Kapitel 67

Eliza hatte den Brief, den sie schreiben wollte, noch nicht geschrieben. Statt dessen hatte sie mit einigen bezaubernden Damen eine freundliche Unterhaltung genossen. Die Damen waren an diesem Tag extra nach München gekommen, ruhten von ihren Einkäufen im Café des Hotels aus und sprachen über das Wetter.

Eliza sprach gern über das Wetter. Es war ein wunderbar neutrales Thema, und man konnte so viel erfahren, während man just darüber sprach. Die Damen gehörten zum bayerischen Landadel, Mütter und Töchter. Sie waren nach München gekommen, um die Töchter für den nächsten Ball einzukleiden. Die meisten lebten nicht in der Stadt, und auf dem Land spielte das Wetter eine bedeutende Rolle. Viel mehr als in München. Denn die Hauptstadt war auch bei Regen schön und aufregend.

Nieselregen fiel schon den ganzen Tag, und es wurde schnell kälter. Eine der Damen sagte einen verspäteten Wintereinbruch voraus. Schnee, meinte sie. Bald würde es schneien. Sie waren nicht entzückt darüber, denn es ruinierte einem die Schuhe, und hauptsächlich die jungen Damen verabscheuten den Gedanken, auf dem Weg zu einem Ball oder einer Gesellschaft Galoschen tragen zu müssen.

Ende März Schnee? fragte Eliza. Natürlich! Bayern konnte sehr kalt sein. München lag recht hoch, das Land hob sich den Alpen entgegen, und das Wetter kam nur allzuoft von den eisigen Bergpässen. Die Isar und ihre Nebenflüsse wurden aus den Gletschern gespeist und waren eisig kalt. Man konnte sich nicht darauf verlassen, daß der Frühling eine Jahreszeit von Blumen und Sonnenschein war. Blumen und Sonnenschein konnte es an einem Tag geben und am nächsten wieder Eis und Schnee.

So erfuhr Eliza eine Menge über das bayerische Wetter und war dabei eine eifrige Zuhörerin, von der niemand geglaubt hätte, daß ihr Interesse für die meteorologischen Charakteristika ihres Gastlandes nur peripherer Natur war. Doch die Unterhaltung bereitete ihr Freude. Ohne einmal vom Thema abzukommen, gelang es ihr, durch Nebensätze und wortfeine Andeutungen bestimmte Informationen in den Köpfen der kaffeetrinkenden Gesprächspartnerinnen zu verankern. Gewiß sagte sie nie, sie sei die Tante der noblen Erbin eines außerordentlichen Vermögens, die – wohlbekannt und geachtet sowohl von der Londoner als auch der Pariser Gesellschaft – diese Saison im Königreichen Bayern verbringen wollte. Im Grunde sprach sie nur über das Wetter und über die Schwierigkeit, passende und inspirierte Kleidung für jede Art von Klima zu erstehen.

Dennoch: Als die Damen ihre Habseligkeiten einsammelten und das Café verließen, um sich auf den Nachhauseweg zu machen, war sie nicht nur sehr gut Freund mit allen geworden, sondern hatte auch noch zwei sehr interessierte Mütter von Söhnen im heiratsfähigen Alter kennengelernt. Natürlich würde man sich auf dem Ball wiedersehen. Dafür war man ja unter anderem gekommen. Ihre Verwandte in Possenhofen bestand darauf, sie einigen hochrangigen Nachbarn vorzustellen. Eliza sagte nicht, wem. Doch das war auch nicht notwendig. Die Nennung des kleinen Ortes am Starnberger See ließ die Damen ausschließlich an die Familie des Wittelsbacher Herzogs in Bayern denken, die dort lebte.

Der Nachmittag war gut angelegt, fand Eliza und trank ihren Kaffee aus. Das Schreiben an Corrisandes Vater konnte sie immer noch abfassen. Er mußte wissen, was hier vor sich ging. Zum einen würde er ungehalten sein, sollte er irgendwann von allein herausfinden, daß jemand seine Tochter mißhandelt hatte. Zum anderen konnte man niemanden mit einem solchen Wissen oder auch nur Verdacht ignorieren und weiterleben lassen. Es konnte nur in den Ruin führen. Corrisande war ein kluges Mädchen. Sie würde es einsehen, und wenn Eliza Fakten schuf, bevor Corrisande sich noch tiefer in die Angelegenheit verstrickte, konnte das die Dinge nur vereinfachen.

Es war ihre Aufgabe, auf das Mädchen zu achten. Bisher war das leicht gewesen, da Corrisande und sie was ihre Vorgehensweise betraf weitgehend übereinstimmten. Aber sich in einen solchen Mann zu verlieben war ein Unding. Eliza mußte einschreiten, für das Mädchen und seinen Vater, und natürlich auch nicht zuletzt für sich selbst.

Ein Schatten fiel auf sie. Sie blickte auf. Vor ihr stand ein kleiner, sehniger Mann in einer Priesterrobe. Er lächelte und verbeugte sich höflich.

„Mrs. Parslow, nehme ich an?“ fragte er und klang recht freundlich dabei. „Bitte verzeihen Sie mir, daß ich mich Ihnen vorstelle, doch ich muß wirklich dringend mit Ihnen sprechen. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Eliza mochte Pfarrer nicht besonders und machte dabei wenig Unterschiede, welcher Konfession sie angehörten. Natürlich hatte die Kirche ihre Vorzüge und ihren Platz in der Gesellschaft. Sie bot eine Plattform, andere Menschen zu treffen, und hatte zudem die Aufgabe, der ärmeren Bevölkerungsschicht Maß und Ziel zu geben – und möglicherweise eine Erziehung.

Doch sie selbst hielt nichts davon. Dennoch ging sie regelmäßig in die Kirche. Dieser Pfarrer war allerdings ein römisch-katholischer Kleriker, und sie verspürte gar keine Lust, sich mit ihm zu befassen. Vermutlich wollte er sie bekehren. Sie konnte Glaubenseiferer nicht ausstehen. Er trug eine kleine Ledermappe voller Papiere.

Sie wollte aber nicht unfreundlich erscheinen. Bayern war katholisch, und es zahlte sich nie aus, die religiösen Gefühle anderer zu beleidigen. Also lud sie ihn mit einer Geste an den Tisch ein, während sie sich bereits überlegte, welche Ausrede sie benutzen würde, um ihn zu verlassen, wenn sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte.

„Ich bin Pater Emanuele“, sagte er. „Vielleicht möchten Sie so nett sein und sich einen Moment lang diese Papiere ansehen. Ich bin sicher, Sie finden sie interessant.“

Jetzt war sie verstimmt. Er öffnete die Mappe und legte ihr einige Seiten vor. Bibelverse, dachte sie, und lehnte dankend ab.

„Nein danke, Hochwürden“, sagte sie. „Ihre Beflissenheit ehrt mich, aber ich habe meinen eigenen Glauben.“

Er lächelte höflich und sagte dann ganz langsam: „Ich weiß, meine Tochter, und Ihr Katechismus beinhaltet das äußerst plötzliche Dahinscheiden von immerhin drei Ehegatten. Sie sollten lesen, was da vor Ihnen liegt. Sonst müßte ich mir Leser bei der Polizei suchen. Das sind nur Zweitschriften. Dennoch sollten Sie sie nicht herumliegen lassen. Das könnte unangenehm werden. Wenn Sie mit Ihrer Lektüre fertig sind, erwarte ich Sie in meinem Zimmer auf eine kleine Unterhaltung. Zimmer 122.“

Er erhob sich, bedachte sie mit einer akkuraten Verbeugung und entfernte sich mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Sie starrte ihm nach, bis er den Raum verlassen hatte. Dann schloß sie den Mund mit fast hörbarem Schnappen. Ein eisiger Stein schien in ihrem Magen zu liegen, als hätte sie jemand dorthin geschlagen. Er bluffte. Natürlich bluffte er. Er konnte keine Beweise haben – und wer war er überhaupt?

Sie las. Es begann mit einem kurzen Report über Earnest Worringhams Tod, eine Zusammenfassung eines Arztberichtes. Ein weiterer Bericht handelte von ihrer Ehe mit Adrian Fothercombe und von dessen Tod in Rom während einer Reise, die sie gemeinsam unternommen hatten. Ein dritter beleuchtete ihr Leben in Rom und ihre finanziellen Umstände zu dieser Zeit.

Es gab noch mehr Seiten, die sie aber nur kurz überflog. Jemand hatte sich große Mühe gegeben, aus sehr wenigen tatsächlichen Fakten eine glaubwürdige Übersicht über ihr Leben und ihre Ehen zu erstellen. Manches, sogar das meiste, war reine Spekulation. Doch einige Einzelheiten waren erstaunlich akkurat und verliehen dem Rest eine gewisse Glaubwürdigkeit. Dennoch war es ein Bluff – ein guter Bluff, aber eben nur ein Bluff.

Die letzte Seite war beängstigend. Sie erwähnte den Brief, den sie geschrieben hatte, um Delacroix aus dem Weg zu schaffen und enthielt sogar den Adressaten. Außerordentlich präzise Information.

Sie konnte es einfach ignorieren und die Seiten den Flammen übergeben. Sie enthielten keine Beweise. Sie war viel zu umsichtig, um Beweise zu hinterlassen, und das Verscheiden ihrer drei Gatten war schon lange her. Es war unwahrscheinlich, daß irgend jemand nur auf solch zusammengewürfelte Verdächtigungen hin jetzt eine polizeiliche Untersuchung gegen sie einleiten würde.

Dennoch war es möglich. Männer regierten die Welt, und die Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit eines jeden Landes dieser Welt oblagen wiederum einzig und allein Männern. Frauen konnte man leicht zugrunde richten. Der Verdacht, die Andeutung allein, sie könnte ihre Ehemänner umgebracht haben, mochte schon ausreichen, um ihr Leben in der Gesellschaft unmöglich zu machen, selbst wenn kein Richter und keine Geschworenen sie je für schuldig befanden.

Richter und Geschworene waren jedoch auch Männer, und Männer wurden immer sehr unversöhnlich, wenn sie eine Frau verdächtigten, zu frei, zu stark oder zu unabhängig zu sein. Ob sie ihre Gatten umgebracht hatte, mochte für sie nicht so ausschlaggebend sein wie die Tatsache, daß sie eine Männerwelt an der Nase herumgeführt hatte, die das nicht bemerkt hatte.

Der Priester wollte etwas von ihr. Vielleicht sollte sie herausfinden, was es war. Sie war nicht sicher. Sie konnte ihn auch ignorieren. Eventuell war das besser. Wenn sie zu ihm ging, war das schon ein Eingeständnis, daß er irgendeine Macht über sie besaß. Besser würde es sein, nicht zu reagieren.

Sie fragte sich, wie sie sich verhalten hätte, wäre sie tatsächlich unschuldig am Tod der Männer gewesen. Hätte sie den Mann ignoriert und wäre einfach nur über seine Vorwürfe empört gewesen? Oder hätte sie sich Sorgen gemacht und ihm ihre Unschuld darlegen wollen?

Sie wußte es nicht. Letztlich hatte sie alle drei vergiftet. Mit dem Gift, das Corrisande verwendet hatte, um sie zu betäuben. Das war das Schöne an dem Stoff. Er konnte einfach nur ein sehr starkes Schlafmittel sein. Nahm man zuviel, lähmte er das Herz.

Er hatte nett gewirkt, doch sie wußte genug von der Welt, um sich darauf nicht zu verlassen. Ein Diener Gottes. Vielleicht war das eine Verkleidung? Kleriker liefen üblicherweise nicht herum und erpreßten Damen der besseren Gesellschaft, und auf Erpressung lief es hinaus, da war sie sich sicher. Eine kleine Unterhaltung, hatte er gesagt, und er hatte nicht so ausgesehen, als machte er sich Sorgen, sie könne eventuell nicht kommen. Sie glaubte nicht, daß die kleine Unterhaltung die Rettung ihrer Seele zum Inhalt haben würde.

Sie konnte einfach nach oben gehen und Corrisande überzeugen, zu packen und abzureisen. München war mißglückt. Es wäre schade, jetzt, wo sie bereits begonnen hatten, ein vielversprechendes Netzwerk aufzubauen.

Allein, sie konnten nicht bleiben. Vielleicht würde der Mann im Priesterkostüm ihr ja nicht folgen, wenn sie abreiste.

Oder doch? Sie fragte sich, wie er an die Berichte gekommen war. Er mußte sie schon lange verfolgen, um sie zu sammeln. Sie hatte nie bemerkt, daß ihr jemand nachspionierte. Also wo konnte er die Berichte herhaben?

Höchstwahrscheinlich waren es nichts als reine Mutmaßungen. Er hatte ausnehmend klug ausgesehen.

Wie auch immer, es wurde immer wichtiger, schnell den „König“ zu informieren. Er würde wissen, was zu tun war. Ein Unglück, daß sein Repräsentant nun tot war. Damit schied der direkteste Weg einer schnellen Problembeseitigung aus, und die war von größter Wichtigkeit. Sie hatte den Brief hier im Café schreiben wollen. Das war nun unmöglich. Briefe konnte man finden und lesen, und sie hatte nicht vor, das dünne Material über sich selbsttätig zu ergänzen.

Das ließ sie wieder an ihr ursprüngliches Problem denken. Sie fragte sich, ob Delacroix mit dieser Attacke zu tun hatte. Wenn er einen Verdacht gegen Corrisande und sie hegte, konnte es sein, daß er Schritte unternommen hatte, um mehr über sie herauszufinden.

Doch in so kurzer Zeit? Das schien unmöglich. Es war in der Tat schade, daß er dem Mordanschlag entgangen war. Die Dinge wären ohne den Mann wirklich einfacher gewesen. Sie hatte sich sogar überlegt, ihn selbst zu töten. Schwierig wäre es nicht. Wahrscheinlich dachte er nicht daran, seine Speisen und Getränke zu kontrollieren.

Jetzt war ihr diese Möglichkeit genommen. Noch ein Mann in ihrem Umfeld, der plötzlich an einer Herzattacke im Schlaf dahinschied, das war mehr, als sie riskieren konnte. Er war also sicher, bis der „König“ sich seiner annahm, und selbst da mußte sie jetzt gut achtgeben, was sie schrieb. Es mußte dem klugen Bandenkopf alles an Informationen geben, ohne einem Fremden etwas zu verraten. Das mußte gewissenhaft vorbereitet werden.

Sie fragte sich, ob der Priester allein arbeitete. Wahrscheinlich ja. Erpresser gingen sparsam mit ihrem Wissen um. Es war ihre Ware und nur so lange wertvoll, wie es unbekannt war. Geheimnisse bedeuteten Geld. Nur hatte der Mann nicht ausgesehen, als sei er hinter Geld her. Tatsächlich hatte er wie ein Priester ausgesehen. Schlecht gekleidet. Mit veralteter, frommer Liebenswürdigkeit. Nur was konnte er wollen, wenn nicht Geld?

Den „König“. Das mußte es sein. Vielleicht versuchte er, über sie mehr Informationen über ihren ultimativen Arbeitgeber zu bekommen. Wenn das alles war – darüber konnte sie verhandeln. Sie hatte ausgesprochenes Geschick im Verhandeln, und sie war auch gut darin, Menschen in die gewünschte Richtung zu manipulieren. Allerdings hatte sie das Gefühl, dieser Mann würde nur schwer zu manipulieren sein.

Sie würde ihn ignorieren. Das war das Beste, was sie tun konnte.

Sie packte die kleine Mappe zusammen und hielt sie gut fest. Sie überprüfte den Tisch, ob da nicht noch etwas lag, ein Papier, das sie übersehen hatte. Dann verließ sie das Café, die Mappe in der Hand. Sie mußte sich jetzt um Corrisande kümmern.

Das Obsidianherz
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