“
„Schläge bilden den Charakter“, antwortete der Priester. „Dich hatte eine wirklich außergewöhnlich böse Macht berührt. Es war unsere Aufgabe sicherzustellen, daß nichts von diesem Bösen an und in dir zurückblieb, und du mußt doch zugeben, daß du in den wenigen Jahren wirklich viel gelernt hast, Lesen, Schreiben, Latein, Französisch, Englisch, Geschichte, Strategie, Kriegskunst und Moral – die fromme Denkungsart. Ich gebe allerdings zu, daß wir im letzten Unterrichtsfach nicht ganz so erfolgreich waren.“
„Sie vergessen da etwas“, fügte Delacroix hinzu, „Sie haben mir auch beigebracht, wie man spioniert, Menschen verrät, Schmerzen zufügt, glaubhaft lügt und betrügt ...“
Der Pater unterbrach ihn.
„Aber nein, mein Sohn“, sagte er und lächelte in das erboste Gesicht seines Gegenübers. „Das mußten wir dich nicht lehren. All diese Kenntnisse hattest du schon. Deine frühe Jugend war schließlich von beklagenswerter Kriminalität bestimmt. Wir wollten nur dein spezielles Wissen für einen guten Zweck einsetzen, die Mittel gleichermaßen heiligen. Du wärst ein Agent Christi gewesen. Ein Spion Gottes.“
„Auf diese besondere Ehre verzichte ich.“
„Das ist schade, und ich hoffe, Gott wird es dir vergeben. Insbesondere, da deine derzeitige Karriere nicht anders verläuft. Du bist britischer Spion.“
Der Priester lächelte giftig.
„Ich bin britischer Offizier im diplomatischen Dienst. Nicht mehr.“
„Keine Wortgefechte, mein Sohn. Es gibt keine Disputatio, bei der ich dich nicht schlagen würde.“
Delacroix atmete tief durch. Er war todmüde und gereizt.
„Was soll das, Padre?“ fragte er. „Sie sind doch nicht gekommen, um über die Vergangenheit zu plauschen. Was wollen Sie?“
Der Priester lehnte sich vor.
„Das Manuskript. Ich will das Manuskript. Es muß zerstört werden, und nur wir können dafür sorgen, daß das in angemessener, sicherer Form geschieht.“
„Ich habe es nicht. Ich weiß auch nicht, wo es ist, und sollte ich es herausfinden, werden Sie die allerletzte Person sein, der ich es sagen würde. Ihre Clique ist so machtbesessen, daß ich Sie ganz und gar nicht für die passenden Hüter eines solchen Gegenstandes halte.“
„Treib keine Spielchen mit uns. Du weißt, wir sind sehr gründlich und äußerst erfolgreich. Du hast guten Grund, uns dafür dankbar zu sein. Du beschwerst dich, weil wir bei deiner Erziehung ein wenig hart zu dir waren? Aber du warst nicht mehr der kleine Felipe. Dieses Teufelswesen hat dich nicht nur berührt, fast hätte es dich gänzlich übernommen. Du hast noch seine Augen – und wahrscheinlich seinen Körperbau, denn – mein lieber Sohn – es gibt wahrlich nicht allzu viele sizilianische Straßenbälger, die fast zwei Meter groß werden und muskelbepackt sind wie ein Ochse.“
„Ein Stier, Padre, ein Stier!“
„Untersteh dich, darüber Witze zu reißen!“ fauchte der Priester.
Delacroix zwang sich, nicht darauf einzugehen. Jede weitere Diskussion war sinnlos und viel zu ermüdend. Er mußte seine Kräfte für die Jagd aufsparen.
„Padre, sagen Sie, was zu sagen Sie gekommen sind, und dann gehen Sie!“ befahl er barsch.
Der Priester erhob sich.
„Ich biete dir Hilfe an. Du hast keine Chance, das Manuskript ohne unser Geheimwissen zu finden. Du weißt noch nicht einmal, womit du es zu tun hast. Du rennst durch das Hotel, hin und her und rauf und runter, ohne klare Strategie oder einen Plan. Ja. Natürlich wissen wir das. Ohne uns kannst du nur scheitern. Oder sterben. Die Kreatur, die ihr so erfolglos jagt, ist extrem gefährlich. Für dich noch mehr als für alle anderen.“
Delacroix lächelte. Der Priester schien nicht zu wissen, daß er diese widerliche Erfahrung bereits gemacht hatte. Es geschah nicht oft, daß Pater Emanuele etwas nicht wußte.
„Ihre Hilfe, so schätze ich mal, kostet uns dann das Manuskript?“
„Sicher.“
„Was hätten wir davon? Was ist für uns drin, wenn wir – für Sie – das Manuskript jagen?“
„Euer Leben. Ihr erhaltet von uns die Aussicht, dies zu überleben. Das sollte doch etwas wert sein, oder nicht?“
„Eventuell.“ Delacroix benötigte seine gesamte Willenskraft, um sein Lächeln aufrecht zu erhalten. „Doch vielleicht kommen wir auch ohne Sie ganz gut zurecht.“
„Schiebe die Entscheidung nicht auf. Ein zweites Mal hebe ich dich nicht vom Opferstein – und jetzt knie nieder!“
Zu seinem großen Mißbehagen gehorchten Delacroix’ Beine dieser Aufforderung, ehe er es verhindern konnte. Er kniete. Er verfluchte sich für die automatische Reaktion, doch er kniete.
Der Pater nahm ein dunkles Eisenkruzifix aus der Tasche und drückte es auf Delacroix’ Stirn. Der Colonel wartete auf einen plötzlichen Schmerz, doch es kam keiner.
„Du bist rein“, sagte der Priester ein wenig überrascht. „Denk darüber nach.“
Dann segnete er seinen einstigen Lehrling und wandte sich zur Tür. „Sei vorsichtig, mein Sohn!“ sagte er.
„Äußerst vorsichtig“, antwortete Delacroix, während er wieder aufstand. „Ganz besonders vorsichtig.“
„Eins noch“, sagte der Padre und drehte sich an der Tür noch einmal um. „Warum gebrauchst du eigentlich nicht deinen Adoptivnamen? Delacroix – man könnte fast meinen, der Name, auf den wir dich getauft haben, bedeute dir doch etwas.“
„Er bedeutet, daß ich nicht zulassen werde, daß ich mich noch einmal für die Zwecke eines anderen opfern lasse. Niemals. Von absolut niemanden.“
Die Tür schloß sich hinter dem Priester.