Kapitel 70

Von Görenczy schnarchte ganz leise. Es war das einzige Geräusch, das im Moment im Zimmer zu hören war. McMullen hatte sich wieder in seine Bücher vergraben. Delacroix lief im Zimmer auf und ab wie ein Panther im Käfig, doch seine Schritte waren auf dem weichen Teppich nicht zu hören.

Es klopfte. Delacroix hielt mitten in der Bewegung inne, und seine Haltung änderte sich von einem Augenblick zum nächsten. Er weckte von Görenczy.

„Ich werde öffnen. Seien Sie bereit, wenn nötig einzugreifen.“

Er hob die Waffe und öffnete die Tür abrupt und schnell, in dem Wissen, daß von Görenczy den Eingang ebenfalls mit einer Waffe in der Hand beobachtete.

Der schlanke junge Mann, der vor der Tür stand, blickte in die Mündung von Delacroix’ Pistole. Er schmunzelte.

„Colonel Delacroix?“ fragte er freundlich. „Cérise hat mich gebeten, Sie aufzusuchen. Doch wenn ich störe, kann ich später wiederkommen. Graf Arpad.“ Er verbeugte sich.

Delacroix musterte ihn eingehend. Sein fast schulterlanges schwarzes Haar fiel über seine Ohren, und er sah harmlos aus. Äußerst menschlich. Seine Manieren waren einwandfrei, und sein Auftreten war gewinnend. Ein gutaussehender Mann mit freundlichem Lächeln. Er war tadellos und elegant gekleidet, eine Nadel mit einem Diamanten glitzerte in seiner modisch gebundenen Krawatte. Seine dunklen Augen blickten offen und direkt in die Delacroix’. In ihnen war keine Arglist zu erkennen, nur freundliche Beflissenheit.

Konnte er das Risiko eingehen, ihn hereinzubitten? Er hatte seinen Kalteisendolch griffbereit im Gehrock, doch er dachte an Cérises Worte. Er wäre nie schnell genug, die Waffe zu ziehen. Er erinnerte sich auch an die pfeilschnellen, präzisen Bewegungen des Mannes, die er im Keller beobachtet hatte. Sie hatte wahrscheinlich recht.

McMullens Stimme drang aus dem Raum hinter ihm.

„Bitten Sie Graf Arpad doch herein, Delacroix.“

Delacroix trat beiseite und ließ seinen Gast eintreten. Der junge Mann hielt plötzlich an, und seine Brauen zuckten nach oben. Er verbeugte sich fast ehrfurchtsvoll vor McMullen.

Der Meister verneigte sich genauso tief und schmunzelte.

„Aengus McMullen, zu Ihren Diensten“, sagte er.

„Ich sehe, Sie gehen kein Risiko ein“, bemerkte der Sí trocken, und Delacroix versuchte vergeblich zu verstehen, was er meinte.

Er wies auf einen Stuhl und lud seinen Gast ein, Platz zu nehmen, doch der Feyon lächelte nur.

„Wenn ich mich setzen soll, müssen Sie den Stuhl zu mir bringen. Ich fürchte, ich kann diese Linie nicht übertreten.“

Delacroix sah nicht, auf welche Linie er anspielte, doch er fragte auch nicht. Er holte den Stuhl und bot ihn dem Gast an. Der Mann setzte sich. Er schlug ein schlankes Bein über das andere und faltete die Hände ordentlich über dem Knie, wobei er seine Finger so verschränkte, daß man seine Fingernägel nicht sah. Dann verneigte er sich sitzend vor von Görenczy, der immer noch mit der Waffe auf sein Herz zielte.

„Udolf von Görenczy, nehme ich an“, sagte er und lächelte den Chevauleger an, der ihm zunickte, ein wenig verlegen grinste, aber dennoch seine Waffe keinen Millimeter senkte. „Hätten Sie gerne, daß ich die Hände hebe? Oder soll ich meine Waffen abgeben? Ich trage keine. Aber Sie können mich gern durchsuchen. Ich werde ganz stillhalten.“

„Es tut mir leid, wenn Ihnen unsere Sicherheitsvorkehrungen etwas harsch vorkommen“, sagte Delacroix, „doch Sie werden verstehen, daß wir so wenig Risiken eingehen möchten wie möglich.“

„Das verstehe ich. Sie haben da ein sehr gefährliches Individuum gefangen, und über mich wissen Sie auch nichts weiter. Ich möchte nur bitten, daß der Herr Leutnant mich nicht etwa aus Versehen erschießt. Ich bin hier, um zu helfen.“

Delacroix sah McMullen an und dann wieder den Sí.

„Individuum?“ fragte er. „Sie sprechen bei dem Ding von einem Individuum?“

Dunkle Augen sahen zu ihm auf. In ihnen war ein schelmisch amüsiertes Glitzern zu sehen, und Delacroix konnte mit einem Mal verstehen, was Cérise in diesem Mann sah.

„Er lebt, hat die Fähigkeit zu denken und zu planen und eine physische Erscheinungsform, die Sie schon in Aktion gesehen haben. Für mich klassifiziert ihn das als Individuum. Oder finden Sie, nur Menschen können das sein? Dann müßte ich Sie fragen, als was Sie mich sehen.“

Darauf gab es keine Antwort. Schweigen senkte sich über den Raum.

McMullen, der hinter dem Tisch mit dem Kasten stand, sprach als nächster.

„Sie haben Mlle. Denglot etwas über das Manuskript verraten. Bitte erklären Sie uns das. Wir müssen mehr darüber wissen.“

Der Sí beugte sich vor und blickte dem Magier in die Augen. All seine Bewegungen waren maßvoll und langsam. Delacroix verstand, daß er versuchte, eine Überreaktion ihrerseits zu verhindern. Es wäre vielleicht angemessen gewesen, von Görenczy zu bitten, die Waffe herunterzunehmen, aber er bat ihn nicht darum. Es war zwar unhöflich, einen Gast, von dem man Hilfe erwartete, einzuladen und ihn dann vor eine geladene Waffe zu setzen, doch Delacroix hatte immer nach der Maxime „besser unhöflich als tot“ gelebt.

Trotzdem konnte er nicht anders, er fand den jungen Mann nett. Er hatte Stil und eine gewisse kühne Nonchalance, die einem gefallen mußte. Man mußte sich sorgfältig daran erinnern, was da vor einem saß, eine Kreatur, die stark genug war, gut trainierte Soldaten quer durch einen ganzen Raum zu werfen, und schnell genug, daß man seine Bewegungen kaum wahrnehmen konnte.

„Ich bin mit einigen Herren bekannt, Menschen, um genau zu sein, die die absurde Idee hatten, das Mutar-Manuskript an sich zu bringen, um damit die Regierung eines bestimmten Landes zu erpressen. Ich bitte Sie, mich zu Details nicht zu fragen, denn ich bin durch mein Wort gebunden, keine preiszugeben. Jedenfalls haben sie Herrn Müller aufgesucht, um ihr Ziel zu erreichen. Hätte ich von ihrem Plan vorher gewußt, ich hätte sie gewiß davon abgehalten. Sie haben mich jedoch nicht konsultiert. Ihr Plan mißlang. Sie hatten nicht mit Herrn Müllers arkanen Fähigkeiten gerechnet, und sie hatten auch nicht damit gerechnet, nicht die einzigen Spieler in diesem Machtkampf zu sein. Da keiner von ihnen arkane Begabungen besaß, blieb ihnen nur, hilflos zuzusehen, wie der sterbende Herr Müller das Manuskript mit einem Bann zu verstecken suchte, während Ihr Gefangener ihn angriff und gleichzeitig ein weiterer Interessent – der mir als helleuchtende Gestalt beschrieben wurde – intervenierte. Drei arkane Quellen versuchten also, das Manuskript zu erreichen und gleichzeitig vor den beiden anderen in Sicherheit zu bringen. Es entschwand. Ihr Gefangener entschwand ebenfalls, genau wie die dritte Gestalt. Müller verstarb, doch ich habe keine Zweifel, daß sein Bannspruch mit in die Gesamtheit der Sprüche verwoben ist. Wenn Sie möchten, kann ich versuchen, eine mögliche Interpretation anzubieten, aber ich denke, Mr. McMullen ist sehr wohl in der Lage, seine eigenen Schlußfolgerungen zu ziehen.“

Er schwieg, und die drei Menschen sagten eine Zeitlang auch nichts.

„Sie sind Ungar?“ fragte Delacroix nach einer Weile.

„Schon geraume Zeit. Ich habe Ländereien dort.“

„Ja, und einen Titel.“

„Ein Titel ist nicht schwer zu bekommen, wenn man lange genug lebt. Er bedeutet mir weniger als Ihnen.“

„Sie halten es mit den ungarischen Nationalisten?“

„Meine politischen Neigungen stehen hier nicht zur Debatte, Colonel. Wir werden sie nicht erörtern.“

Wieder wurde es still. Nach einer Weile klopfte es erneut, und Askos fröhliche Stimme erklang.

„Ich bin’s. Lassen Sie mich rein.“

Delacroix ging zur Tür, öffnete sie ebenso vorsichtig wie zuvor und zielte dabei auf den, der vor der Tür wartete. Der Leutnant grinste verständnisvoll. Er hatte einen Mann bei sich, der ein Tablett mit Brot, kaltem Braten und einer Flasche Rotwein trug.

„Gut“, sagte Delacroix. „Kommen Sie herein – und singen Sie nicht.“

Der Leutnant nahm das Tablett und trug es ins Zimmer. Dort ließ er es fast fallen. Er starrte den geheimnisvollen Gast mit unverhohlener Feindseligkeit an und stellte das Tablett auf der Anrichte ab. Dann zog er die Waffe und richtete sie auf den Sí. Sein Gesicht war starr vor Ablehnung.

Delacroix steckte seine eigene Waffe demonstrativ weg.

„Graf Arpad“, begann er die Vorstellung, „darf ich Ihnen Leutnant von Orven vorstellen. Ich fürchte, er ist erheblich gegen Ihre Spezies eingenommen. Ich würde Ihnen deshalb raten, von raschen Bewegungen Abstand zu nehmen. Ich möchte nicht, daß Sie verletzt werden, und bin mir keinesfalls sicher, ob ich den Herrn Leutnant von einer Überreaktion abhalten könnte.“

Der schwarzäugige Feyon verneigte sich höflich vor dem Leutnant, der den Gruß nicht erwiderte.

„Was macht der hier?“ fragte er statt dessen und musterte den Gast mißtrauisch.

„Er hat sich erboten, uns sein Wissen zur Verfügung zu stellen. Freiwillig und freimütig. Er ist unser Gast.“ In Delacroix’ Stimme schwang eine eindringliche Note.

Von Orven schnaubte verächtlich. Seine blauen Augen waren voller Ablehnung. Eine tiefe, ärgerliche Furche zog sich über seine Stirn.

„Was für Informationen will er uns geben?“

McMullen nahm den Faden auf.

„Darüber sprechen wir gerade“, sagte er und informierte Asko über das eben Gesagte. Dann wandte er sich wieder an den Sí.

„Gehe ich recht in der Annahme, daß die drei Bannsprüche einander binden und daß der Spruch des bereits verblichenen Herrn Müller die beiden anderen beieinanderhält?“

„Das ist auch meine Deutung. Solange Sie nicht wissen, wer der dritte Spieler ist, können Sie nichts ausrichten. Sobald Sie einen der beiden noch Lebenden töten, kann der andere eventuell das Manuskript befreien. Herr Müller ist nicht mehr in der Lage, das zu verhindern.“

„Na großartig“, unterbrach von Orven eisig. „Sie sagen uns also, daß wir diesem Ungeheuer um unsretwillen nichts tun dürfen. Das sieht für mich eher so aus, als wollten Sie es schützen.“

„Ihn“, korrigierte Arpad mit einem spöttischen Lächeln. „Unbedingt ihn. Nicht es. Wie Sie an dem großen Interesse, das er Miss Jarrencourt entgegenbrachte, hätten erraten können.“

Von Orven ging wütend auf ihn zu, fand aber seinen Weg durch Delacroix blockiert.

„Ich will nicht, daß Sie unseren Gast angreifen“, sagte der nachdrücklich. „Bitte halten Sie Ihre Antipathie im Zaum. Ihre Abneigungen sind im Moment nicht von Bedeutung.“

„Wie nett“, kommentierte der Feyon sarkastisch. „Ich werde beschützt. Das ist eine ganz neue Erfahrung.“

„Meine Herren, wir wollen nicht streiten. Es steht zuviel auf dem Spiel“, unterbrach McMullen.

„Aber das müssen Sie doch sehen!“ Von Orvens Stimme klang laut und empört. „Diese andere Gestalt kann doch durchaus er selbst sein. Er wartet nur darauf, daß wir einen Fehler machen, dann kann er sich das Manuskript holen.“

Von Görenczy intervenierte.

„Asko! Bitte benutz deinen Kopf. Wenn er die Gestalt wäre, würde er uns raten, das Ding ... ich meine, die Person umzubringen. Denn nur so käme er an das Manuskript.“

„Vielleicht stecken sie ja unter einer Decke? Was er erzählt, braucht doch nicht zu stimmen! Die ganze Geschichte von einer unbekannten hellen Gestalt kann doch kompletter Humbug sein. Wer sagt uns, daß er nicht genauso schlimm ist wie das Ungeheuer in der Schachtel – oder schlimmer? Wir sollten ihn nicht gehen lassen.“

Der Sí erhob sich sehr langsam.

„Schlagen Sie gerade vor, mich einzuschließen? So wie ihn?“ Er wies auf den Tisch. „In einer Kalteisenschachtel?“ Er machte einen Schritt auf den Leutnant zu, der unbeirrt auf seinen Kopf zielte.

Delacroix versuchte, zwischen die beiden Kontrahenten zu treten, doch der dunkle junge Mann schob ihn mit einem Arm zurück.

„Das hier geht nur mich und den Leutnant etwas an, Delacroix, mischen Sie sich bitte nicht ein.“ Der Mann sah plötzlich anders aus. Seine geheimnisvollen Augen glitzerten, und er wirkte intensiv und gespannt wie ein Panther vor dem Sprung. Seine Aufmerksamkeit war so fokussiert, daß er die Realität um sich herum dominierte. Seine Schönheit war fast ins Furchterregende gesteigert. Die dunklen Augen erschienen mit einem Mal noch dunkler.

Der Leutnant trat ihm ohne Zaudern oder Zagen entgegen. Falls er Angst hatte, so zeigte er es nicht. Seine himmelblauen Augen sprühten vor Temperament.

„Aufhören, sofort!“ ermahnte McMullen die Männer. „Wir dürfen nicht streiten, und wenn Sie, Herr Leutnant, unseren Gast angreifen, werden Sie Ärger mit mir bekommen. Jetzt entspannen Sie sich. Alle. Nehmen Sie wieder Platz, Graf Arpad. Sie auch, Herr Leutnant.“

Der Sí drehte sich in einer schnellen, kaum wahrnehmbaren Bewegung zu ihm um.

„Glauben Sie, ich bin weniger gefährlich, wenn ich sitze?“

„Mir ist vollkommen bewußt, wie gefährlich Sie sind. Ich weiß nicht, was genau Sie sind. Aber ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung von Ihren Fähigkeiten und Talenten.“

„Das ist schlecht, Mr. McMullen. Wollen Sie das nicht vielleicht wieder vergessen?“

„Mir ist klar, daß Sie Menschen vergessen lassen können, Graf Arpad. Sie könnten unseren Leutnant vergessen lassen, was er eigentlich tun wollte, noch während er im Begriff ist, es zu tun und auch, wen hier im Raum er gerade erschießen wollte. Aber ich muß klar denken können, um eine Gefahr abzuwenden, die größer ist als Sie. Also wagen Sie es nicht, in meinem Kopf herumzuspuken.“

„Das werde ich nicht, Mr. McMullen, Sie sind doch schließlich gut geschützt. Wie auch der Colonel.“ Er lächelte die beiden Leutnants spöttisch an, die soeben begriffen hatten, daß sie selbst nicht geschützt waren. Dann nahm er Platz.

„Versuchen wir, uns gesittet aufzuführen“, sagte er. „Ich habe nicht vor, Ihnen etwas zu tun. Ich weiß um die Wirkung, die man dem Manuskript gemeinhin nachsagt, und was sie für die Welt bedeuten könnte, und ich mag die Welt, so wie sie ist. Genau so, wie sie ist, und zwar genau jetzt. Ich weiß nicht, wer der andere Gegenspieler sein mag. Es könnte natürlich die Bruderschaft sein. Dennoch tendiere ich dazu, nach der Beschreibung, die ich erhalten habe, eher einen von uns, von den Na Daoine-maithe, zu erwarten, als einen Inquisitor mit magischem Talent.“

„Wenn es die Bruderschaft wäre, hätten sie bereits versucht, das Di... unseren Gefangenen zu töten“, warf Delacroix ein, der sich unauffällig zwischen Leutnant von Orven und den Sí manövriert hatte.

„Vielleicht wissen sie ja nicht wie“, meinte von Görenczy, und Asko starrte ihn so böse an, als habe er ein Staatsgeheimnis ausgeplaudert.

„Das ist möglich“, antwortete der Feyon ihm. „Ich denke nicht, daß es viele Menschen geben kann – falls es überhaupt welche gibt –, die wissen, wie man ihn tötet. Höchstwahrscheinlich wissen Sie es genausowenig.“

„Werden Sie uns in dieser Sache mit Rat und Tat zur Seite stehen?“ fragte von Orven etwas süßlich.

„Leutnant von Orven, wenn Sie sich selbst als Gefangener – oder meinethalben als Gast – in einer Gesellschaft von Na Daoine-maithe wiederfänden und träfen dort einen Mann, einen Gefangenen, einen Menschen wie Sie, von dem Sie wüßten, er wäre ein gewohnheitsmäßiger Mörder, würden Sie Ihren unerleuchteten Gastgebern verraten, wie er zu töten sei?“

Der Leutnant schwieg. Delacroix sagte: „Eventuell, wenn ich genug über die Verbrechen des Mannes wüßte.“

„Eventuell“, antwortete der Graf. „Sie schon. Der Leutnant nie.“

„Was ist mit Ihnen?“ fragte McMullen. „Werden Sie es tun?“

Der junge Mann sah plötzlich unglücklich aus. Er schwieg.

„Das ist lächerlich“, schimpfte der blonde Leutnant. „Er ist vermutlich gekommen, um das widerliche Ungeheuer zu befreien, und Sie halten moralische Grundsatzdiskussionen mit ihm. Wie können Sie denn erwarten, daß er überhaupt die Wahrheit sagt? Er kann jeden Moment aufstehen und das verdammte Ding befreien.“

„Kann er nicht“, antwortete Delacroix. „Er kann die Schatulle nicht anfassen.“

„Das muß er nicht. Er muß nur uns dazu bringen, es zu tun.“

„Ganz offensichtlich können Sie ihm nichts tun, solange er in der Schachtel ist“, gab Graf Arpad zurück und lächelte den Leutnant zynisch an. „Auf der anderen Seite kann ich Ihnen nicht empfehlen, ihn herauszulassen. Er ist zu schnell für Sie und Ihre Kalteisenwaffen. Er ist auch schneller und gefährlicher als ich. Er würde Ihnen entkommen, ehe Sie es verhindern könnten. Er würde durch die Mauer dort verschwinden und das zu Ende bringen, was er mit der hübschen Kleinen vorhatte, und danach würde er weiter durchs Hotel ziehen auf der Suche nach der anderen Magie-quelle – und sobald er das Manuskript hat, würde er diese Welt in ein Abbild der seinen verwandeln. So er kann.“

„Sie würden das zulassen? Statt uns zu helfen?“ fragte McMullen.

Wieder schwieg Arpad eine Weile.

„Sie scheinen anzunehmen, ich könne Ihnen einfach so eine Lösung aus dem Hut zaubern. Eine Lösung, die der Herr Leutnant noch nicht einmal annehmen würde, wenn ich eine hätte. Ich kenne nur eine Art, einen wie ihn zu erlegen, und dazu muß er sich eines menschlichen Körpers bemächtigt haben. Das kann er. Doch ich rate Ihnen nicht, sich freiwillig zu melden. Menschen überleben das nicht. Die menschliche Rasse ist verwundbar und zerbrechlich.“

Er erhob sich.

„Ich werde Sie jetzt verlassen. Sie mögen es mir nicht glauben, doch ich habe Ihnen so weit geholfen, wie ich das vermag, und Ihnen mehr gesagt, als ich vorhatte. Seien Sie wachsam.“

Er verneigte sich und wandte sich zur Tür.

„Eine Frage noch“, sagte von Orven und vermied es, den Feyon anzusehen. „Warum haben Sie Miss Jarrencourt gerettet?“

Der Besucher lächelte ein wenig herablassend.

„Weil sie eine ...“ Er sah Delacroix’ Blick und begriff die dringende Bitte darin. Er hatte nicht vorgehabt, sie zu verraten. Sein Lächeln wurde breiter, und er hub noch einmal an: „Weil sie ein unschuldiges Mädchen ist und mein grauer Bruder sie sehr langsam zu Tode terrorisiert hätte, weil ich das deutliche Gefühl hatte, daß Ihr Colonel seine Aufgabe nicht genoß und weil“, er blickte von den Augen des Colonels in die des Leutnants, „die Welt ärmer wäre ohne sie, nicht wahr?“

Er verließ den Raum und schloß die Tür hinter sich.

Die vier Männer schwiegen eine Weile. Die jähe Abwesenheit des Gastes hatte fast ein Vakuum hinterlassen. Sein Fehlen war so deutlich zu spüren wie vorher seine Präsenz.

„Was meinten Sie damit, Sie wüßten nicht, was er sei, aber Sie hätten eine ziemlich gute Vorstellung von seinen Fähigkeiten und Talenten?“ fragte Delacroix und wandte sich McMullen zu.

„Ein Schuß ins Blaue. Ich habe keine Ahnung. Doch ich würde lieber nicht gegen ihn antreten müssen.“

„Da werden wir aber möglicherweise keine Wahl haben“, sagte Asko. „Obgleich ich von der Aufrichtigkeit seiner letzten Worte überrascht war.“

McMullen ignorierte ihn.

„Wir werden nicht umhin können, die zweite Magiequelle zu finden.“

„Nun“, sagte Asko. „Sie haben gesagt, im Hotel seien vier Sí-Emanationen festzustellen. Zwei haben wir schon getroffen. Also müssen wir noch einmal zwei treffen und überwältigen – wenn das möglich ist und sofern sie nicht alle zusammenarbeiten, was denkbar ist.“

Delacroix sagte nichts, sah nur unglücklich aus. McMullen nickte.

„Möglich. Aber unwahrscheinlich.“

Unwahrscheinlich, dachte Delacroix, sehr unwahrscheinlich. Aber sehr gut möglich.

Das Obsidianherz
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