Kapitel 26
Mrs. Parslow war entschlossen, den Tag zu genießen. Es war ihr nichts anderes übriggeblieben, als allein auszugehen, nachdem Corrisande nachhaltig behauptet hatte, sie könne das Haus nicht verlassen. Eliza wußte nicht, ob sie das glauben sollte. Es erschien ihr sonderbar. Doch als gesittete Dame aus gutem Hause wußte sie so gut wie nichts über etwas so degoutantes wie Magie. Das gesamte Konzept war ihr fremd, und sie war sich sicher, daß sie es auch gar nicht begreifen wollte.
Corrisande und sie stritten nicht oft. Im Grunde mochte sie die junge Frau. Vielleicht hätte sie ihr etwas mehr Verständnis entgegenbringen sollen. Doch immerhin hatte sie Schritte unternommen, um diese Farce zu beenden. Sie hatte es Corrisande noch nicht gesagt, wollte keine Diskussion heraufbeschwören. Marie-Jeannette würde früh genug zuviel erzählen. Wenn man Corrisandes außergewöhnlichen Lebensweg und ihre bisherige Karriere kannte, war es schwer zu begreifen, wie ungemein zimperlich sie in manchen Dingen sein konnte.
Eliza hatte immer ein ordentliches Leben geführt, über jeden Zweifel erhaben. Sie tat, was man eben tat, und wich dabei nicht einen Zentimeter breit vom Pfad der Tugend ab. Sie hatte nie gelernt, mit einem Messer umzugehen – oder mit einer anderen Waffe. So etwas war undamenhaft und unnötig. Sie war nicht verkleidet als Straßenjunge in Häuser eingebrochen, was Corrisande zu ihren wildesten Zeiten regelmäßig getan hatte, als sie sich noch nicht entschieden hatte, was sie mit ihrem zweigeteilten Leben letztlich anfangen wollte.
Dennoch hatte es das Mädchen wieder nicht geschafft, das wirklich Notwendige zu tun. Nicht wie Eliza, die immer das Notwendige getan hatte – für sich selbst, aber auch für Corrisande. Schließlich waren ihre Schicksale eng verknüpft. Sie würde ihre Begleiterin sein, als Anstandsdame beziehungsweise Tante fungieren, bis Corrisande einen gutsituierten Gatten gefunden hatte. So lautete die Abmachung, und man brach keine Abmachung mit dem „König“. Es war alles andere als zuträglich.
Natürlich freute sich Eliza auf die Zeit, wenn sie wieder ganz ihre eigene Herrin sein würde und ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen würde ausrichten können. Doch dafür brauchte man Geld, viel Geld, wenn man sich ein Leben in den Kreisen leisten wollte, in denen sie sich gerne bewegte. Das hieß, Corrisande mußte eine lukrative Verbindung eingehen.
Sie hatte sich das leichter vorgestellt. Freilich war Corrisande etwas älter, als Debütantinnen gemeinhin waren, etwas zu alt für den alljährlichen Jahrmarkt der Eitelkeiten, aber sie sah jung genug aus. Sie war anmutig und hatte gute Manieren. Sie würde eine äußerst anständige Mitgift von ihrem mysteriösen „invaliden“ Vater erhalten, und zudem war sie selbst nicht gerade arm. De Lacy hatte ihr damals eine nette Summe vor die Füße geworfen, und die kurze Zeit, in der sie sich als Sammlerin anderer Leute Juwelen betätigt hatte, hatte ihre Ressourcen in beachtliche Höhen anwachsen lassen. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie vielleicht nicht im größten Luxus, aber doch bequem gänzlich ohne einen Ehemann leben können.
In manchen Dingen jedoch war sie erstaunlich brav und tugendhaft. Seltsam, wenn man ihre Abstammung bedachte – aber vielleicht auch nicht. Eventuell waren es ja gerade diese außergewöhnlichen Umstände, die sie sich nach einem ruhigen, normalen Leben sehnen ließen, nach einem liebenden Gatten, nach einem geordneten Heim.
Eliza selbst war dreimal verheiratet gewesen, doch sie hatte immer gewußt, daß sie sich nur auf sich selbst verlassen konnte. Männer waren zu unbeständig. Natürlich war es angenehm, einen Gatten zu haben. In einer Gesellschaft, in der Männer das Sagen hatten, erleichterte es das Leben überaus. Eine unverheiratete junge Frau war nichts. Als Witwe eines gewissen Alters genoß sie jetzt weitaus mehr Freiheit, als sie in ihrer Jugend je gehabt hatte. Heiraten würde sie nicht mehr. Es war nicht mehr notwendig.
Liebe? Liebe wurde überschätzt, das hatte sie immer gefunden. Natürlich war da der körperliche Aspekt. Männer waren Tiere. Doch sie gab durchaus zu, daß sie die intime Zweisamkeit mit einem Mann bisweilen vermißte. Manches davon war recht angenehm. Sie würde zum richtigen Zeitpunkt wieder eine Affäre eingehen. Aber nicht jetzt. Nicht als Corrisandes Anstandsdame. Es war unmöglich.
Auch das war ein Grund, warum sie hoffte, daß sie in München reüssieren würden. Wenn das Mädchen erst einmal verheiratet war, konnte sie ihren Stil wieder verändern, vielleicht ihr Haar blondieren. Sie war sicher, daß sie einen Verehrer finden würde. Reiche Witwen fanden immer Verehrer. Natürlich nicht die Sorte, die man heiraten sollte, aber doch die Sorte, die einem das Dasein angenehm gestalten konnte.
Sie lächelte und nippte an ihrem Getränk. Das Tombosi kredenzte sehr guten Kaffee. Sie knabberte an einem Stück Apfeltorte. Sie war ebenfalls exzellent. Es war schade, daß Corrisande nicht dabei war. Die Gäste im Café gehörten der besten Gesellschaft an, man sah es an ihrem Stil, und sie paßte ausgezeichnet in dieses Umfeld.
Corrisande war schrecklicher Laune gewesen, als sie zurück in den Salon gekommen war. Ihr gelbes Kleid war staubig gewesen, aber sie hatte keine Erklärung dazu abgegeben. Sie war direkt an das Schreibpult getreten und hatte ihren Ring genommen, den sie dort liegengelassen hatte. Viel hatte sie nicht gesagt. Nur daß sie die Hintertür ausprobiert hatte und auch nicht weitergekommen war. Dann hatte sie sich erkundigt, ob Eliza vorhabe auszugehen, und sie gebeten, an einem Buchladen vorbeizuschauen und ihr ein Buch mitzubringen, das Dinge erklärte.
Was für Dinge, hatte Eliza ihr Protegé gefragt. Magische Dinge, hatte sie entgegnet. Sachen über die Fey und Zauber und so, und sie habe sich entschlossen, mehr über dieses Thema zu erfahren. Eliza war schockiert gewesen. Wenn irgend möglich sprach man über so etwas nicht. Je weniger man darüber wußte, desto besser. Aberglaube, Irrglaube der niederen Klassen. Auch glaubte sie nicht, daß die Lektüre eines Buches über „Magie und die Fey“ Corrisande in die Lage versetzen würde, einen Zauberspruch zu konterkarieren, der von einem professionellen Magier ausgesprochen worden war. So einfach konnte es nicht sein.
Doch Corrisande war nicht in der Laune gewesen, ihre Literaturauswahl zu überdenken. Sie hatte nur stumm und mürrisch dagesessen und ihren Ring in den Fingern gedreht. Irgend etwas hatte sie auf dem Herzen gehabt, und Eliza hätte zu gern gewußt, was es war.
Ihr Schützling jedoch hatte geschwiegen wie ein Grab. Also hatte Eliza sich entschlossen auszugehen, die Geschäfte und die Umgebung zu erkunden und sich einen netten Nachmittag zu machen. Allein. Daß sie Mme. de Rhins-Epitué in dem Etablissement getroffen hatte, war ein Extrabonus gewesen. Sie hatte sich nicht einmal anstrengen müssen. Mme. de Rhins-Epitué war von ganz allein auf sie zugekommen, hatte sie gefragt, ob es richtig war, daß sie sie mit Miss Jarrencourt zusammen gesehen hatte. Offenbar war es Corrisande im vergangenen Winter gelungen, einen ausnehmend guten Eindruck auf die Dame zu machen.
Ja, hatte sie geantwortet, sie sei die Tante der jungen Dame. Sie wären zur Ballsaison angereist und um eine ältere Verwandte zu besuchen, die in Possenhofen lebe. Der Name des Örtchens hatte einen guten Klang. Die Seitenlinie des Wittelsbacher-Geschlechtes lebte dort, die Eltern und Geschwister der Kaiserin Elisabeth von Österreich. Eliza prahlte ausdrücklich nicht damit, die erlauchte Familie persönlich zu kennen, und Mme. de Rhins-Epitué, die selbsternannte Meisterin der Interpretation, war beeindruckt ob so viel offensichtlicher Bescheidenheit.
Ob sie denn schon Einladungen für den Frühlingsball hätten, hatte die Dame gefragt. Er fände immer im Nymphenburger Schloß statt, der Sommerresidenz des Königs. In ein paar Tagen sei es wieder soweit.
Unglücklicherweise nein, hatte Mrs. Parslow geseufzt. Corrisandes Verwandte in Possenhofen habe sich darum kümmern wollen, doch sie sei in letzter Zeit recht leidend gewesen. Nun werde Corrisande wohl auf dieses erlauchte Vergnügen verzichten müssen. Traurig natürlich, vor allem für so ein junges Mädchen wie Miss Jarrencourt, aber man könne die alte Dame nicht so inkommodieren. Es werde noch genug Bälle geben.
Mme. de Rhins-Epitué war erfreulich hilfsbereit gewesen. Sie werde ihren Einfluß entsprechend geltend machen, hatte sie versprochen und sich dann von ihrer neuen Freundin verabschiedet. So ein hübsches und wohlerzogenes Mädchen wie Miss Jarrencourt dürfe bei einem solchen Anlaß nicht fehlen, hatte sie abschließend erklärt.
So lächelte Eliza glücklich, als sie ihren Kaffee trank. Ein wohlgenutzter Tag. Sie würde sich nun die exquisiteste Schneiderei aussuchen und ein neues Ballkleid bestellen. Irgend etwas Würdevolles und doch Subtiles.
Endlich fingen die Dinge an, so zu laufen, wie sie sollten.