Kapitel 86
Er nahm sich viel Zeit zum Sterben. Von dem Moment an, in dem die Kugel sein Herz getroffen hatte, bis zu dem, als ein kleines Kalteisenmesser aus seiner Kehle ragte, hatte er Gelegenheit genug, den Korridor in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Einschlagskrater in den Wänden. Rauchende Läufer. Zersplitterte Türen, die schief in den Angeln hingen. Was an Möbeln auf dem Gang gestanden hatte, lag in Stücken und Scherben.
„Ist er jetzt tot?“ fragte Delacroix.
„Er ist tot“, entgegnete Arpad. Sein Antlitz war starr vor Trauer. Er sah voller Zerknirschung auf den blutüberströmten Leichnam ihres Feindes. „Es tut mir leid“, sagte er leise. „Es tut mir so leid.“
Von Orven schnaubte verächtlich.
„Dann wundert es mich, daß Sie nicht die Seiten gewechselt haben“, sagte er.
„Er wollte uns alle auslöschen. Sie wären nur versklavt worden. Er haßte meine Art mehr als Ihre, obgleich ich sicher bin, daß ihn von uns niemand so schlecht behandelt hat wie Ihre Rasse, Herr Leutnant.“
Graf Arpad lehnte sich an die Wand, um sich abzustützen. Er war den Geschossen mit fast schmerzlicher Geschwindigkeit ausgewichen. Seine schnellen Bewegungen hatten sowohl Steinbergs Konzentration als auch sein Feuer von den Menschen abgelenkt. Doch er war noch verletzt. Er humpelte ein wenig und senkte seine Augenlider über einem Blick, der in seiner Intensität etwas Raubtierhaftes hatte.
McMullen trat zu ihm. Er sah müde und blaß aus und massierte sich die Schläfen.
„Ich scheine eine spannende Schlacht versäumt zu haben“, kommentierte er und besah sich die Zerstörung um sie herum. „Ich frage mich, ob die bayerische Obrigkeit die Renovierungskosten übernehmen wird.“
„Oder die britische“, schoß von Görenczy zurück. Er hatte vorsichtig den Uniformrock abgelegt und besah sich seinen Arm. Das Geschoß hatte tatsächlich nur den Stoff durchschlagen. Trotzdem hatte er einen gewaltigen schwarzen Bluterguß unterhalb des Bizeps. Er sah übel aus.
„Tut weh, was?“ fragte Asko.
„Ja. Hätte aber schlimmer kommen können. Einen Zentimeter näher, und ich hätte keinen Arm mehr. Das hätte doch gestört“, entgegnete Udolf. „Trotzdem werde ich wohl eine Weile mit Links schießen und fechten müssen.“
„Wenn wir Glück haben, werden wir ein Weilchen gar nicht schießen und fechten müssen“, sagte Delacroix.
McMullen streckte die Hände aus. Im gleichen Augenblick lag eine Schriftrolle darin. Stille senkte sich über die Gruppe. Sie sahen das Artefakt, das aus dem Nichts gefallen war, nervös an. Das Manuskript, das die Tore der Hölle öffnete oder die Welt komplett veränderte. Die drei Offiziere traten einen Schritt zurück, ohne darüber nachzudenken, und der Sí musterte es interessiert, hielt dabei aber seinen Blick sorgfältig indifferent. Es sah unspektakulär aus. Ein zusammengerolltes Pergament. Die Enden waren mit gestempeltem Wachs gesiegelt.
„Das ist es also“, sagte Delacroix. „Es hat viele Leute das Leben gekostet.“
„Es hätte unseres kosten können“, gab McMullen zurück und besah sich das Pergament. „Ich kann mich an die zweite Hälfte dieses Kampfes nur undeutlich erinnern, doch ich muß sagen, ich bin erstaunt, daß wir noch am Leben und beinahe unverletzt sind.“ Er hielt inne. „Was natürlich gut ist, denn wir müssen dieses Ding ja noch nach England expedieren, und wer weiß, wer sonst noch darauf Wert legt. Wir sind noch nicht fertig.“
Wieder war es still.
„Was machen wir jetzt?“ fragte von Orven.
„Zuerst schauen wir uns dieses Zimmer an. Der Mann war ein Meister des Arkanen – vielleicht nicht offiziell, aber doch seiner Begabung nach. Ich muß prüfen, was er hier alles vorbereitet hat. Ich denke nicht, daß es noch gefährlich wird, aber man weiß nie. Delacroix, nehmen Sie solange das Manuskript, während ich das Zimmer untersuche. Es wäre mir lieb, wenn einer von Ihnen mir beistünde, während ich Steinbergs Höhle inspiziere.“ Er reichte die Rolle Delacroix, der sie mit einem Blick entgegennahm, als gäbe man ihm glühende Kohlen zu halten.
„Ich komme mit Ihnen mit, wenn Sie möchten“, bot sich Graf Arpad an.
McMullen sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. Dann nickte er.
„Danke. Ich bin dankbar für Ihre Hilfe. Für all Ihre Hilfe. Ausnehmend dankbar.“
Fast erwartete er, daß von Orven sich gegen eine Einmischung des Sí äußern würde, doch der junge Mann schwieg. Er war damit beschäftigt, sein Messer an sich zu nehmen. Er reinigte es akribisch mit einem Taschentuch und sah dabei angewidert aus.
McMullen ging zur Tür, öffnete sie und spähte in den Raum. Dann kletterte er über den am Boden liegenden Leichnam ihres Feindes. Im Zimmer herrschte wilde Unordnung. Kupferstücke an Schnüren kreisten rasend durch die Luft, andere waren geschmolzen. Der Teppich schwelte, wo das geschmolzene Kupfer ihn getroffen hatte. Auf dem Tisch lag Sand. Er war zu einem hohen, steilen Kegel aufgeworfen, der in einer erstaunlichen Spitze endete.
McMullen trat näher.
„Nicht anfassen“, erinnerte ihn der Sí.
„Hatte ich nicht vor“, antwortete McMullen. „Das hätte einstürzen müssen. Sand hält nicht von allein so. Das ist unnatürlich.“
Sie umkreisten den Tisch behutsam. Graf Arpad wirkte wie ein Raubtier vor dem Sprung – und dann sprang er auch schon, allerdings seitwärts, und fing McMullen ab, der auf seinen Füßen schwankte.
„Lieber Himmel“, sagte McMullen. „Fühlen Sie das auch?“
„Ja“, sagte der Sí und schnitt eine schmerzliche Grimasse. Vielleicht hatte der Sprung seinem Bein noch nicht gut getan. „Doch ich muß gestehen, daß ich nicht ermessen kann, wozu es gut sein soll.“
„Ich auch nicht. Das Problem ist, machen wir es kaputt oder sollen wir es so lassen und erst einmal seinen Zweck ermitteln?“
Graf Arpad zuckte die Achseln.
„Ich weiß nicht“, sagte er. „Ich habe Ihre Wissenschaft nicht studiert. Steinberg schon. Sand ist – für mich – nur Sand, kein Konzentrationsmedium, keine Substanz, um damit Zauber zu weben. Der Gebrauch von Hilfsobjekten zum Erreichen eines magischen Ziels ist eine menschliche Praxis. Eventuell ist das einer der Hauptunterschiede zwischen unseren Kräften. Menschliche Meister des Arkanen sind Wissenschaftler. Für uns ist das Verschieben der physikalischen Gesetze zu einem bestimmten Zweck eher eine persönliche Kunst, keine studierbare Wissenschaft. Wir forschen nicht, bauen keine Experimente oder Versuchsanordnungen auf. Wir wissen, was wir wissen, und alles andere ist uns unwichtig. Doch ich gebe zu, daß diese kleine Pyramide recht ominös ist.“
„Eine Kunst, keine Wissenschaft“, wiederholte McMullen fasziniert. „Das klingt spannend. Wenn das hier vorbei ist, freue ich mich auf eine gute Diskussion mit Ihnen. Ich weiß wenig über Sie und Ihre Kunst.“
Der Feyon lächelte böse.
„Dabei werden wir es auch bewenden lassen. Wissen über uns wird immer gegen uns verwendet. Wenn das hier vorbei ist, werden wir beide wieder unserer Wege gehen, in unterschiedliche Richtungen. Ich bin kein wirklich ... geselliger Mann.“
„Was sind Sie ... wirklich?“ fragte McMullen und lächelte den Mann an, den er zu respektieren begonnen hatte.
„Der Mann, der Cérise Denglot liebt. Sie ist Teil dieses Ganzen, und so mußte ich es auch werden, und sei es nur, um sie aus Problemen herauszuhalten. Sie hat ein Talent, sich in Gefahr zu begeben.“
McMullen grinste.
„Das kann ich bestätigen“, sagte er und schenkte dem geheimnisvollen Mann einen sprechenden Blick.
Dann sagten beide vollkommen gleichzeitig: „Bleiben Sie, wo Sie sind, Delacroix, kommen Sie mit dem Manuskript nicht näher.“
Keiner der beiden hatte sich auch nur zur Tür umgewandt.
„Wir brauchen einen Plan“, sagte Delacroix von der Tür her. „Ich würde gerne schon morgen den Zug nach Paris nehmen und von dort aus nach England fahren. Der erste Zug geht am späten Vormittag. Können wir das schaffen? Die Herren Leutnants haben Order, mich nach England zu begleiten, um mir Rückendeckung zu geben, genauer gesagt, uns.“
Ohne sich zu seinem Kameraden umzudrehen antwortete McMullen: „Ich möchte nicht abreisen, ehe ich diesen Raum gesichert habe. Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich dafür benötige. Auf der anderen Seite sollten Sie nicht ohne mich abfahren. Vielleicht können wir die Entscheidung noch etwas verschieben.“
„Wie werden wir es heute nacht machen? Können Sie das Manuskript sichern oder verstecken?“
„Nicht so gut, wie es versteckt war. Doch ich werde mein Bestes tun. Wir sollten uns einen Raum aussuchen, den so gut wie möglich sichern und uns mit der Überwachung ablösen.“ Er wandte sich an den Sí. „Können wir mit Ihrer Unterstützung rechnen?“
„Ich werde Sie nicht nach London begleiten“, erwiderte der Feyon, „und wenn wir mit diesem Zimmer fertig sind, würde ich gerne einen Bissen zu mir nehmen. Der Angriff und meine Verletzung haben mich Kraft gekostet, und ich neige dazu, ein wenig launisch zu werden, wenn ich hungrig bin.“
„Tun wir das nicht alle?“ fragte McMullen, und der schmale junge Mann lächelte ihn mit geschlossenen Lippen belustigt an.
„Wir haben noch Essen auf unserem Zimmer“, sagte Delacroix.
Der Feyon drehte sich zu ihm um, sein Lächeln war unverändert.
„Danke, Colonel, aber ich halte mich lieber an meine eigene Fourage. Ich bin ein bißchen eigen. Für mich muß Nahrung besonders frisch sein.“
„Wie Sie wollen“, erwiderte Delacroix. „Von Görenczy ist losgegangen, um die Polizei zu informieren, daß es noch einmal zwei Leichen abzuholen gibt, und die Hotelleitung sollte erfahren, daß sie ein Stockwerk renovieren muß. Was machen wir jetzt mit diesem Zimmer?“
McMullen fixierte den Tisch wie ein Kaninchen die Schlange.
„Wenn ich das wüßte!“ brummte er. „Wenn ich das wüßte.“
Vom Gang waren Schritte zu vernehmen. Es war Cérise. Delacroix beobachtete, wie sie vorsichtig auf sie zu kam und dabei ihre Röcke gerafft hielt, um sie in der Verwüstung nicht schmutzig zu machen. Sie sah sich irritiert um.
„Mon Dieu“, sagte sie zu den Männern. „Kann man Sie denn keine halbe Stunde allein lassen, ohne daß Sie das beste Hotel der Stadt in Schutt und Asche legen? Was ist denn geschehen?“
„Steinberg war etwas weniger tot, als wir gehofft hatten. Die Kugel in seinem Herzen hat ihn nicht gesund, aber doch äußerst munter gemacht“, antwortete Delacroix.
„Du lieber Himmel. Es sieht auch munter aus. Das ist ja ein Schlachtfeld. Ist jemand verletzt?
„Nun, von Görenczy hat einen Bluterguß am Arm, und Graf Arpad ...“
„Was?“ rief sie, und da war er auch schon, nahm sie in die Arme und scherte sich nicht darum, daß Asko und Delacroix zusahen.
„Es geht mir gut, meine Schöne“, murmelte er und küßte sie, „keine Sorge. Ich bin in Ordnung und – rechtschaffen hungrig.“
Mit Mühe löste er sich wieder von ihr, und von Orven wandte seinen Blick ab, pikiert ob der Zurschaustellung viel zu privater Leidenschaft. Das Benehmen des Feyons wies eine Zügellosigkeit auf, die ihm zutiefst zuwider war. Es war so weit entfernt von normaler Zucht und Ordnung, daß er es nicht einmal diskutieren mochte.
Delacroix sagte auch nichts.
„Was ist mit Miss Jarrencourt?“ fragte er. „Wie geht es ihr?“
„Oh“, sagte Cérise und stand Hand in Hand mit ihrem Liebhaber. „Tut mir leid. Ich war abgelenkt. Ich habe sie nicht gefunden.“
„Nicht gefunden?“ Delacroix klang mißbilligend.
„In ihrem Zimmer ist sie nicht. Ihre Zofe hat sie nicht gesehen und ist sie in den Bedienstetenquartieren suchen gegangen. Schließlich kann sie ja nicht so, wie sie war, das Haus verlassen haben, nicht wahr? Sie hatte keine Schuhe an, es schneit, und ihr Kleid war blutbefleckt und völlig zerrissen. Sie kann also nicht weit sein. Höchstwahrscheinlich versteckt sie sich irgendwo und will nicht gefunden werden. Verständlich unter den gegebenen Umständen.“ Sie fixierte Asko vorwurfsvoll, der vernünftig genug war, seinen Blick zu senken und rot anzulaufen.
Sie schwiegen.
„Wir müssen sie suchen“, sagte Delacroix. „Bist du sicher, daß die Zofe nicht weiß, wo sie ist?“
„Sie sagte, sie glaube, sie sollte es wissen, könne sich aber nicht erinnern. Sie war durcheinander und nicht klar zu verstehen.“
Asko wandte sich ihr zu.
„Sie hatte gestern einen Gedächtnisausfall. Jemand hatte sie geschlagen, und sie konnte sich nicht entsinnen wer. Ich hatte Sie davon informiert. Sie hat gesagt, ihr fehle etwa eine halbe Stunde aus ihrem Gedächtnis.“
McMullen war nun auch wieder am Türrahmen.
„Das hätten wir gleich untersuchen sollen“, sagte er.
„Gewiß. Aber es ist soviel geschehen, und da ist es mir wieder entfallen. Außerdem war ich gar nicht sicher, ob sie die Wahrheit gesagt hat. Ich wollte Vonderbrück fragen, aber der ...“
„Aber es war wichtig! Wenn jemand mit ihrem Erinnerungsvermögen herumgespielt hat, dann entweder ein Meister des Arkanen oder ein Sí.“
Alle sahen Arpad an, doch der schüttelte den Kopf und hob die freie Hand in einer abwehrenden Geste.
„Ich nicht. Doch ich bin Fachmann, was Erinnerungen angeht. Ich werde zu ihr gehen und mit ihr reden.“ Er wandte sich Cérise zu. „In den Gesindequartieren hast du gesagt?“
„Ja. Ich komme mit.“
„Nein. Du bleibst hier bei Delacroix.“
„Ich bleibe bei Delacroix“, wiederholte sie träumerisch und stellte sich neben ihren Ex-Liebhaber, der ihren Gehorsam mit rundäugigem Erstaunen quittierte.
Humpelnd verschwand der dunkle Mann die Treppen nach oben.
„Ich muß sagen“, erklärte Delacroix, „er scheint der richtige Mann für dich zu sein. Bei mir hast du nie getan, was ich gesagt habe.“
Die Sängerin sah ihn verständnislos an und schwieg. Er war nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatte.
„Jedenfalls“, fuhr Delacroix fort, „mache ich mir Sorgen um Corrisande ... Miss Jarrencourt.“ Er wandte sich an McMullen. „Können Sie sie nicht spüren? Ihre Aura finden?“
„Nicht von hier aus und nicht jetzt gleich“, war die Antwort. „Die gesamte Atmosphäre des Gebäudes ist nach dieser Schlacht in Aufruhr.“
Ein surrendes Geräusch ertönte, und er drehte sich wieder dem Raum zu. Die kreisenden Objekte kamen zum Stillstand. Der Sandkegel hob vom Tisch ab und drehte sich immer schneller um die eigene Achse. Im nächsten Augenblick flog er mit der Spitze voran wie ein Geschoß durchs Fenster und verschwand in der Nacht. Bis das letzte Geräusch splitternden Glases verklungen war, war das Gebilde vollständig und spurlos verschwunden.
„Oh je“, sagte McMullen. „Ich wüßte zu gern, was es jetzt tun wird.“