Kapitel 53
Graf Arpad schloß die Tür und versperrte sie.
„Was ist passiert?“ fragte Cérise Denglot.
Arpad hatte den Mönch erkannt und war dankbar dafür, daß der Mann zu sehr mit seinem Kampf beschäftigt gewesen war, um ihn wahrzunehmen. Er war sicher, daß die beiden Offiziere ihn mit der Zeit schon besiegen würden.
Er wandte sich Cérise zu. Sie stand dicht hinter ihm, erpicht darauf, auf den Flur zu laufen und selbst nachzusehen, was geschah. Er ließ sie nicht vorbei. Als der Schuß gefallen war, war sie in Panik ausgebrochen, hatte gedacht, sie hätte aus Versehen geschossen. Irgendwie war es ihr gelungen, aufzuspringen und ihn mit sich zu ziehen. Ihre unerwartete Bestürzung hatte ihr Kräfte verliehen, mit denen er nicht gerechnet hatte.
Er hatte sie aufgehalten und umarmt. In der sicheren, engen Umarmung hatte er sie gehalten, bis sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte. Er konnte ihre Angst noch riechen, wünschte, er könne ihren Geist mit einem seiner Gedanken streicheln und beruhigen. Doch im Moment konnte er sie so nicht erreichen, nicht, ohne ihr Amulett auszulösen. Das hätte sie dann erneut geängstigt.
Er wandte sich wieder seiner Gastgeberin zu.
„Sie kämpfen“, sagte er. „Dein Delacroix ist ein starker, sehr entschlossener Mann.“
„Er ist nicht ‚mein‘ Delacroix“, entgegnete sie und fühlte sich unwohl, weil er so viel über sie wußte, weil er sogar zu durchschauen schien, wieviel mehr ihr Delacroix bedeutet hatte als die anderen Männer, mit denen sie gelegentlich eine Romanze gehabt hatte.
„Nein“, sagte er. „Nicht mehr. Ich weiß.“ Er schwieg einen Augenblick lang. „Er kämpft gegen einen gefährlichen Widersacher, doch er ist nicht allein, und ich glaube, wir brauchen uns keine Sorgen um ihn machen.“
„Könnten Sie ihm nicht helfen?“ fragte Cérise und dachte an die Leichtigkeit, mit der ihr Gast Asko quer durch den Raum geworfen hatte. Als es geschah, hatte sie nicht darüber nachgedacht, war zu konzentriert gewesen auf die Ereignisse und die Gefahr, in der sie sich selbst befunden hatte. Doch wenn sie jetzt darüber nachdachte, war er vermutlich stärker als alle, die sie je getroffen hatte.
„Nein“, antwortete er. „Es ist besser, wenn sein Widersacher mich nicht sieht.“
Sie standen in der Mitte ihres Salons, blickten einander still an. Der Schuß hatte ihrem bizarren Tête-à-tête ein gewaltsames Ende bereitet. Sie sah in das ernste, schöne Gesicht und erinnerte sich an seine Küsse und die unheimliche Taktik, mit der er versucht hatte, ihr ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Ihre Pistole lag noch hinter ihr auf dem Boden, geladen und nicht abgefeuert.
Er trat näher, nahm ihre Hände. Sie blickte zu Boden, fühlte sich mit einem Mal sehr unsicher. Das Zimmer war angefüllt mit seiner Präsenz, er dominierte die gesamte Atmosphäre.
„Ich dachte, ich hätte Sie umgebracht“, flüsterte sie. Ihre Stimme klang seltsam in ihren Ohren.
Er zog sie wieder an sich und hielt sie fest. Sie spürte seinen geschmeidigen Körper, fühlte seine Kraft.
„Du hast mir nichts getan, Schönste. Ruhig, keine Angst. Wir sind beide lebendig und gesund.“
Seine Lippen glitten über ihr Gesicht, fanden ihren Mund, und dann spürte sie, wie seine Hände an den Häkchen ihres Kleides nestelten. Das hatte sie nicht gestattet. Er nahm sich viel zuviel heraus, war viel zu forsch und fordernd. Er schien manches für völlig selbstverständlich zu erachten. Sie hatte ihm nie gestattet, sie zu duzen. Sie hatte ihm nicht erlaubt, ihr nahezukommen, hatte ihn nicht gebeten zu bleiben, und sie war sich ganz und gar nicht sicher, ob eine Nacht mit einem Vampir etwas sein mochte, was in irgendeiner Weise erstrebenswert war.
Dann wußte sie plötzlich, daß sie sich bereits entschieden hatte. Ihr Körper hatte ihr die Entscheidung abgenommen, setzte seinen Willen durch. Es gab kein Zurück, und selbst wenn – sie wollte gar keinen Fluchtweg.
Sie öffnete den Mund und ließ seine Zunge ihn erobern. Er schmeckte anders als andere Männer. Das war befremdend. Ihr wurde klar, daß sie nicht wußte, was sie erwartete. Sie hatte nicht einmal eine vage Vorstellung davon, was nun kommen würde. Das machte sie nervös.
Er hörte auf, sie zu küssen, lehnte sein Gesicht an ihres.
„Du hast doch keine Angst vor mir, oder?“ fragte er, während er ihr die Haarnadeln aus der Frisur zog und mit seinen Händen durch ihre Locken fuhr.
„Ich bin nervös“, sagte sie und war beeindruckt davon, wie er ihre Gefühle zu lesen wußte. „Du hattest viele menschliche Frauen. Ich war noch nie mit einem Sí zusammen.“
Er küßte sie sanft auf die Stirn.
„Meine süße Jungfrau!“ neckte er und lachte in sich hinein.
„Nun“, gab sie zurück und fühlte sich ein wenig dumm dabei, was sie nicht sehr mochte, „ich weiß nicht, was mich erwartet. Ich weiß ja nicht einmal, wie ... auf welche Weise ...“
Er legte die Hände an ihre Hüften und zog sie dicht an seinen Körper.
„Ich bin nicht sehr anders“, sagte er mit einer kleinen Provokation in der Stimme. „Einfach ein Mann.“
„Oh“, antwortete sie atemlos, „ja. Ich kann es deutlich fühlen.“
Sie begann, seine Weste und sein Hemd zu öffnen. Ausziehen dauerte plötzlich viel zu lange. Er öffnete ihr das Korsett und pellte sie aus Unterkleid und Krinoline, und sein Geschick und seine Geschwindigkeit dabei verriet, daß er darin einiges an Übung hatte. Jahrhundertelange Übung in der Verführung von Frauen. Der Gedanke hatte etwas Beunruhigendes.
Sie half ihm aus seinen Sachen und streichelte seine weiche Haut, genoß jede einzelne Berührung. Mit den Armen umschlang sie seinen nackten Oberkörper und fuhr mit den Händen sein Rückgrat entlang. Er hatte den gleichen Knochenbau wie ein Mensch, die gleichen beweglichen Muskeln, und irgendwie überraschte sie das.
Dann waren sie beide nackt, ihre Sachen lagen wirr im Zimmer verstreut. Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn an. Seine Haut war blaß, und er wirkte schmaler und schlanker als angezogen. Er war gut gebaut, athletisch, allerdings nicht wie ein Kämpfer, eher wie ein Tänzer.
Manche Dinge unterschieden sich in der Tat wenig von menschlichen Männern. Seine Freude an ihr war deutlich zu sehen. Sie spürte in sich das Echo seiner Erregung. Einige Augenblicke lang standen sie nur da und bewunderten die körperliche Schönheit des anderen. Seine dunklen Augen glitzerten im Licht. Ihre langen, goldblonden Locken fielen über ihre Brüste, und er griff nach den Strähnen und schob sie beiseite, eine fast zufällige Liebkosung an sensibler Stelle.
„Du bist wunderschön“, sagte er. „Ich will dich haben und lieben – und beißen, wenn du mich läßt.“ Er fragte sie nicht weiter um Erlaubnis, sondern hob sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer. Sie schien für ihn kaum Gewicht zu haben. Er setzte sie nicht einmal ab, als er die Vorhänge schloß.
Dann legte er sie aufs Bett, streckte sich neben ihr aus, zog sie an sich. Seine Hände und sein Mund bereisten ihren Körper wie ein Forscher, der versucht, auch noch den geheimnisvollsten Winkel einer wundervollen, neuen Welt zu ergründen. Ein sehr erfahrener Reisender war er, geschickt und erregend, und sie wiederum kostete und ertastete jeden Winkel seiner Haut und seines Körpers mit all den Sinnen, die ihr zur Verfügung standen und wünschte sich noch mehr Sinne, um ihn in jedem Aspekt begreifen zu können.
Er ließ sich Zeit, und sie spürte, wie sie sich in seinen Küssen verlor, wie ihre Gedanken sich einkapselten, alles beiseite schoben, was nicht unmittelbar mit den Empfindungen ihres Körpers und ihrer Seele zu tun hatte. Nichts mehr gab es außerhalb der Flut körperlicher Reaktionen. Nichts von Bedeutung.
Sie bewegten sich wie Tänzer in einem Pas de deux in vollkommener Harmonie. Es gab keine Scheu, kein Gefühl, dieser Mann sei ein Fremder. Sie kannte ihn und er kannte sie. Als er in sie eindrang, trieben sie in perfektem Rhythmus dahin, bewegten sich im Einklang zu einer Musik, die nur einen Herzschlag entfernt war. Er füllte sie mit seiner Begierde und mit seiner ungeheuren Intensität, mit seiner gesamten männlichen Lust. Sie schmolzen, und sie hörte ihre eigene Stimme laut stöhnen und aufschreien, als wäre sie weit weg. Er selbst war viel leiser. Sie hörte nur seinen keuchenden Atem.
Dann lagen sie beieinander. Er hielt sie fest in den Armen, wiegte sie sanft. Sein dichtes, weiches Haar fiel ihr über das Gesicht und war so fedrig wie das eines Kindes. Sein Leib war warm und angenehm, aber nicht heiß. Sie spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht, und sie küßten einander lange. Dann sank sie für kurze Zeit in Schlaf, und als sie wieder erwachte, hatte er die Decke über sie beide gezogen. Er streichelte immer noch ihr Haar.
Die heruntergedrehte Gaslampe gab nicht allzuviel Licht ab, gerade genug, um seine Gesichtszüge erkennen zu können. Er sah sanftmütig aus, friedlich, schön und vertrauenswürdig. Und seine Augen waren nicht vollständig schwarz. So nah wie sie bei ihm lag, konnte sie sehen, daß die Iris von sehr dunklem Anthrazitgrau war. Ihre Blicke trafen sich, und er lächelte.
„Habe ich dich geweckt?“
„Nein“, entgegnete sie.
„Bist du sehr müde?“ fragte er darauf, und sie schmunzelte, weil sie wußte, was er eigentlich damit fragen wollte.
„Nein. Ich fühle mich glänzend. Ich glaube nicht, daß ich mich schon je so gefühlt habe.“
Er zog sie noch näher zu sich heran.
„Gut“, sagte er und klang fast erleichtert.
„Hattest du gefürchtet, es wäre nicht so?“ fragte sie und konnte kaum glauben, daß er darüber beunruhigt war. Er wirkte nicht wie ein Mann, der an seiner Fähigkeit, eine Frau zu erfreuen, zweifelte.
„Ich habe gehofft, es wäre so. Aber ich konnte dich nur mit meinem Körper kosen. Normalerweise nehme ich auch meine Gedanken zu Hilfe.“
Sie sah ihn überrascht an.
„Der Anhänger“, erklärte er und klang dabei leicht peinlich berührt.
Sie küßte sein feingeschnittenes Gesicht.
„Ich weiß noch nicht einmal, wie ich dich nennen soll. Graf Arpad scheint mir ein wenig steif, oder?“ Sie lachte und fühlte sich etwas albern. „Das ist mir noch nie passiert. Ich meine, es ist mir noch nie passiert, daß ich nicht wußte, wie ich jemanden anreden sollte, mit dem ich schon zusammen war. Oder bestehst du auf Eure Gnaden? Erlaucht?“
Er gab ein glucksendes Gelächter von sich.
„Nein, meine Schönste. Diese Form der Anrede erscheint mir doch etwas zu unintim. Mein eigentlicher Name ist Torlyn. Nur wenige Menschen wissen das, und ich vertraue darauf, daß du diesen Namen genau hier drin für dich behältst.“ Seine Hand fuhr über ihre Brust und hielt über dem Herzen inne. Sie fühlte die Berührung auf der Haut, dann unter der Haut und schließlich direkt auf dem Herzen, spürte, wie es gegen seine Handfläche schlug, fühlte, wie seine Finger sich um ihr schlagendes Innerstes legten. Leichtsinnig. Großartig. Intim. Bedenklich.
„In Liebe und Ehre?“ fragte er. „Willst du?“
„Ja“, sagte sie. „Oh ja. Ich will.“