Kapitel 7

Corrisande fühlte, wie flüssige Glut sie von innen her verbrannte. Eben noch hatte sie in einem Reich von Eis und schneidendem Frost gelegen. Ihre gefrorene Seele war orientierungslos durch die Finsternis getrudelt, ohne eine Verbindung zu ihrem Verstand finden zu können. Die Flammenhölle umfing sie ohne Vorwarnung, durchdrang und versengte sie qualvoll.

Sie rang nach Luft, Tränen liefen ihr über die Wangen, Glut floß durch ihren Körper, selbst in die Nase, und brannte und schmerzte. Sie prustete, würgte, rang verzweifelt nach Luft.

Sie starb. Sie war sicher, daß sie im Sterben lag. Dies war das Ende. Es war die Strafe für ihre Sünden und für die ihres Vaters, die sie mit zu büßen hatte. Sie war in der Hölle. Sie hatte den letzten Abgrund, aus dem es kein Entkommen mehr gab, erreicht.

Sie ächzte. Die Angst verbot ihr, die Augen zu öffnen, denn sie fürchtete sich davor, das Unausweichliche zu sehen, die furchtbaren Zerrbilder, denen sie ausgesetzt sein würde. Was war geschehen? Was konnte nur passiert sein? Sie erinnerte sich an die Eiseskälte, die sie gleichzeitig mit einer schwarzen Ahnung getroffen hatte. Das Böse hatte sie gespürt, einen Moment lang, drohend und unabwendbar, ehe sie in den Abgrund grenzenloser und schwärzester Verzweiflung fiel. Das Böse kam, nahte, schlich sich an – und dann nur noch Schwärze. Gefangen ohne Fluchtmöglichkeit. Es gab keinen Ausweg.

Von weit her hörte sie eine fürsorgliche Männerstimme.

„Sie kommt zu sich.“

Eine weitere, tiefere, barschere Stimme erklang direkt vor ihrem Gesicht.

„Machen Sie die Augen auf. Jetzt.“ Ihre Knochen schlugen aneinander wie Murmeln in einem Beutel. Irgend jemand schüttelte sie grob. Sie war sich sicher, daß er das nicht tun sollte, brachte aber doch nicht den Mut auf nachzusehen, wer so dreist war, sie wie einen Sack Kartoffeln durcheinanderzuschleudern. Die Realität schwappte in wilden Wogen um sie herum, und sie fühlte sich seekrank.

„Wachen Sie auf! Machen Sie die Augen auf! Sie können das“, sagte die Stimme wieder in einem befehlsgewohnten Ton, dem ganz gewiß nie jemand widersprach.

Sie öffnete die Augen und nahm zunächst nur verschwommene Silhouetten wahr. Es dauerte eine Weile, bis ihre Sicht wieder scharf wurde. Sie sah direkt ins Gesicht eines Fremden, dessen gelbliche Augen aussahen wie die eines Wolfs. Der Mann blickte unfreundlich und kritisch, und etwas in diesen Bernsteinaugen, eine Art glühender Intensität, ängstigte sie. Einen Moment lang glaubte sie, tatsächlich in der Hölle zu sein. Dann erkannte sie ihre Umgebung, ihr Hotelzimmer. Der Mann wirkte finster, Teint und Haare waren dunkler als allgemein üblich. Sie bemerkte, daß er den linken Arm um ihre Schultern gelegt hatte und sie festhielt, während seine Rechte ihr kleine, schmerzlich forsche Klapse auf die Wange verabreichte. Dazu konnte er kein Recht haben!

„Hören Sie augenblicklich auf!“

Diese Stimme kannte sie. Das war Eliza, und sie klang nicht begeistert. Fast wirkte ihre Stimme ein wenig hysterisch. Es mußte schon viel geschehen, um Eliza so aus der Ruhe zu bringen. Selbstbeherrschung war Elizas größte Stärke.

Corrisande hob die linke Hand und griff nach dem Handgelenk des Mannes. Es war kräftig und grobknochig, und ihre Finger konnten es nicht umschließen. Doch er hörte sogleich auf, ihr weh zu tun. Einen Augenblick lang ruhte seine große, warme Hand an ihrem Gesicht. Dann war sie fort.

„Können Sie sich aufsetzen?“ fragte er. Als sie versuchte, sich auf der Couch zurückzulehnen, fuhr er fort: „Nein, nicht wieder hinlegen. Setzen Sie sich. Konzentrieren Sie sich. Lassen Sie die Augen offen!“

Er half ihr, sich aufzusetzen, dann stand er auf und trat zurück. Für einen kurzen Moment kam sie sich ohne ihn verloren vor und wünschte sich seinen Arm zurück um ihre Schulter, wünschte, sie könnte seine Stärke und die physische Wärme, die er ausstrahlte, zurückhaben.

Der Moment verging.

Sie sah sich um. Das Zimmer wirkte auf seltsame Weise überfüllt. Eliza stand da und war so rot im Gesicht, daß ein Arzt sie mit Sicherheit sofort zur Ader gelassen hätte, um der Gefahr eines Schlaganfalls vorzubeugen. Sie kam händeringend auf sie zu.

Marie-Jeannette war auch anwesend und lehnte in den Armen des gutaussehenden jungen Chevauleger-Offiziers, den sie zuvor vom Balkon aus gesehen hatte. Wieviel Zeit seither vergangen war, wußte sie nicht. Der Mann hielt ihre Zofe wie ein Geliebter. Das konnte keinesfalls richtig sein.

Ein weiterer junger Offizier in bayerischer Uniform stand auch da und wirkte makellos adrett, aufmerksam und besorgt. Er sah auch gut aus, fand sie, sein blondes Haar war wie mit dem Lineal seitlich gescheitelt, seine blaßblauen Augen waren voller Sorge. Er schien sie mit seinem Blick einzuhüllen, und seine Hände zuckten ein wenig nervös.

Dann war da noch dieser außergewöhnlich große Gentleman, gekleidet in eine nonchalant zusammengeworfene Kombination von Zivilkleidung. Seine Krawatte saß ein wenig schief, und die Vorderseite seines Gehrocks war feucht und fleckig, und ihr wurde bewußt, daß sie ihn vermutlich angehustet und naßgeweint hatte.

Wie unendlich unangenehm.

Alle starrten sie an, als warteten sie darauf, daß sie etwas sagte oder tat, doch sie wußte nicht, was. Sie hatte das alptraumhafte Gefühl, sich plötzlich auf der Bühne in einem Stück wiederzufinden, ohne ihren Text zu kennen.

„Oh“, sagte sie. Seltsamerweise schien das alle zu freuen. Sie holte tief Luft. Sie mußte herausfinden, was geschehen war, wer all diese Menschen waren und warum Eliza so äußerst echauffiert war.

Doch das Wichtigste zuerst.

„Sir“, sagte sie zu dem selbstgenügsam grinsenden Chevauleger und bemerkte dabei, daß ihr Hals sich noch rauh und roh anfühlte. „Lassen Sie meine Zofe los. Ihre allzu liebenswürdige Haltung ist gänzlich unpassend.“

Irgendwie brach diese Ermahnung den Bann. Eliza drehte sich um und warf Marie-Jeannette einen vernichtenden Blick zu. Der Chevauleger sah verdutzt aus, der andere Offizier peinlich berührt. Der seltsame Zivilist begann zu lachen, und sein strenges Antlitz veränderte sich. Humor funkelte in den auffälligen Augen, und die ernsten Züge lösten sich in diesem Moment.

Corrisande mußte husten. Sie hatte einen widerlichen Geschmack im Mund, ihr Magen brannte. Der blonde Offizier stürzte los und goß ihr aus der Karaffe, die auf einem der Beistelltischchen stand, ein Glas Wasser ein. Er brachte ihr das Glas und ließ sich vor ihr auf einem Knie nieder, um es ihr zu reichen. Seine Geste rührte sie. Er hatte ein angenehmes Lächeln, enthusiastisch und doch gleichzeitig zurückhaltend. Sein Blick traf den Ihren, und sie las darin Besorgnis, aber auch Freundlichkeit. Augenscheinlich ein wirklich netter Herr.

„Ich danke Ihnen. Sehr aufmerksam.“ Sie nahm einen Schluck. „Aber vielleicht ...“ Sie sah Eliza fragend an.

Mrs. Parslow nickte.

„Meine Herren“, begann sie, und ihr Ton klang so ärgerlich, daß man ihn fast als unhöflich hätte bezeichnen können. „Ich danke Ihnen für die freundliche Unterstützung. Es ist spät. Meine Nichte sollte sich jetzt unverzüglich zurückziehen, um sich von ihrer Bewußtlosigkeit zu erholen. Es gibt nun wirklich keinen Grund für Ihr weiteres Verbleiben in unseren Räumlichkeiten. Seien Sie versichert, wir können nun sehr gut ohne Sie auskommen. Ich bitte Sie herzlich ...“

Der junge Offizier, der vor Corrisande kniete, errötete und stand auf.

„Einen Moment!“ unterbrach der Zivilist. „Tut mir leid, doch bevor wir Sie verlassen, müssen wir noch einige Fragen stellen. Wirklich, Madam“, wandte er sich Mrs. Parslow zu, die kurz davor war, ihm barsch ins Wort zu fallen, wobei ihr Unwille nur allzu deutlich wurde. „Sie müssen uns noch ein paar Minuten gönnen. Diese Angelegenheit darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen, und – Ihre Ansichten gutes Benehmen und Etikette betreffend in allen Ehren – dies hier hat Vorrang. Corrisande“, er drehte sich wieder zu ihr um und war etwas erstaunt, als sie ihn unterbrach.

„Ich weiß nicht, woher Sie das Recht nehmen, mich beim Vornamen zu nennen. Ich bin sicher, wir sind nicht verwandt.“

Er atmete tief durch. Fast vernahm sie eine Art Zischen dabei.

„Zum Teufel, ich nenne Sie Corrisande, weil ich keinen anderen Namen weiß. Was für einen Unterschied macht das denn jetzt?“ Seine Augen glitzerten vor kaum gezügelter Wildheit. Das Lachen war aus ihnen verschwunden.

Bedauerlicherweise.

Der junge Offizier, der ihr das Glas Wasser gereicht hatte, intervenierte. Mit einer eindringlichen, aber höflichen Stimme begann er zu erklären: „Natürlich hätten wir uns Ihnen gleich vorstellen müssen. Bitte lassen Sie mich das nachholen, wenngleich die Situation ein wenig unorthodox ist und ich mir nichts sehnlicher wünschte, als Sie unter anderen Umständen kennengelernt zu haben. Mein Freund hier ist Leutnant von Görenczy, der Herr, der Sie wiederbelebt hat, ist Colonel Delacroix, ein Landsmann von Ihnen, und ich bin Leutnant Asko von Orven.“ Es schien ihm wichtig, ihr all dies zu erläutern, so als ob diese Erklärung ihre Anwesenheit in ihrem Zimmer in irgendeiner Weise rechtfertige. Vielleicht tat sie das ja. Er fuhr fort:

„Wir sind in Ihre Suite gekommen, weil ein ... ich nenne es mal Spukphänomen sie durchquert hat und Ihre Tante und auch ihre Zofe in einiger Aufregung waren. Wir sind uns durchaus bewußt, daß wir Ihre Großzügigkeit ausnutzen, aber was immer das Zimmer durchquert hat, scheint auf irgendeine Art und Weise mit einem Verbrechen in Zusammenhang zu stehen, das letzte Nacht hier im Hotel verübt wurde. Man hat uns gebeten, bei der Aufklärung behilflich zu sein.“

„Ist das eine höfliche Umschreibung dafür“, Corrisande fühlte sich mit einem Mal viel zu müde, um ihre Worte mädchenhaft zurückhaltend zu wählen oder auch nur entsprechend hilflos dreinzublicken, „daß Sie, meine Herren, im Verdacht stehen, dieses Verbrechen begangen zu haben?“

„Großer Gott, nein!“ rief Leutnant von Orven schockiert.

„Das nun wirklich nicht“, grinste Leutnant von Görenczy.

„Eine bemerkenswerte Schlußfolgerung, aber völlig falsch“, sagte der Colonel, und um seinen Mund zuckte für eine Sekunde ein halbes Lächeln. „Man hat uns gebeten, weil wir einige Erfahrung in solchen Dingen haben. Da die Angelegenheit recht knifflig ist, sind Hotel und Polizei übereingekommen, unsere Unterstützung anzufordern. Sehen Sie, mein Kind ...“

„Jarrencourt“, rügte Corrisande schroff, „Corrisande Jarrencourt. Für Sie Miss Jarrencourt. Wenn Sie sich daran bitte halten würden? Ich bin weder ‚Ihr Kind noch ‚Ihr Mädchen, Sir.“

„Miss Jarrencourt, Sie verloren das Bewußtsein, ehe sich das Phänomen überhaupt in Ihrem Zimmer materialisierte. Wir müssen wissen warum. Was hat Ihnen die Sinne geraubt?“

Corrisande starrte Delacroix verärgert an. Auf einer Unterredung zu beharren, obgleich man zum Verlassen des Raumes aufgefordert worden war, war mehr als nur unverschämt. Sein Mangel an Zartgefühl war bedauerlich. Kein Funkeln in seinen Augen wog das auf. Er war gewiß nicht die Art Gentleman, deren Bekanntschaft zu machen sie sich vorgestellt hatte, und die beiden jungen Offiziere ebensowenig. Vielleicht gerade noch Leutnant von Orven. Er schien zumindest über anständiges Benehmen zu verfügen und machte den Eindruck, als gefiele sie ihm. Man würde seinen Hintergrund prüfen müssen, aber ihre Hoffnungen waren nicht sehr hoch. Bedauerlich. Er war nett und besorgt.

Aus dem Augenwinkel sah sie, daß Mrs. Parslow bereit war, den Herren eine weitere eisige Abfuhr zu erteilen. Doch Corrisande war todmüde, erschöpft und fühlte sich nicht danach, eine weitere Runde an Unerfreulichkeiten durchzustehen. Es war besser, dies schnell zu beenden.

Sie schauderte demonstrativ. Von Orven bückte sich und hob die Decke auf, die vom Sofa auf den Boden gerutscht war. Er hielt sie ihr hin, doch sie schüttelte nur den Kopf, klimperte mit den Wimpern und bedachte ihn und den Colonel mit einem perfekten Augenaufschlag. Sie mußte sich konzentrieren, wenn sie überzeugend sein wollte.

„Ich weiß nicht, Colonel“, sagte sie und war sich bewußt, daß sie schon bessere Vorstellungen des ‚schutzsuchenden jungen Mädchens gegeben hatte. Normalerweise war sie unschlagbar darin. „Ich wünschte, ich könnte es Ihnen erklären. Aber das kann ich nicht. Es wurde mit einem Mal sehr kalt. Ich wurde ... ich kann es nicht beschreiben, und an mehr erinnere ich mich nicht.“

Sie wollte sich auch gar nicht entsinnen. In ihren Erinnerungen zu stöbern wäre gewesen, wie in einer offenen Wunde zu stochern.

„Versuchen Sie es!“ Das war keine Bitte, sondern ein Befehl. Delacroix zog sich einen Stuhl heran, setzte sich gänzlich uneingeladen ihr gegenüber und blickte ihr aus beinahe gleicher Höhe in die Augen. Er beugte sich zu ihr vor, die Arme auf die Knie gestützt. Seine Präsenz war außergewöhnlich. „Sie müssen es versuchen! Auch wenn es unangenehm ist. Es mangelt Ihnen offenbar nicht an Courage. Sie müssen uns alles sagen. Versetzen Sie sich zurück!“

Sich zurückversetzen war das letzte, was sie wollte. Sie war ganz sicher, daß sie diese Gefühle nicht noch einmal durchleben wollte, nicht einmal als Erinnerung. Nie mehr.

Es mußte eine Möglichkeit geben, sich da herauszuwinden. Sie setzte ihre verletzlichste Miene auf, hob eine bebende Hand an die Schläfe und sprach mit ersterbender Stimme: „Bitte glauben Sie mir, ich würde Ihnen wirklich gerne helfen, aber ich fühle mich so schwach ...“

„Geschwätz. Ich glaube Ihnen kein Wort.“ Die fremdartigen Augen bohrten sich buchstäblich in ihren Blick, unnachgiebig und streng.

„Colonel!“ Der Angesprochene unterbrach den schockierten Ausruf Leutnant von Orvens mit einer rüden Handbewegung.

„Mein liebes Ki... liebe Miss Jarrencourt. Bitte seien Sie versichert, ich bin gänzlich unempfänglich für waidwunde Blicke und ach so zartes Getue. Ich brauche diese Informationen, und ich gedenke sie zu bekommen, und wenn ich sie aus Ihnen herausschütteln muß.“

„Sir!“ riefen Mrs. Parslow und von Orven schockiert aus. Er ignorierte sie.

„Colonel! Ich muß darauf bestehen ...“

„Nicht jetzt.“ Er löste den Blick keine Sekunde von ihr, während er den Offizier mit einer Handbewegung zum Schweigen brachte. „Bestehen Sie hinterher, worauf Sie wollen.“

Eine erneute laute Auseinandersetzung bahnte sich an, Corrisande ahnte schon die Kakophonie lauten Streits. Sie seufzte und gab auf. Sie wollte nur, daß dies so schnell wie möglich vorbei war. Die Situation zerrte an ihren Nerven, kratzte tiefe Furchen in ihre Fassung. Vielleicht würden die Herren endlich gehen, wenn sie ihnen alles sagte. Manchmal, sagte ihr Vater immer, konnte man Dinge nur umgehen, indem man mitten durch sie hindurchpreschte.

Dennoch, sie wollte nicht daran denken, geschweige denn Worte finden für die seelenzerreißenden Visionen, die sie überkommen hatten. Es war, als wehre sich ihr eigener Geist dagegen und versuche, sie aus ihrem Gedächtnis zu verbannen.

Doch es gab kein Entrinnen. Sie sah in das entschlossene Gesicht des massigen Mannes und wußte, daß er sie so lange traktieren würde, bis sie redete. Sie schloß die Augen und begann zu sprechen, ohne Diskussion, ohne Einleitung. Ihre eigene Stimme klang ihr fremd in den Ohren.

„Jäh standen mir die Haare zu Berge. Mir wurde schlagartig kalt. Es geschah alles sehr schnell. Es fühlte sich an, als überspüle mich der äußerste Rand einer kreisförmigen Welle.“ Sie war nicht sicher, ob das, was sie sagte, für ihre Zuhörer Sinn ergab. „Verstehen Sie? Als hätte jemand einen Stein in schwarzes Wasser geworfen, und die Wellen kräuselten sich zu mir hin und berührten mich. Es war ein Gefühl“, sie begann zu zittern und mußte diese Reaktion nicht einmal spielen, „… ein Gefühl von Todesnähe und Sterben. Kälte umfing und durchbohrte mich. Es war ... furchtbar. Ich hatte Angst. Es tat so weh. Ich fiel in schwarzes Nichts. Nein, ich wurde dorthin geschleudert. Ich dachte, ich sei tot. Gestorben. Ich spürte meinen Kö... meine physische Existenz nicht mehr.“ Sie merkte, wie ihr eine Träne übers Gesicht lief. Sie verabscheute diese Reaktion. Zu persönlich. Sie gab zuviel von sich preis. „Ich war allein in völliger Dunkelheit, eingefroren in schwarzem Eis. Es schmerzte ...“

Sie unterdrückte ein Schluchzen. Schluchzen gehörte sich nicht. Männer mochten es nicht, wenn man sich gehenließ. Sie tat so etwas nie, war nicht der Typ für Weinkrämpfe. Sie hielt die Augen geschlossen, konnte den Anblick all der Leute, die ihr tränennasses Gesicht jetzt sahen, nicht ertragen. In ihrer Erinnerung fühlte sie wieder die Agonie, das Grausen, die völlige Hoffnungslosigkeit und drückende Schuld.

Sie zwang sich weiterzusprechen, schluckte, holte tief Luft und versuchte mit Gewalt, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Mit einer ärgerlichen Bewegung wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Dann fing ich Feuer, begann zu brennen und dachte, ich sei in der Hölle, in der Unterwelt. Ich hatte zuviel Angst, um die Augen zu öffnen und nachzusehen.“

Sie fühlte, wie sich Eliza neben ihr niederließ, ihre Hand nahm und in einer Weise tätschelte, die wohl beruhigend wirken sollte.

„Bitte“, sagte Mrs. Parslow, „sehen Sie denn nicht, daß Sie ihr weh tun?“

„Noch eine Frage, Miss Jarrencourt.“ Corrisande meinte, eine Spur von Mitgefühl in der Stimme des Colonels ausmachen zu können. Doch er schonte sie nicht. „Was warf den Stein ins Wasser?“ Er stellte die Frage mit unmerklichem Drängen. „Versuchen Sie, sich zu erinnern!“

Corrisande sah in die fremdartigen Augen, die so voller Intensität waren. Sie konnte die Frage nicht beantworten, wußte nicht wie. Er wollte Auskünfte, die sie ihm gar nicht geben konnte.

Mit einem Mal war das Wissen in ihr. Sie hatte es wie ein widerliches Souvenir aus jener Hölle mitgebracht. Die plötzliche Erkenntnis überspülte sie erneut wie eine kalte Woge. Sie rang nach Luft, stieß Elizas wenig hilfreiche Hände von sich und sprang blind vor Angst auf.

„Das Böse“, schrie sie. „Dunkelster, bösester Feyonzauber, und Sie können nichts dagegen ausrichten.“

Erst nachdem sie die Worte gesprochen hatte, wurde ihr selbst bewußt, was sie da gesagt hatte. Sie wußte nicht, woher diese plötzliche Gewißheit kam. Das ängstigte sie noch mehr. Feyonzauber. Sie glaubte nicht an die Fey, nicht an die mythischen Sí, nicht an Märchengestalten. Bis zu dieser Nacht hatte sie an das Übernatürliche keinen Gedanken verschwendet. Das Leben war kompliziert genug, ohne daß man es mit Geisterglauben befrachtete.

Sie wußte nicht, woher sie den Gedanken hatte, daß die drei Männer machtlos dagegen sein würden. Die Erkenntnis war plötzlich dagewesen, als hätte sie jemand in ihren Kopf gepflanzt. Sie taumelte auf die Tür zu ihrem Schlafzimmer zu, ohne darüber nachzudenken, was für einen Eindruck sie im Moment machte.

Sie schlug die Tür hinter sich zu. „Gar nichts können sie ausrichten“, murmelte sie vor sich hin und spürte lähmende Angst in sich. Gleichzeitig fühlte sie sich auch dumm und hysterisch. Sie haßte es, ängstlich zu sein. Doch noch mehr haßte sie es, dümmlich und hysterisch zu wirken.

Was mochte er nur von ihr denken? Sie. Was mochten sie nur von ihr denken?

Das Obsidianherz
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