Kapitel 72

Eliza starrte auf das Schachbrett.

„Kommen Sie, meine Tochter“, schalt der Priester auf recht freundliche Weise. „Sie konzentrieren sich nicht richtig, und das sollten Sie schon. Ich habe Ihnen doch gerade erklärt, wie die Dame zieht. Damen ziehen ist einfach. Das haben Sie ja gerade gesehen, und auch Könige stellen keine allzu große Gefahr dar. Mit den richtigen Zügen kann man sie immer schachmatt setzen.“

Er kicherte.

„Sie sagen also, die kleine Corrisande mag Delacroix? Mag sie ihn sehr?“

Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern fuhr fort: „Ich habe sie im Speisesaal gesehen. Ein hübsches Ding. Wirkt wohlerzogen und charmant, wenn man nicht weiß, was sie wirklich ist. Glauben Sie nicht, daß Delacroix vielleicht doch ihre Gefühle erwidert?“

Eliza schob eine zufällige Schachfigur ein Feld weiter.

„Er hat sich ihr gegenüber nicht untadelig verhalten. Doch mit Liebe hat das von seiner Seite aus sicher nichts zu tun, zumindest würde mich das sehr verblüffen. Keine Liebe, aber Libido, Leidenschaft“, sagte sie bedächtig. Es machte ihr keinen Spaß, Details aus Corrisandes Leben mit diesem Mann zu diskutieren. Aber Spaß hatte nichts damit zu tun. Sie mußte sehen, wo sie blieb.

„Libido und Leidenschaft“, wiederholte er. „Das ist gut. Das trübt das Denken. Delacroix wird leichter zu handhaben sein, wenn seine Gedanken sich mit etwas anderem beschäftigen. Sie sagten, von Orven hätte um ihre Hand angehalten?“

„Nein, faktisch nicht. Nach nur einem Tag bittet man niemanden um seine Hand. Er hat feierlich darum ersucht, sie besser kennenlernen zu dürfen. Ich habe keinen Zweifel, daß er eine Verbindung anstrebt. Er ist die Sorte Mann. Zuverlässig und achtbar.“

„Schachmatt“, sagte Pater Emanuele und schnippte den König um. „Sie haben nicht aufgepaßt. Ich weiß, das Spiel ist Ihnen neu, aber ich muß sagen, Sie enttäuschen mich ein wenig. Ich hätte erwartet, daß Sie schneller lernen. Sie können das. Sie müssen sich nur konzentrieren. Also. Ein zuverlässiger, achtbarer Mann, der um ihre Hand anhalten will. Man muß ihm sagen, was sie ist. Doch wahrscheinlich macht es keinen Unterschied mehr.“

Eliza lehnte sich zurück.

„Hochwürden“, sagte sie. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie mich für immer hier festhalten wollen. Ich habe mich einverstanden erklärt, für Sie zu arbeiten. Warum lassen Sie mich nicht einfach gehen? Man wird mich vermissen.“

„Das ist denkbar, Mrs. Parslow. Aber ich will Sie doch lieber hier haben, wenn ich die Informationen bekomme, auf die ich warte. Stellen Sie die Schachfiguren wieder auf. Wir werden es noch einmal versuchen, und diesmal bitte ich Sie herzlich, sich zu konzentrieren. Stellen Sie sich vor, Sie spielten um Ihr Leben. Vielleicht hilft Ihnen das, Ihre Gedanken zusammenzuhalten. Sie fangen an.“

Sie haßte das Spiel wie alle Spiele, die zu nichts führten. Der Mann ihr gegenüber hatte Spaß daran, weil er die Sache genoß. Doch sie hatte noch nie etwas genießen können, das kein faßbares Ziel hatte. Er hatte fast recht. Wenn es bei diesem Spiel um ihr Leben oder um den Erfolg ihrer Pläne gegangen wäre, hätte sie anders gespielt. Sie hätte gespielt, um zu gewinnen.

Sie haßte auch den Mann. Sie mochte vertrauensselige, leicht zu beeinflussende Männer. Dieser war nichts davon. Sein Geist war wie eine Klinge. Er hatte keine Skrupel. Er hatte gesagt, er arbeite für ein höheres Ziel. Doch sie kannte seinesgleichen ganz genau. Was immer er tat, tat er allein für die Befriedigung, Macht ausüben zu können.

Das konnte sie bis zu einem gewissen Grad verstehen. Menschen zu manipulieren hatte etwas Anregendes. Es war amüsant. Ein wenig, als trainierte man einen Hund, auf Kommando das Richtige zu tun. Für diesen Mann bestand die Welt aus kleinen Hunden, die er Stöckchen holen ließ. Ein Peitschenknall, und sie standen auf den Hinterbeinen und machten Männchen.

Mit Religion hatte das allerdings kaum etwas zu tun. Da war sie sicher. Ebenso sicher war sie, daß er wiederum den religiösen Hintergrund seines Handelns nicht bezweifelte. Er brauchte die Bestätigung, eine wichtige und außergewöhnliche Aufgabe zu erfüllen. Doch wie er über die Eliminierung Corrisandes sprach, war zutiefst beunruhigend. Er sah sie nicht als Mensch. Für ihn war sie Ungeziefer. Er war stolz auf das, was er tat: morden für einen höheren Zweck und dabei fest sein im Glauben an die moralische Unabdingbarkeit seines Handelns.

Ein Vorwand für das Gewissen. So etwas hatte sie nie gebraucht. Ihr hatte es stets genügt, Erfolg zu haben. Zugegeben, sie hatte ihre Karriere mit einem Fehler angefangen. Earnest zu heiraten war kreuzdumm gewesen, einfältig, töricht und unvorsichtig. Warum sie es getan hatte, hatte sie nie verstanden. Ihr Leben wäre in völlig anderen Bahnen verlaufen, hätte sie es nicht getan. Sie wäre nie in Bedrängnis geraten, hätte nie töten müssen, hätte sie nicht diesen großen Fehler gemacht.

Ein Herzog hatte sie umworben. Ein echter Herzog. Sie hatte sorgfältig geplant und agiert, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen, und schließlich zeigte er tatsächlich Interesse, begann zu glauben, sie sei die Frau seines Lebens. Ihn so weit zu bringen war nicht leicht gewesen und hatte genauer Strategie und vorsichtiger Taktik bedurft. Bauern, Läufer, Türme und Damen hatte sie auf dem Schachbrett ihrer Ambition herumgeschoben und war ihrem Ziel erstaunlich nahe gekommen, und dann, eines Tages, hatte sie Worringham in die Augen gesehen und war verloren gewesen, vor Liebe blind. Bis dahin hatte sie ihn noch nicht einmal bemerkt.

Sie heirateten schon zwei Wochen später und setzten damit alle Tratschzungen in Gang. Einige Monate lang waren sie glücklich, bis sie eines Morgens erwachte und wußte, daß sie diesen Mann nicht liebte. Das wäre nicht so schlimm gewesen, doch er war finanziell am Ende, machte Schulden und war zu unbeholfen, um irgend etwas richtig anzufangen.

Es blieb ihr nichts übrig, als ihn loszuwerden, ehe er sie ganz ruinierte und alle Chancen auf ein anderes Leben dahin waren. Also war er gestorben. Er hatte nicht gelitten. Er war zu Bett gegangen, wie er das eben tat, mit einem Glas Portwein auf dem Nachttisch.

Er war neben ihr eingeschlafen, hatte zunächst leise geschnarcht. Später hatte das Schnarchen aufgehört. Sie war neben dem Leichnam im Bett liegengeblieben bis zum Morgen, als der Butler kam, um sie zu wecken. Erst dann hatte sie mit dem Angestellten zusammen festgestellt, was geschehen war.

Es war zu spät gewesen. Der Herzog, der noch Monate zuvor an ihr Interesse gezeigt hatte, hatte sich inzwischen anderen jungen Damen zugewandt. Gebrauchte Ware interessierte ihn nicht. Witwen standen nicht auf dem Plan erstrebenswerter und wohlhabender Herren.

Viel Geld hatte ihr Mann ihr nicht hinterlassen, und sie hatte von Anfang an gewußt, daß sie wieder würde heiraten müssen, um ihren Lebensstandard halten zu können und ihr Verbleiben in den Kreisen zu sichern, in denen sie sich gerne bewegte. Während der Trauerzeit war eine Eheschließung undenkbar, das behinderte sie bei der Suche.

Ihr nächster Mann war noch schlimmer gewesen als der erste. Doch länger hatte sie nicht warten können. Ihre finanzielle Situation hatte ihr nur die Wahl zwischen diesem Ehebund oder einer Rückkehr in den Schoß der Familie gelassen, wo sie als arme Witwe geduldet, genährt und mit ziemlicher Sicherheit ausgebeutet worden wäre. Allein weiterzuleben war weder finanziell noch gesellschaftlich akzeptabel.

Sie war mit ihm nach Rom gezogen, hatte dort eine Weile gelebt und jeden Augenblick gehaßt. Sie haßte die Hitze, den Staub und das laute, unsubtile Umfeld. Ihr Ehemann hielt sich für einen großen Künstler und gab mit vollen Händen sein Geld für Künstlerkollegen aus, als könnte deren echtes Talent bei näherer Bekanntschaft auf ihn abfärben. Ihn zu ermorden war einfach gewesen. Er trank zuviel, und sein Tod verwunderte absolut niemanden. Er starb, und sein Verscheiden gab bestenfalls seinen nassauernden Künstlerkollegen irgendeinen Anlaß zur Trauer.

Sie selbst hatte sich am Anfang wiedergefunden, als Witwe Ende zwanzig mit schrumpfenden finanziellen Mitteln und genauso schrumpfenden Aussichten. Wieder blieb ihr nur die Wahl, ihrer Familie zur Last zu fallen oder sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen.

„Sie sind dran. Konzentrieren Sie sich!“

Sie lächelte den Diener Gottes vergebungheischend an. „Tut mir leid“, schien der Blick zu sagen, „das kann ich nicht. Ich bin nur eine arme, schwache Frau und kann mit männlicher Brillanz nicht konkurrieren.“

Er lächelte, verstand genau, was sie ihn glauben zu machen versuchte. Es amüsierte, aber überzeugte ihn nicht.

Es klopfte, und ein Mann in Zivilkleidung trat ein. Er sah etwas unsicher aus und wirkte wie ein wohltrainiertes Frettchen.

„Ah“, sagte Pater Emanuele. „Was haben Sie herausgefunden?“

Der Mann reckte sich eifrig in die Höhe, und wieder hatte Eliza den Eindruck, als stünde ein Hündchen auf den Hinterbeinen, um ein allzu strenges Herrchen zu beeindrucken.

„Hochwürden“, sagte er. „Ich habe ihnen das Essen hochgetragen. Sie sind alle in einem Zimmer. Ich konnte zwar nicht hinein, aber ich habe einen sehr großen, dunklen Mann gesehen ...“

„Delacroix“, fügte der Diener Gottes ein.

„… und einen Mann in einer bayerischen Chevauleger-Uniform. Der Mann, der das Essen in Auftrag gegeben hatte, war auch bayerischer Offizier. Sehr weit konnte ich nicht ins Zimmer schauen. Es kann sein, daß noch weitere Personen darin waren. Außerdem sah ich einen goldenen Behälter auf dem Tisch. Vielleicht haben sie das Manuskript darin?“

Der Diener Gottes schwieg einen Moment lang.

„Denkbar. Nur – warum sind sie nicht abgereist, wenn sie es schon haben?“

„Vielleicht erwarten sie ja Geleitschutz. Schließlich ist ihr Magier tot.“

„Guter Gedanke“, lobte Pater Emanuele. „Das ist denkbar. Ich würde mich auch ungern mit diesem Dokument auf Reisen begeben, ohne arkanen Schutz dabeizuhaben. Vielleicht warten sie auf einen neuen Meister. Das würde heißen, wir müßten am besten gleich zuschlagen.“

Er wandte sich an Eliza.

„Ihre Zeit ist gekommen. Freuen Sie sich, Sie können endlich etwas für die Menschheit tun. Ich hoffe, Sie sind mir für diese Chance dankbar.“

„Was möchten Sie, daß ich tue, Hochwürden?“ fragte Eliza höflich. Was würde wohl geschehen, wenn der Mann sie erst einmal nicht mehr brauchte?

„Sorgen Sie für eine Ablenkung. Giuseppe, willst du nicht vielleicht direkt außerhalb des Zimmers der Herren jemanden angreifen? Miss Jarrencourt vielleicht? Oder wie steht es mit der kleinen Zofe? Wer von den beiden Mädchen würde lauter schreien?“

„Zweifellos Marie-Jeannette. Corrisande ist nicht der Typ für lautes Schreien. Aber ich werde sehen, wen von beiden ich mobilisieren kann. Ist das alles?“ Sie lächelte ihn an wie ein Ober, der eine Bestellung aufnimmt.

„Nein, das ist nur der Anfang. Die Herren werden herausgestürzt kommen, um zu helfen. Junge Männer haben ihre Instinkte, die sie treiben, und Sie gehen in den Raum. Lassen Sie es so aussehen, als leite der Kampf Sie dorthin. Tun Sie, als wollten Sie sich dort verstecken. Wenn Sie können, nehmen Sie den Behälter und bringen ihn her. Wenn das nicht geht, prägen Sie sich wenigstens genau alles ein. Die Männer werden es nicht eigenartig finden, daß sich eine Dame vor einer Rauferei versteckt. Versuchen Sie, keinen Verdacht zu erwecken. Darin sind Sie doch gut, nicht wahr?“

Er wandte sich an den großen Mönch.

„Wen immer Mrs. Parslow auf den Korridor schickt, ich will, daß sie es überlebt. Hast du verstanden? Unsere Priorität ist, die Männer in einen Kampf zu verwickeln. Ich will hinterher keine toten Mädchen herumliegen haben. Ich will also nicht, daß du gar so brutal bist. Mach ihr Angst, tu ihr weh, wenn es sein muß. Hauptsache sie schreit. Mehr aber nicht.“

Er wandte sich wieder Eliza zu.

„Ich gebe Ihnen fünf Minuten, eines der beiden Mädchen in den Flur zu bekommen. Sie werden mich nicht verraten! So dumm sind Sie nicht, sonst kostet es Sie Ihren Kopf. Ist Ihnen das klar?“

Eliza nickte.

„Vollständig, Hochwürden“, schnappte sie zurück. „Ich tue, was Sie sagen. Vergessen Sie nur nicht, hinterher Ihr Wort zu halten.“

Sie stand auf und verließ den Raum.

Das Obsidianherz
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