Kapitel 29

Cérise war mehr als ungehalten. Ihre Probe war abgebrochen und schließlich abgesagt worden, denn der Startenor hatte eine Nachricht gesandt, er sei indisponiert. Eine Erkältung, hatte er verlautbaren lassen. Er müsse sich erst erholen, um seine Gesundheit nicht ernsthaft zu riskieren.

Der Korrepetitor hatte also nur zwei Arien mit ihr geübt, dann hatte Freiherr von Perfall alle weiteren Proben auf den folgenden Tag verschoben. So etwas kam vor, und es war im Grunde auch nicht wichtig genug, um ihr die Laune zu verderben. Doch diese war bereits seit dem Moment, da sie das Opernhaus betreten hatte, schlecht.

Sie fühlte sich nicht geschätzt. Als sie um das Bauwerk herumlief, um den in Richtung Marstall liegenden Bühneneingang zu finden, war ihr der Gedanke gekommen, daß man sie als den neuen Stern am Münchner Opernhimmel eigentlich hätte abholen können. Doch man hatte nicht einmal nachgefragt, ob sie eine Begleitung brauchte. Nicht, daß sie eine akzeptiert hätte. Schließlich konnte sie auf sich selbst aufpassen. Dennoch war die Gedankenlosigkeit unverschämt. Sie war immerhin eine Primadonna.

In dieser Laune erreichte sie den neuen Pförtner am Bühneneingang. Er besaß die Frechheit, sie nicht zu erkennen. Statt dessen hatte er sie – wie sie fand herablassend – informiert, daß, falls sie wegen Autogrammen von den Sängern gekommen war, sie diese nur nach der Vorstellung bekommen könnte.

Diese Aussage hatte sie erbost. Sie hatte dem Pförtner eine wohlformulierte und äußerst wortreiche Erweiterung seines Horizonts angedeihen lassen und sogar vergessen, diese mit den üblichen französischen Worteinschüben zu verzieren, die in ihre Konversation einzuflechten sie sich angewöhnt hatte. Der Mann war weitaus weniger zerknirscht gewesen, als sie das gerne gesehen hätte.

Auf jeden Fall sorgte der Vorfall dafür, daß sie zu spät kam, und Freiherr von Perfall war offenbar nicht der Meinung, das akademische Viertelstündchen sei etwas, das man seiner Primadonna kommentarlos zugestehen sollte. Andere Theaterdirektoren gaben sich im allgemeinen sehr viel Mühe, ihre Publikumsmagneten nicht zu verärgern. Er hatte sie trocken dazu aufgefordert, in Zukunft pünktlicher zu sein, da hier niemand gerne warte.

Auch ihm hätte sie daraufhin gerne eine wohlformulierte, äußerst wortreiche Erweiterung seines Horizonts angedeihen lassen – mit oder ohne Französisch –, aber sie wußte, daß dies ein Fehler gewesen wäre. Sie war eine gute Sängerin, doch sie war nicht die einzige auf der Welt, und München war auf dem besten Wege, sich von einem mittelmäßigen Opernstandort in ein Zentrum der Opernkunst zu wandeln. Sie konnte und wollte es sich nicht leisten, es sich mit dem Mann zu verderben, der nicht nur die Besetzungsliste zusammenstellte, sondern unter den höherstehenden Opernliebhabern auch als besonders kompetent galt, und diese schlossen immerhin seine Majestät König Ludwig II. ein.

Also hatte sie sich entschuldigt und sich beschwert, der Pförtner habe sie nicht erkannt und somit auch nicht eingelassen. Sie hatte erwartet, dieser Affront werde bei den anderen Sängern und Sängerinnen Empörung auslösen. Statt dessen fanden diese die Begebenheit witzig. Sie hörte sie in den Kulissen kichern.

Das hatte sie nicht heiterer gestimmt, und als man sie dann schließlich informierte, Herr Franz Nachbaur, der Tenor, werde nicht kommen und sie solle mit dem Pianisten und einem Ersatzmann aus dem Chor üben, erreichte ihre Entrüstung den Höhepunkt.

Zwar hätte sie auf die Probe an diesem Tag gut verzichten können, und im Grunde wäre ihr eine Verschiebung des Termins nur allzu lieb gewesen, doch die Umstände waren unmöglich. Die Probe zu verschieben oder stattfinden zu lassen hätte ihre Entscheidung sein sollen.

Allerdings war es eine kurze Probe gewesen, und sie hatte alsbald die Muße, ins Hotel zurückzukehren. Was sie denn auch tat.

Nur nicht sofort. Zwischen der Oper und dem Hotel lag die Schwabinger Straße mit ihren feinen Läden, und einen davon hatte sie aufgesucht und nach einem Parfüm gestöbert. Sie hatte schließlich eines mit dem Namen „Weiße Orchidee“ erworben. Sie mochte den zarten Wohlgeruch, er erinnerte sie an die Blume, die sie am Abend zuvor auf ihrem Bett gefunden hatte.

Sie fragte sich, ob sie wieder eine finden würde und wer der Mann sein mochte, der sie ihr brachte. Sie konnte sich ihn fast vorstellen. In ihrer Phantasie war er schmalgliedrig, dunkel und aufregend mysteriös.

Doch ihre Phantasie ging mit ihr durch, oder sie hatte ein Talent zum Hellsehen, das bis jetzt noch niemand gewürdigt hatte. Wie so viele ihrer Talente – alle zu wenig gewürdigt. Man schätzte sie nicht hoch genug, nicht so, wie es sein sollte. Sie würde daran arbeiten müssen, ihren Wert und ihre Begabungen anderen Menschen deutlicher darzustellen.

Sie schlenderte gemächlich auf das Hotel zu. Sie hatte es nicht eilig, und keinesfalls verbummelte sie Zeit, um das Auftauchen des Monsters zu versäumen. Es war vermutlich längst weg, und vielleicht hatten die Männer es ja sogar gefangen.

Das wäre freilich ein wenig peinlich gewesen. Sie wäre schon gerne dabeigewesen, wenn es darum ging, den Ruhm und die Anerkennung für den Auftrag zu ernten, den man ihnen, aber vor allem auch ihr erteilt hatte. Immerhin hatte seine Majestät sie höchstpersönlich um Mithilfe gebeten.

Die Wertschätzung, die sie durch das Team erfahren hatte, war auch nicht so, wie sie hätte sein sollen. Sie verdiente mehr Anerkennung. Möglicherweise war ja wenigstens ihr Kalteisengeschenk eine zweckmäßige Erwerbung gewesen. Es war zu dumm von den Herren, nicht daran gedacht zu haben, so etwas zu besorgen.

Im Hotel klopfte sie zuerst an Askos Tür, dann an von Görenczys und schließlich an Delacroix’. Keiner der Herren war in seinem Zimmer. Sie waren fort, gerade so, als wollten sie nichts mit ihr zu tun haben. Sie hinterließ beim Pagen eine Nachricht, daß sie zurück war und daß, sollten die Herren nach ihr fragen, sie sich in ihrer Suite befand.

Dann ging sie auf ihr Zimmer. Der Salon lag im Halbdunkel. Jemand hatte die Gardinen zugezogen. Mitten am Tag – was für ein Unsinn! Draußen schien die Sonne. Es war ein herrlicher Frühlingstag.

Sie ging zum Fenster.

„Bitte“, sagte eine wohltönende Stimme, die nur ihr Innerstes wiedererkannte, „laß sie zu. Dunkelheit ist viel angenehmer, findest du nicht?“

Sie sah die dunkle Gestalt in ihrem Salon, erinnerte sich ganz plötzlich an ihren neuen Freund, den Besucher vom gestrigen Abend. Der Mann, der ihr Orchideen brachte.

Er ruhte lässig auf ihrem Sofa. Er sah elegant aus und sehr anziehend.

„Bitte, Sir“, sagte sie ziemlich irritiert, „was machen Sie in meinem Zimmer?“

Er beugte sich vor, blickte ihr über den Rand einer Brille mit dunkel gefärbten Gläsern in die Augen.

Seine Hand machte eine einladende Geste, und sie ging zu ihm und setzte sich neben ihn. Dabei überlegte sie sich, daß er als Mann von Welt eigentlich hätte aufstehen müssen. So ein Benehmen hätte sie im Grunde wütend machen müssen, und sie wäre auch sehr erbost gewesen, wenn es jemand anderes gewesen wäre.

Doch er war ein Feyon. Genau. Er war anders.

Gleichwohl mußte sie ihn für sein keckes Betragen tadeln. Sie konnte nicht zulassen, daß Männer so mir nichts, dir nichts in ihren Räumen auftauchten und sie duzten. Nicht einmal attraktive Männer. Nicht einmal außergewöhnlich attraktive Männer. Also würde sie ihn ausschimpfen. Nur ein wenig. Nur um ihn zu lehren, daß er sie ernst zu nehmen hatte. Sie legte Wert auf Respekt.

Sie öffnete den Mund, um ihn zu kritisieren, und seine Lippen waren auf den ihren. Sie fühlten sich vertraut an. Er küßte sie innig, und die Zeit stand still.

Als er aufhörte, war sie außer Atem. Irgend etwas hatte sie tun wollen, irgend etwas sagen. Sie konnte sich nicht erinnern. Sie stellte fest, daß sie nicht mehr neben ihm saß, sondern halb über ihm lag. Ihr Hinterkopf ruhte in seinem Schoß. Er hielt sie mit einem Arm. Sie spürte sein Bein unter ihrer Schulter.

Es war eine eigenartige Situation, sich plötzlich in dieser Position zu finden. Doch sie wehrte sich nicht. Seine linke Hand streichelte ihre Kehle, und sie spürte scharfe Fingernägel auf der Haut, die zart, behutsam und sehr vorsichtig über ihren Hals strichen. Sie musterte die schmale Hand. Sie hatte lange, dünne Finger, die in scharfen Nägeln endeten. Etwas zu lang und zu schmal für einen Mann von Welt. Sie erinnerten an Klauen, waren leicht gebogen und liefen beinahe spitz zu. Sie musterte sie mit einem Gefühl wachsender Irritation.

Er bemerkte ihren Blick und lächelte. Sie vergaß. Er hielt jetzt ihre Hand, faltete ihrer beide Hände ineinander.

„Ich liebe dich“, sagte er, „und ich wünschte, du wärst jetzt nicht gekommen.“

Die Logik dieser Aussage begriff sie nicht. Sie war ein wenig beunruhigt ob des Ernstes, mit dem er sie getroffen hatte.

Er hob sie an den Schultern hoch und küßte sie nochmals, und Cérise wußte, daß sie sich danach sehnte, von ihm geliebt zu werden. Sie war eine leidenschaftliche Frau. Sie war kein Kind mehr. Sie hatte einige Liebhaber gehabt, doch niemand hatte die Saiten ihrer Seele so zum Klingen gebracht wie dieser Mann. Sie vibrierten wie die einer Harfe, auf der jemand ein Arpeggio gespielt hatte. Fast konnte sie den Klang hören.

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihr Kleid abgelegt hatte. Es lag unordentlich in einem Haufen auf dem Boden, und der Mann streichelte ihre nackten Schultern und küßte ihre Arme.

„Graf Arpad“, sagte sie, weil sie irgend etwas sagen wollte und sich nicht erinnern konnte, was es war.

„Gut“, entgegnete er, „du weißt meinen Namen noch. Sehr gut.“

Er küßte die Innenseite ihres Handgelenkes, und plötzlich schrak sie zusammen, als ein winziger, scharfer Schmerz sie durchzuckte. Seine Zähne hatten sich tief in ihr Fleisch gebohrt. Sie hatte Angst, ohne zu wissen wovor. Sie fühlte, wie sich der Strom ihres Blutes umkehrte, es schien von ihr wegzufließen. Sie keuchte, als die schlagende Empörung ihres Herzens sie mit einem Ruck durchfuhr.

Einen Moment später liebte sie das Gefühl, ging darin auf und versank darin, hoffte, es würde ewig andauern. Doch er hatte schon wieder aufgehört. Er leckte ihr Handgelenk, und sie sah, wie sich die kleinen Löcher darin schlossen und von ihnen fast nichts übrigblieb, so gut wie keine Spur.

Er hielt sie in den Armen.

„Ich muß fort“, sagte er schwer atmend. „Es wäre zu leicht, dich zu morden. Ich will dich nicht verlieren.“ Er sah ihr reuig und sehnsüchtig zugleich ins Gesicht. „Ich komme wieder, wenn ich auf der Jagd war. Sobald ich hier herauskann.“

Wieder versuchte sie, die Logik seiner Worte zu erfassen, und lehnte sich dann zurück, während er sie oberhalb ihres Untergewandes zwischen die Brüste küßte.

„Erinnere dich daran, daß ich dich liebe“, sagte er. Sie lag auf ihrer Couch unter einer Decke, die sorgfältig über sie gebreitet war. Er nahm seinen Spazierstock zur Hand und fügte noch hinzu: „Erinnere dich auch daran, daß du mich liebst.“

Daran erinnerte sie sich. Es war das einzige, an das sie sich erinnerte.

Das Obsidianherz
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