Kapitel 54

Sie verschnürten den Klosterbruder wie ein Paket und deponierten ihn in einem der leeren Zimmer. Delacroix verschloß die Tür mit seinem Passepartout. Ihm war klar, daß das den Mann nur auf Zeit festsetzte. Er war nicht allein. Da gab es noch den Pater, und Delacroix war sehr sicher, daß auch ein Meister des Arkanen mit im Boot war. Wenn man die Macht des Manuskriptes bedachte, war zu erwarten, daß die Bruderschaft ihre besten Leute geschickt hatte.

Er war aufgewühlt. Es gab nichts, womit er einer magischen Attacke begegnen konnte. Er hatte nicht einmal mehr sein Amulett. Kurz sinnierte er, ob es Cérise gegen ihren rätselhaften Bewunderer geholfen haben mochte. Der Mann, der gekommen war, ihr das Leben zu retten. Der Mann, der dann aber Corrisande Jarrencourt das Leben gerettet hatte. Wäre er nicht gewesen, wäre die junge Frau durch seine Hand gestorben.

Vielleicht wäre es besser so gewesen. Er sah in Gedanken wieder ihren Blick, als er mit dem Dolch auf ihr Herz gezielt hatte. Dieser Blick war voller absurden Vertrauens gewesen. Sie wäre gestorben, er hätte sie betrauert, und von Orven hätte versucht, ihn bei einem Duell zu erschießen.

Wer wußte schon, was dann geschehen wäre? Ihr Ableben hätte den Spuk nicht davon abgehalten, weiter zu erscheinen. Es hätte Delacroix nur davor bewahrt, wütend auf eine Situation zu sein, die er nicht vollends verstand. Wütend, daß er sich komplett zum Narren gemacht hatte, auch wenn niemand außer ihm selbst das wußte.

Er erinnerte sich an die vergangene Nacht, als er das Mädchen geschüttelt hatte, bis es aus seiner Ohnmacht erwachte. Jetzt wollte er die junge Frau wieder schütteln, bis das letzte Quentchen Wahrheit aus ihr herauspurzelte. Sie war wie eine hübsche, schillernde Muschel, fest eingeschlossen in einer Muschelschale voller unergründlicher Geheimnisse, und man wußte nicht so recht, ob man eine Perle finden würde oder nur verfaulten, stinkenden Fisch.

Trotzdem hatte sie ihm leid getan. Als sie mit fliegenden, zitternden Händen die Tür nicht aufbekam, hatte sie ihm leid getan. Also hatte er den Tod Vonderbrücks auf sich genommen. Er war Soldat in offizieller Mission. Es würde Fragen geben, aber keine Schwierigkeiten. Bei ihr wäre das anders gewesen.

Doch dann hätte die Polizei die Möglichkeit gehabt, einiges über sie in Erfahrung zu bringen; all die Dinge, die er gerne gewußt hätte. Die Obrigkeit hatte ihre Mittel und Wege.

Sie verließen Udolfs Zimmer und begaben sich zu Askos. Die Eisenschachtel nahmen sie mit. In diesem Zimmer konnten sie wenigstens die Tür schließen.

„Sehen Sie!“ Von Orven deutete auf den Boden vor von Görenczys Tür. „Das ist Blut. Es muß doch jemandem gehören. Der Mönch war nicht verletzt. Udolf muß jemanden getroffen haben.“

Es war nicht viel Blut, aber doch genug, daß man annehmen konnte, daß seinen Besitzer entweder die Kugel des Chevaulegers oder ein Türsplitter getroffen hatte.

Sie traten ein. Von Orven setzte das Kästchen auf dem Tisch ab, und von Görenczy stand davor und sah es wütend an. Er hielt immer noch Delacroix’ Pistole in der Hand.

„Es ruft dauernd nach mir“, klagte er. „Ich habe es schon beinahe aufgemacht. Es kommt in meine Gedanken und sagt mir, ich solle die Schachtel aufmachen.“

„Dann ist es noch gefährlicher, als wir angenommen haben“, antwortete Delacroix. „Wenn es Menschen durch eine Schicht Kalteisen hindurch beeinflussen kann, muß es sehr mächtig sein. Wir müssen gut aufpassen, und keiner von uns sollte dabei allein sein. Es ist zu riskant.“

Sie setzten sich. Delacroix nahm eine kleine Waffe aus der Innentasche.

„Ich glaube, die gehört Ihnen“, sagte er und hielt sie Udolf hin. „Unser toter Magier hatte sie.“

„Oh! Meine Pepperbox“, freute sich Udolf und klang, als hätte er einen guten alten Freund wiedergetroffen. „Habe nicht geglaubt, daß ich die noch einmal wiedersehe. Wieso hatte er sie – und wieso ist er tot?“

„Ich fürchte, wir mußten ihn eliminieren. Er war ein Gauner und hinter dem Manuskript her. Er hat uns magisch angegriffen. Da hatten wir keine andere Wahl.“

„Großer Gott!“ rief von Görenczy. „Was wollte er mit dem Manuskript?“

„Die Welt beherrschen, soweit ich gehört habe“, entgegnete Asko. „Der Traum aller megalomanen Strategen sämtlicher Zeitalter. Nun. Jetzt hat er den letzten Rubikon überschritten.“

„Wer war denn der Tote im Keller? Weiß man das? Wenn Vonderbrück meine Pistole hatte, hat er mich wahrscheinlich niedergeschlagen.“

„Höchstwahrscheinlich“, sagte Delacroix und lehnte sich zurück. Er war müde und erschöpft. „Der Tote war wohl der echte, von der Regierung geschickte Magier. Wir müssen Vonderbrück der Polizei übergeben. Aber das kann warten. Er läuft uns nicht mehr weg.“

Er wußte, er sollte ihnen alles erzählen, was der Mann gesagt hatte. Doch er tat es nicht. Er war sich nicht einmal mehr sicher, ob er sich noch Wort für Wort an die wirren Details erinnern konnte, die ihm Vonderbrück zusammen mit seiner Magie und seiner Verachtung entgegengeschleudert hatte. Königin setzt König matt. Seine allerniedrigste Majestät, in dessen Umgebung hübsche, junge Frauen eine leicht aufzufindende Ware darstellten. Prinzessinnen, deren Gunst käuflich war. Die Interpretation der wirren Aussagen deutete nur in eine Richtung.

Egal jetzt. Er öffnete seinen Rock und versuchte, ein weiteres Taschentuch über seine Schulterwunde zu schieben.

Von Orven beobachtete ihn.

„Wir sollten Ihren Verband erneuern“, sagte er sachlich und holte ein sauberes Handtuch von seiner Waschkommode.

„Sie sind sehr freundlich“, bemerkte Delacroix mit einem trockenen Lächeln, „wenn man bedenkt, daß Sie noch vor gar nicht langer Zeit eine Kugel in mich expedieren wollten. Darf ich annehmen, daß Sie von diesem Vorhaben Abstand genommen haben?“

Asko errötete.

„Miss Jarrencourt hat mich über meinen Fehler aufgeklärt. Ich habe Ihre Verhaltensweise mißdeutet. Ich entschuldige mich, Sir.“

Delacroix’ Lächeln wurde spöttisch.

„Wollte sie mich vor Ihnen retten? Oder eher umgekehrt?“

Die beiden Männer starrten einander böse an. Dann senkte Delacroix den Blick.

„Tut mir leid, Herr Leutnant“, sagte er. „Ich sollte Sie nicht angreifen. Ich bin müde, und wenn ich müde bin, neige ich dazu, giftig zu werden. Ignorieren Sie mich. Wir haben Wichtigeres zu diskutieren.“

„Das ist wohl so“, antwortete Asko steif. „Seien wir dankbar, daß Sie Miss Jarrencourt nicht getötet haben. Ziehen Sie den Rock aus. Ich will mir die Schulter ansehen.“

Delacroix mochte es nicht, sich von dem Jüngeren herumkommandieren zu lassen, doch er gehorchte ohne Widerwort.

„Ich frage mich, was aus diesem Dr. Steinberg geworden ist“, warf Udolf ein. „Er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.“

„Vielleicht ist er einfach in seine Praxis zurückgegangen. Aber er kann auch noch hiersein. Merkwürdig, was hier alles verschwindet. Leichname, Pistolen, Manuskripte, Reputationen. Warum also nicht Mediziner?“ Delacroix klang bitter.

„Stillhalten!“ befahl Asko und nahm den alten Verband ab. Er besah sich die Wunde, und Delacroix blickte auch auf seine Schulter.

Es sah nicht schlimm aus. An einer Stelle, dort, wo Vonderbrücks Angriff ihn getroffen hatte, hatte es geblutet, doch es sah aus, als heile es gut.

„Das heilt schnell“, bemerkte von Orven. „Heute morgen wirkte es noch um einiges schlimmer.“ Er riß das Handtuch in Stücke und erneuerte den Verband. „Morgen sollten Sie vielleicht noch mal einen Arzt aufsuchen.“

„Gehen Sie von der Schachtel weg!“ befahl Delacroix Udolf, der plötzlich genau davorstand und verträumt lächelte.

Udolf schauderte.

„Verdammt. Es hat mich fast wieder erwischt“, fluchte er. „Es hat so etwas ...“

„Wir werden Sie nicht mehr allein lassen. Offenbar müssen wir auch aufeinander achtgeben, und wir müssen uns auf einen Angriff vorbereiten.“ Delacroix blickte finster.

„Ich wollte schon fragen, wann Sie uns endlich mehr über die Gefahr sagen, die Sie offenbar erwarten und von der wir noch gar nichts wissen“, erwiderte von Görenczy trocken. „Es ist verdammt noch mal an der Zeit. Ich bin niemand, der sich sklavisch ans Protokoll hält, aber wir sind im Moment eine Kampftruppe, und Sie, Colonel, sind Gast in unserem Land. Asko kann Ihnen höchstwahrscheinlich besser als ich erklären, welche Verpflichtungen damit einhergehen.“

Asko sah einen Augenblick lang bestürzt aus. Dann nickte er.

„Sie haben diesen Klosterbruder erwartet.“ Er setzte sich. „Udolf hat recht. Sie müssen uns alles sagen.“

Delacroix gähnte. Er war unendlich müde. Sitzen machte es schlimmer. Seine Wut und Aggression, sein Gefahreninstinkt hatten ihn bis jetzt immer weitermachen lassen. Doch nun schrie sein Körper nach Ruhe.

„Ich sage Ihnen, was ich weiß. Viel ist es nicht – und dann schlage ich vor, daß zwei von uns wach bleiben und das Wesen und einander bewachen. Der Dritte kann ein wenig schlafen. Wenn wir die Wache so einteilen, bekommen wir alle ein bißchen Ruhe. Wir werden sie brauchen. Dies ist noch nicht vorbei.“

Er lehnte sich zurück.

„Das wird jetzt nicht einfach, Gentlemen“, sagte er zu ihnen, „denn ich muß Sie bitten, mir offen und vorurteilslos zuzuhören. Ich nehme an, Sie sind beide Katholiken?“

Er hielt inne und sah, wie sie nickten. Natürlich waren sie katholisch. Das machte die Sache schwieriger. Er war nicht besonders voreingenommen, was unterschiedliche Konfessionen anging, doch im Moment wären ihm zwei ausgemachte antipapistische Presbyterianer lieber gewesen. Denen hätte er alles erklären können, ohne sie in ein Loyalitätsdilemma zu stürzen.

„Sie wissen ja, dieses Manuskript ist jahrhundertelang im Besitz und unter dem Schutz der Kirche Englands gewesen, bevor man es entwendet hat. Die anglikanische Kirche – England – will es zurück. Wir kennen die Gefahr, die von der Schrift ausgeht. Darüber müssen wir nicht reden. Also“, er beugte sich vor, „die katholische Kirche ist mehr als nur eine Glaubensrichtung. In dieser unserer Welt ist sie auch eine politische Macht und setzt sich zusammen aus den unterschiedlichsten religiösen Aspekten und Orden. Güte und Sanftmut mag ein Hauptanliegen christlicher Lebensart sein, doch ich denke, auch wenn wir nicht der gleichen Religion angehören, werden Sie mir recht geben, daß die Kirche als politische Institution weder mild noch sanft ist. Von Görenczy, Sie kommen gerade wieder dieser Schachtel zu nah. Setzen Sie sich.“ Er klang wie ein Lehrer. „Die Inquisition hat, wie Sie sicher wissen, über die Jahrhunderte eine große Menge Menschen verdammt und getötet.“

Er blickte die beiden an. Von Görenczy sah angespannt aus, von Orven blickte verächtlich.

„Kommen Sie auf den Punkt“, sagte er. „Wir leben im Zeitalter der Vernunft und des Fortschritts. Die Inquisition ist tot.“

Delacroix sah ihn stirnrunzelnd an.

„Das ist nicht ganz richtig. Eine kleine Untergruppierung, die sich Bruderschaft des Lichts oder Fraternitas Lucis nennt, führt die guten, alten Traditionen noch immer fort. Über die Jahrhunderte haben ihre Angehörigen die Gruppe zu einer kleinen, aber eindrucksvollen Einsatztruppe ausgebaut, die sich primär mit der Verfolgung von Magie und Fey-Angelegenheiten befaßt. Wenn ich sage ,befaßt, meine ich damit in letaler Art und Weise. Sie denken vielleicht, daß es sei hundert Jahre her, seit die letzte Hexe oder der letzte Hexer verbrannt wurde. Ich kann Ihnen versichern, daß die Scheiterhaufen noch brennen. Ich habe es selbst gesehen.“

„Das ist lächerlich. Nichts als üble Nachrede!“ Leutnant von Orven war nicht amüsiert.

„Bitte lassen Sie mich zu Ende erzählen. Dieser Orden hat mich einige Jahre lang aufgezogen. Es würde jetzt zu weit führen, Ihnen zu erklären, wie es dazu kam, aber ich weiß Bescheid. Sie mögen das nicht glauben wollen, doch das macht es nicht weniger wahr. Einer meiner ... Lehrer ... hat mich heute vormittag besucht. Er sieht aus wie ein kleiner, einfältiger italienischer Pater – Sie haben ihn selbst aus meinem Zimmer kommen sehen. Er ist ein abgrundtief fanatischer, gefährlicher Mensch. Er hat das Manuskript verlangt. Ich habe ihn zum Teufel geschickt. Der Mönch, den wir gefangen haben, ist einer seiner Männer, und ich bin mir sicher, daß er auch noch einen ,christlichen Zauberer dabeihat.“

Sie schwiegen.

„Nun“, sagte Asko schließlich, „wenn das, was Sie uns da erzählen, tatsächlich wahr sein sollte, dann weiß ich nicht, wie wir eine magische Attacke abwehren sollten. Bekämpfen können wir sie nicht, und ich frage mich zudem, ob das Manuskript nicht wirklich sicherer in den Händen von entschlossenen Christen wäre, die es vor dem Zugriff von Monstren und machtgierigen Irren bewahren. Ich könnte mir vorstellen, daß wir gut daran täten, diese Gruppe um Hilfe zu bitten, anstatt sie zu bekämpfen oder gefesselt in leeren Zimmern zu verstauen, und wenn sie schon dabei sind, können sie dies verdammte Ding hier auch gleich mitnehmen. Udolf, nimm dich doch um Gottes Willen zusammen. Du siehst aus, als erzähle die Schachtel dir ein Märchen.“

„So ähnlich wird es auch sein“, erklärte Delacroix.

„Ich kann es jedenfalls nicht hören, und Sie, Colonel, scheinen auch nicht darauf zu reagieren. Ich mache mir nichts aus Magie und den Fey. Von mir aus kann dieser Orden damit machen, was er will – und auch mit jeder anderen unnatürlichen Kreatur unter Gottes Firmament.“

Delacroix blickte ihn fassungslos an.

„Für jemanden, der so sensibel im Umgang mit anderen Menschen, besonders weiblichen Geschlechts, ist, sind Sie ein harter Mann, wenn es um mythische Kreaturen geht, Herr Leutnant. Nicht alle Menschen sind ausnahmslos gut und moralisch, und nicht alle Fey sind ausnahmslos böse und verworfen. Was das Verbrennen von Frauen angeht, die vielleicht manchen nicht unterwürfig oder sittlich genug sind, so sollte man meinen, daß einem ordentlichen, logischen Verstand wie dem Ihren so etwas zuwider sein müßte. Ich bin Soldat und habe so manchen Feind getötet. Aber ich hasse Folter und verabscheue die Arroganz einer selbsternannten Instanz, die glaubt, sie hätte das Recht, all jene zu quälen, zu verstümmeln oder zu töten, die nicht in ihr Konzept davon passen, wie ein ,Kind Gottes aussehen, handeln oder denken sollte.“

Leutnant von Orven sah nach dieser Rede etwas erschüttert aus. Seine tiefe Ablehnung alles Magischen und Unnatürlichen hatte ihn mehr sagen lassen, als er gewollt hatte.

„Davon abgesehen“, fuhr Delacroix fort, „möchte ich Sie daran erinnern, daß Sie den Befehl erhalten haben, mit mir und für mich dieses Manuskript zu finden, damit ich es zurück nach England bringen kann. Sollten sich Ihre Instruktionen in dieser Hinsicht geändert haben, dann wäre es jetzt an der Zeit, mir dies mitzuteilen.“

Von Orven blickte zerknirscht und sagte eine Weile nichts.

Udolf mischte sich ein.

„Unsere Instruktionen haben sich nicht geändert. Da brauchen Sie sich keine Sorgen machen. Ich selbst bin auch nicht froh darüber, die Welt mit Viechern wie diesem verdammten Etwas in der Schachtel teilen zu müssen, aber vielleicht gibt uns der Ekel davor nicht das Recht, alles auszumerzen, das anders ist als wir. Gut – ich habe Schwierigkeiten, mir einen ,guten Feyon vorzustellen. Die ganze verdammte Brut ist mir suspekt, ganz ehrlich. Allein der Gedanke, daß sie mehr sind als ein Aberglaube, ist alles andere als erbaulich. Doch was ich dazu meine ist völlig unerheblich. Wenn man uns magisch attackiert, können wir nur verlieren. Wir haben dem nichts entgegenzusetzen. Meine Waffe ist geladen, und ich bin bereit, jedem eine Kugel in den Kopf zu jagen, der unser frischgefangenes Monster stehlen will. Aber ich wäre trotzdem froh, es los zu sein. Es treibt mich nämlich in den Wahnsinn.“

„Sie können sich darauf verlassen, daß wir unsere Pflicht tun werden“, fügte Asko hinzu. „Wenn es jedoch darum geht, auf Priester zu schießen, dann müssen Sie mich bitte entschuldigen. Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, einen Mann der Kirche zu ermorden, um ein Monster zu schützen. Ich bin zudem sicher, daß ich Ihre großzügige Definition von ,guten Sí und ,bösen Sí nicht unterschreiben kann. Vielleicht habe ich ja unrecht, doch von einem ,guten Sí habe ich mein Lebtag noch nichts gehört.“

„Wie würden Sie den bezeichnen, der gerade Miss Jarrencourt gerettet hat? Erinnern Sie sich? Sie waren außer sich, daß ich versuchte, sie zu töten. Warum, meinen Sie, lebt sie noch? Durchforschen Sie Ihr Gedächtnis. Die Erinnerung muß irgendwo verschüttet sein.“

Die beiden Offiziere blickten einander sehr irritiert an.

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, sagte Asko. „Ich habe keinen ...“ Er verstummte, und sein Gesichtsausdruck wandelte sich in ungläubiges Erstaunen.

„Im Keller war ein Sí, meine Herren. Er hat zunächst Cérise vor einem Angriff bewahrt, dann mir Einhalt geboten, als ich“, Delacroix fand es schwer, die Aktion in Worte zu fassen, „... als ich versucht habe, Miss Jarrencourt zu erstechen, ehe sie ...“

„Schon gut“, unterbrach von Orven. „Ich habe ein vages Bild vor Augen. Unklar. Etwas warf mich quer durch den Raum. Äußerst stark. Ungeheuer stark. Hat mir beinahe den Arm gebrochen, als er mich packte. Er hat Sie davon abgehalten, Miss Jarrencourt zu töten. Aber seine Beweggründe kennen wir nicht. Vielleicht wollte er sie ja seinem ,Verwandten gönnen, und was Mlle. Denglot angeht, verfolgt er wohl auch eigene Ziele. Wir sollten sie warnen. Obwohl es möglicherweise schon zu spät ist. Ich meine mich zu entsinnen, daß ich ihn vorhin sah, wie er aus ihrem Zimmer lugte.“

Er sprang auf und lief zur Tür. Die beiden anderen Männer versuchten noch, die Nachricht zu verdauen, daß die hübsche Sängerin um diese Nachtzeit Besuch hatte. Keiner von ihnen mochte den Gedanken, doch keiner von ihnen sprang auf.

„Sie braucht eventuell unsere Hilfe“, drängte Asko und wartete darauf, daß die anderen sich zu ihm gesellten. „Wer weiß, was das Ding ihr antut?“

„Bitte“, sagte Delacroix und blickte stur geradeaus, „verschwenden wir nicht unsere Zeit mit Mlle. Denglot. Das ,Ding, wie Sie es nennen, ist ein Mann, und Cérise wird damit umzugehen wissen. Ich denke nicht“, fuhr er mit trockenem Ton fort, „daß Mlle. Denglot Ihnen für Ihre Einmischung danken würde. Sie ist eine selbstbewußte Frau, die weiß, was sie tut – oder bildet es sich zumindest ein. Sie hat außerdem ein Schutzamulett von mir, das sie vor arkanen Beeinflussungen schützt. Glauben Sie mir, Ihre Einmischung würde Ihnen keine Dankbarkeit einbringen.“

Von Orven blickte ihn ungläubig an.

„Aber das können Sie doch nicht wissen! Es ist mitten in der Nacht, und dieses Geschöpf ist in ihrem Zimmer!“ Von Orven war bestürzt. „Sie können sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen! Mich verbindet keine gemeinsame Vergangenheit mit ihr, aber ich finde, als Mitglied dieses Teams verdient sie unseren Schutz!“

Leutnant von Görenczy lachte freudlos.

„Asko, das ist vielleicht schwer für dich zu verstehen, aber die Dame ist selbst in der Lage zu entscheiden, wer zu ihr ins Schlafzimmer darf und wer nicht. Du magst ihre Wahl geschmacklos finden, aber ihr Geschmack ...“

„Ist für uns völlig unerheblich“, unterbrach der Colonel. „Sie findet den Gedanken, von einem Fabelwesen umbuhlt zu werden, wahrscheinlich spannend. Oder verlockend.“

„Frauen sind romantisch, viel zu sentimental in solchen Dingen“, tadelte ihn Asko. „Man kann nicht davon ausgehen, daß sie in Herzensangelegenheiten Logik walten lassen. Ich denke immer noch, wir sollten ...“

„Nein. Sollten wir nicht. Zum einen gibt es Dringenderes für uns zu tun, als die Tugend einer allzu sinnlichen Operndiva zu bewachen, und zum anderen geht uns das gar nichts an.“ Dela-croix sah erzürnt aus. „Auf gar keinen Fall, von Orven, geht es Sie etwas an. Also bitte ich Sie herzlich, Ihre perfekte Erziehung dahingehend zu verwenden, den Fehltritt der Dame gänzlich zu ignorieren. Vergessen Sie’s.“

Doch diesmal war das Asko von Orven nicht möglich. Er war zu bestürzt.

„Colonel, Sie haben ja vielleicht einen Grund dafür, sich in dieser delikaten Angelegenheit nicht einmischen zu wollen – und Udolf, du auch. Ich will den Grund nicht wissen, aber es ist mir nicht verborgen geblieben, daß Mlle. Denglot eine Frau mit Vergangenheit ist und daß Sie Teil dieser Vergangenheit sind. Doch ich bin sicher, sie weiß nicht, worauf sie sich da einläßt. Sie hofft eventuell bereits sehnsüchtigst auf unsere Hilfe! Meine Herren! Denken Sie nach! Die Kreatur gehört nicht mal ihrer eigenen Art an. Das ist ... das wäre ...“ Seine Stimme senkte sich zu einem empörten Flüstern: „Sodomie!“

Er schien Probleme zu haben, das letzte Wort auszusprechen.

„Wissen Sie“, antwortete Delacroix giftig, „die Bruderschaft des Lichts wäre ganz Ihrer Ansicht. Deshalb ersuche ich Sie noch einmal – um der Sicherheit Mlle. Denglots und auch unserer eigenen willen –, dieses Intermezzo zu vergessen. Sie mögen ihr Verhalten geschmacklos finden, doch Sie sind nicht ihr Hüter. Genausowenig wie von Görenczy oder ich. Wir haben nicht allzuviel gemeinsam, und so wird es Ihnen vielleicht schwerfallen, das zu glauben, aber selbst wenn ich Cérises Benehmen beklagenswert finde, so möchte ich dennoch nicht, daß sie durch üble Nachrede zu Schaden kommt. Also reden wir nicht mehr davon. Wir müssen dem Mann dafür dankbar sein, daß er Miss Jarrencourts Leben gerettet hat – und meins. Denn Sie hätten ihr Ableben mit Sicherheit nicht ungerächt gelassen, nicht wahr?“

Leutnant von Orven antwortete nicht.

„So schlimm kann er nicht sein“, versicherte Leutnant von Görenczy. „Ich meine, mich zu erinnern, daß er neben dem Mädchen kniete und ihr half, als du und der Colonel mit eurer Duell-Geschichte beschäftigt wart.“

„Er hat sie berührt?“ Asko war bestürzt.

„Natürlich. Du hättest ihr auch selbst helfen können, aber du warst ja mit Streiten beschäftigt, und ich hatte mit der verdammten Schachtel zu tun.“ Er trat einen Schritt zurück und merkte, daß er sich ihr schon wieder genähert hatte.

„Heilige Maria!“ rief von Orven schuldbewußt. „Ich war völlig pflichtvergessen! Wie kann sie mir das je verzeihen? Als ob es nicht schlimm genug wäre, daß ein ekliges, widernatürliches Wesen sie angefallen hat, obwohl ich ihr versprochen hatte, sie zu beschützen!“

„Können wir uns jetzt wieder unseren eigentlichen Problemen zuwenden?“ unterbrach Delacroix die Selbstvorwürfe des jungen Mannes. „Zum Beispiel, wie wir reagieren, wenn wir angegriffen werden? Was jeden Moment geschehen kann?“

Die drei schwiegen. Nach kurzer Zeit sprach von Görenczy.

„Haben Sie eine Vorstellung, wie so ein Angriff aussehen könnte?“

„Ich fürchte nein. Es könnte beinahe alles passieren“, antwortete Delacroix.

Es klopfte. Die drei Männer hoben ihre Waffen.

Das Obsidianherz
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