Kapitel 74

Marie-Jeannette war dabei, einen Riß in Corrisandes Kornblumenkleid zuzunähen. Das Kleidungsstück sah recht mitgenommen aus. Es hatte auf der Jagd im Keller gelitten, und Corrisande hatte darin geschlafen.

Sie mußte aufhören, Kleider zu ruinieren. Die Sache mit dem gelben Kleid war schon unerfreulich gewesen. Marie-Jeannette hatte es nicht über sich gebracht, es zu verbrennen. Sie hatte es einem Dienstmädchen gegeben, das auch unter dem Dach logierte. Das Mädchen würde es in Ordnung bringen und veräußern können. Es war immerhin ein kostspieliges Kleid gewesen. Miss Jarrencourts Garderobe war edel und teuer.

Die Tür öffnete sich, und Mrs. Parslow trat ein. Marie-Jeannette stand nicht von der Arbeit auf, nickte nur kurz zum Gruß. Sie mochte die hochnäsige Gesellschafterin nicht, hatte sie nie gemocht und verstand nicht, wie Corrisande sich mit ihr belasten konnte. Sie war ja vielleicht nützlich, aber ihre kalte Art machte sie unangenehm.

Seltsamerweise empfanden die meisten Leute das nicht so. Sie fanden sie freundlich und charmant. Sie war eine kluge Frau, belesen und, wenn sie wollte, sogar humorvoll. In einem literarischen Salon wäre sie die ungekrönte Königin gewesen, hätte sie die Möglichkeit gehabt, eine solche Institution zu initiieren. Die perfekte Gastgeberin, die ihre Gäste unterhielt, sie den richtigen Leuten vorstellte und Mittelpunkt eines kulturellen Treibens war, zu dem sie selbst nichts beizutragen hatte.

Da sie sich aber in der Wahl ihrer Gemahle vergriffen hatte, war diese Karriere an ihr vorbeigegangen. Jungen Künstlern eine Gastgeberin zu sein, dazu brauchte man Geld, und wenn Mrs. Parslow Geld gehabt hätte, hätte sie nicht die Anstandsdame für Corrisande gespielt und sich älter gemacht, als sie war.

„Wo ist Miss Jarrencourt?“ fragte Mrs. Parslow. Sie klang besorgt.

„Ich weiß nicht. Vielleicht ist sie ausgegangen. Ich bin selbst eben erst wiedergekommen. Vielleicht ist sie nur für ein paar Minuten nach unten gegangen?“

„Du liebe Zeit“, jammerte Mrs. Parslow. „Sie sollte wirklich eine Nachricht hinterlassen. Man macht sich ja Sorgen. Gestern erst hat dieser Kerl sie so übel angegriffen. Sie sollte nicht allein das Zimmer verlassen, solange er noch in der Nähe ist. Was tun wir nur? Wir sollten sie suchen!“

„Sie kann nicht weit weg sein. Ihr Mantel ist noch da. Warum sollte sie auch um diese Zeit draußen im Regen spazierengehen? Sie kommt gewiß gleich wieder“, sagte Marie-Jeannette. „Vielleicht hat sie ja den netten Leutnant getroffen. Wahrscheinlich stehen sie in irgendeiner dunklen Ecke, küssen sich und wollen nicht gefunden werden.“

Mrs. Parslow warf ihr einen entrüsteten Blick zu.

„Gewiß nicht. Im Gegensatz zu dir weiß sie sich zu benehmen, und Leutnant von Orven ist ein ehrenhafter junger Mann. Er würde ihr nicht so zu nahe treten.“ Sie sah sich angespannt um. „Nein. Du kommst besser mit. Wir werden sie suchen. Es gibt so viele Orte hier im Hotel, an denen sie sich aufhalten könnte. Ich möchte nicht, daß ihr etwas zustößt. Das, was sie gestern erleben mußte, war weiß Gott schlimm genug. Also, bitte, komm jetzt!“

Der letzte Satz war eindeutig eine Anweisung, und Marie-Jeannette seufzte. Sie wußte, daß Corrisande sie nicht auf die Straße setzen würde, wenn sie einem Befehl von Mrs. Parslow nicht Folge leistete, doch es war wahrscheinlich weniger beschwerlich, das ganze Hotel von oben bis unten zu durchsuchen als sich auf einen heftigen Streit mit der Gesellschafterin einzulassen.

Mrs. Parslow öffnete die Tür und dirigierte Marie-Jeannette nach draußen.

„Wir sollten uns beeilen“, sagte sie. „Ich will nicht, daß ihr etwas passiert.“

Sie eilte den Flur entlang, und Marie-Jeannette folgte ihr. Einen Augenblick später trat ihr ein großer, dunkler Mann in einer Kutte in den Weg. Sie glaubte für nur eine Sekunde, sich an ihn zu erinnern, doch dann war der Gedanke wieder verschwunden. Sie wußte aber instinktiv, daß sie nichts mit ihm zu tun haben wollte. Er war wie ein Alptraum, dem man plötzlich in natura begegnete. Sie erschrak und versuchte, ihm auszuweichen.

Er ergriff sie, hielt sie fest und drehte ihr die Arme nach hinten, so daß sie fast brachen.

Sie begann, vor Schmerz zu schreien. Halb erwartete sie, daß Mrs. Parslow sich einmischen würde, doch die Dame kam ihr nicht zu Hilfe. Sie stand nur gegenüber an die Wand gepreßt, direkt neben einer Tür.

Diese Tür öffnete sich behutsam, und von Görenczy spitzte heraus, zielte mit seiner Schußwaffe auf mögliche Angreifer. Er sah, wie der Mönch Marie-Jeannette in quälendem Griff gefangenhielt. Sie schrie immer noch vor Angst und vor Schmerz.

„Helfen Sie uns“, sagte eine Stimme direkt neben ihm, und Udolf erkannte Miss Jarrencourts Gesellschafterin. „Bitte. Dieser Mann hat uns ohne Grund angegriffen!“

Er stürmte aus dem Zimmer, die Waffe in der Hand. Von irgendwoher aus dem Flur traf ihn etwas am Kopf, und er wirbelte herum, konnte jedoch keinen Angreifer ausmachen, nur eine Türöffnung, von der aus man ihn beworfen hatte.

Inzwischen stand auch von Orven an der Tür. Seine Augen waren groß vor Überraschung. Ihr einstiger Gefangener war wieder aktiv.

„Lassen Sie das Mädchen los!“ rief er und sah, wie sein Kamerad schon auf dem Weg zu einer halboffenen Tür war. Chevaulegers waren entschieden zu unüberlegt.

„Nein“, antwortete der Klosterbruder. Er hatte einen fremdartigen Akzent. Er hielt die junge Frau vor sich und bog ihr mit einer Hand die Arme auf den Rücken, während die zweite sie brutal am Nacken gepackt hatte. Die Zofe war dunkelrot im Gesicht, Tränen liefen ihr über die Wangen. Offenbar tat er ihr sehr weh, denn sie schrie noch immer.

„Lassen Sie sie los, oder ich schieße!“ befahl von Orven und fühlte sich zerrissen dabei. Er sollte schießen und nicht lange reden. Aber es widerstrebte ihm, einen Mann der Kirche niederzuschießen. Das wollte er vermeiden. Er verstand nicht, was vor sich ging, nur daß er reagieren mußte und nicht wußte, wie und worauf genau.

Doch er mußte dem Mädchen helfen. Er trat auf den Hünen zu, der das Mädchen daraufhin wie ein Stück flüchtigen Unrat von sich schleuderte. Sie fiel hart direkt hinter Udolf, der sich darauf zu ihr umdrehte.

Eine neue Stimme ertönte: „Hören Sie mit dem Unsinn auf und kommen Sie zurück! Das ist eine Falle.“

Weder der eine noch der andere Leutnant war jedoch in der Lage, dem Befehl sofort Folge zu leisten. Von Orven war gerade mit einer einzigen flinken Bewegung entwaffnet worden und befand sich seitdem im Nahkampf mit einem Mann, der weitaus größer und kräftiger war als er. Ringkampf war nicht seine Stärke, und er hatte es verpaßt, seinen Gegner mit einem gezielten Boxhieb außer Gefecht zu setzen.

Von Görenczy hatte sich nur einen Augenblick lang zu dem Mädchen umgedreht, und schon fiel er, als eine Art Knüppel ihn in den Kniekehlen traf. Es gelang ihm gerade noch, sich im Fallen zu drehen, was ihm einen weiteren Hieb mit einem Holzstück auf den Kopf ersparte. Dafür stürzte er auf die Zofe, und ihre erneuten Schreie veranlaßten ihn, sich mit ihr zusammen rasch zur Seite zu rollen und sie somit zumindest vor weiteren Wurfgeschossen zu behüten, die sein verborgener Angreifer auf ihn niederprasseln ließ.

Delacroix stand an der Tür. Er hatte die Pistole in der Hand, konnte jedoch nicht schießen, ohne Gefahr zu laufen, einen seiner eigenen Männer in dem Durcheinander zu treffen. Neben der Tür sah er Mrs. Parslow, die mit angstgeweiteten Augen an der Wand kauerte. Er zog sie hinter sich ins Zimmer, um sie zu schützen.

Dann griff er in den Kampf ein, in der Hoffnung, ihn zu beenden.

Eliza unterdrückte ein Lächeln. Das war leicht gewesen. Sie sah sich um und erstarrte. Es war noch ein Mann im Raum. Das hatte sie nicht erwartet. Ihre Blicke kreuzten sich, und plötzlich wußte sie, daß sie ihn schon einmal getroffen hatte, vor langen Jahren.

Der damals angehende Magier war ein Freund ihres ersten Mannes gewesen. Worringham hatte ihn ihr vorgestellt. Doch der Mann war vollständig aus ihrem Leben verschwunden. Er hatte sie nicht gemocht, dessen war sie sich sicher, und sie hatte mit einem Mann, der einen so übelbeleumdeten Beruf erlernte, keinen Umgang pflegen wollen.

Sie spürte, daß er wußte, wer sie war. Sie starrten einander in die Augen, und sie erkannte die Schuld in seinen. Er fühlte sich schuldig. Schuldig ihr gegenüber.

„Mrs. Worringham“, sagte er mit einem fast schamhaften, reuigen Lächeln und verneigte sich. Eine plötzliche Erkenntnis überflutete ihre Erinnerungen. Sie hatte fünfundzwanzig Jahre dazu gebraucht, doch nun verstand sie. Er war es gewesen. Er hatte damals eingegriffen, sich an ihrem Denken zu schaffen gemacht, ihr Wollen und Wünschen verdreht. Er hatte ihr Leben verändert. Er war mit seiner abscheulichen Magie gegen sie vorgegangen, und sie hatte all das verloren, was sie sich aufgebaut und wonach sie gestrebt hatte. Ihre momentane Lage war ganz allein seine Schuld.

„Sie!“ fauchte Eliza. „Sie waren das. Ich weiß es!“

Sie trat blitzschnell auf ihn zu, die Hand erhoben, als wollte sie ihn ohrfeigen, und wünschte sich nichts so sehr, wie ihn tatsächlich zu schlagen. Sie wollte ihm weh tun, ihm all den Schmerz und die Enttäuschung zurückgeben, die er verursacht hatte.

„Ja“, entgegnete er. „Aengus McMullen. Wir haben uns vor langer Zeit kennengelernt.“

Er stand neben einem Tisch, auf dem die goldschimmernde Schachtel stand, die sie stehlen sollte. Nur konnte sie sie nicht stehlen, denn er stand direkt daneben. Der Kleriker war falsch informiert gewesen. Er hatte gesagt, sie hätten keinen Magier, doch sie hatten sehr wohl einen.

„Sie haben mir das angetan“, zischte sie. „Leugnen Sie nicht! Das waren Sie. Sie haben mich dazu gebracht, diesen erfolglosen Dummkopf zu heiraten.“

Er räusperte sich peinlich berührt und nickte dann, sah sie bekümmert an.

„Es tut mir leid. Ich hätte es nie tun dürfen. Aber ich hatte nicht geahnt, daß Sie ihm eine so schlechte Gattin sein würden. Sie haben ihn getötet.“ Es klang nicht wie eine Frage.

„Das ist Ihre Schuld! Sie hatten kein Recht, sich einzumischen“, zischte sie, dachte gar nicht daran, seine Anschuldigung abzustreiten. „Alles, was mir im Leben passiert ist, ist mir Ihretwegen geschehen. Sie haben all das losgetreten mit Ihrem abscheulichen, unnatürlichen Gepfusche. Sogar dies!“

Sie ergriff die Schachtel, ehe er sie davon abhalten konnte, schwang sie mit einer wütenden, runden Bewegung. Sie traf ihn an der Schläfe, und er fiel lautlos.

Der Riegel des Kastens sprang auf, und ein schimmernder, wabernder Schatten floß daraus hervor, hob sich, wuchs zu einer großen Gestalt. Direkt vor ihr stand er. Sie erschrak, war zu überrascht, um aufzuschreien. Kein Manuskript – nur die Bestie, die die Männer gejagt hatten. Sie stand flimmernd zwischen ihr und dem ohnmächtigen Magier und sah aus, als müsse sie erst eine Entscheidung fällen.

Dann bäumte sie sich auf, wurde zu einer dünnen Linie und schoß sich selbst pfeilschnell in weiches Fleisch.

„Du lieber Himmel!“ rief Mrs. Parslow aus.

Das Obsidianherz
titlepage.xhtml
Cover.html
Copyright.html
Danksagung.html
Europa_1865.html
Handelnde_Personen.html
Einleitung.html
Kapitel_1.html
Kapitel_2.html
Kapitel_3.html
Kapitel_4.html
Kapitel_5.html
Kapitel_6.html
Kapitel_7.html
Kapitel_8.html
Kapitel_9.html
Kapitel_10.html
Kapitel_11.html
Kapitel_12.html
Kapitel_13.html
Kapitel_14.html
Kapitel_15.html
Kapitel_16.html
Kapitel_17.html
Kapitel_18.html
Kapitel_19.html
Kapitel_20.html
Kapitel_21.html
Kapitel_22.html
Kapitel_23.html
Kapitel_24.html
Kapitel_25.html
Kapitel_26.html
Kapitel_27.html
Kapitel_28.html
Kapitel_29.html
Kapitel_30.html
Kapitel_31.html
Kapitel_32.html
Kapitel_33.html
Kapitel_34.html
Kapitel_35.html
Kapitel_36.html
Kapitel_37.html
Kapitel_38.html
Kapitel_39.html
Kapitel_40.html
Kapitel_41.html
Kapitel_42.html
Kapitel_43.html
Kapitel_44.html
Kapitel_45.html
Kapitel_46.html
Kapitel_47.html
Kapitel_48.html
Kapitel_49.html
Kapitel_50.html
Kapitel_51.html
Kapitel_52.html
Kapitel_53.html
Kapitel_54.html
Kapitel_55.html
Kapitel_56.html
Kapitel_57.html
Kapitel_58.html
Kapitel_59.html
Kapitel_60.html
Kapitel_61.html
Kapitel_62.html
Kapitel_63.html
Kapitel_64.html
Kapitel_65.html
Kapitel_66.html
Kapitel_67.html
Kapitel_68.html
Kapitel_69.html
Kapitel_70.html
Kapitel_71.html
Kapitel_72.html
Kapitel_73.html
Kapitel_74.html
Kapitel_75.html
Kapitel_76.html
Kapitel_77.html
Kapitel_78.html
Kapitel_79.html
Kapitel_80.html
Kapitel_81.html
Kapitel_82.html
Kapitel_83.html
Kapitel_84.html
Kapitel_85.html
Kapitel_86.html
Kapitel_87.html
Kapitel_88.html
Kapitel_89.html
Kapitel_90.html
Kapitel_91.html
Kapitel_92.html
Kapitel_93.html
Kapitel_94.html
Kapitel_95.html
Kapitel_96.html
Epilog.html
Glossar.html