Kapitel 16
Delacroix hätte lieber in seinem eigenen Bett im dritten Stock gelegen. Die Decke, auf der er lag, roch nach Blut – seinem Blut –, und er fühlte sich unwohl in einem Zimmer, das allzu offensichtlich mit weiblichen Accessoires und Paraphernalien randvoll gestopft war.
Doch Hemd und Rock waren ruiniert, und er konnte nicht gut halbnackt durch die Hotelgänge laufen, mit nichts um seinen Oberkörper als einem Verband. Man wäre schockiert gewesen.
Man war so leicht schockiert. Zumindest die Menschen einer gewissen Gesellschaftsschicht. Er selbst war im finstersten Elendsviertel von Syrakus aufgewachsen. Dort hatten die Leute andere Sorgen, als sich über die unpassende Kleidung anderer aufzuregen. Doch er hegte nicht den Wunsch, dorthin zurückzukehren. Einige Teile seiner frühen Jugend waren zu grauenhaft, als daß er sich allzu genau daran erinnern mochte.
Der Angriff, den er gerade überstanden hatte, hatte ihn an jene Zeiten erinnert. Die Zeiten, als – wie hatte es dieser allzu eifrige Arzt noch ausgedrückt – das Arkane ihn schon einmal sehr nachhaltig berührt hatte.
Er wollte nicht daran denken. Meist versuchte er, die Erinnerung daran auszublenden, war genau daraufhin erzogen und trainiert worden. Solange er wach war, gelang ihm das im allgemeinen auch. Doch wenn er träumte, kamen die Erinnerungen bisweilen zurück, weckten ihn in schwärzester Nacht und raubten ihm mit ihrem Grauen den Atem.
Ein Waisenkind war er gewesen, einer der vielen schmutzigen, zerlumpten Jungen, die ihre bittere Armut nur dadurch überlebten, daß sie sich in einer von einem Erwachsenen geführten Bande zusammenschlossen, der die rattengleiche Kinderarmee zu Einbrechern, Ganoven und Dieben ausbildete. Delacroix hatte damals auf einen anderen Namen gehört. Doch den gab es nicht mehr. Der Knabe, dem jener Name gehört hatte, war sozusagen gestorben.
Er war ziemlich erfolgreich gewesen. Von Natur aus klein, dürr und beweglich, war er als Taschendieb und als Einbrecher gleichermaßen gut einsetzbar gewesen. Im Alter von zehn Jahren hatte er es, was seine Messerkünste anging, mit jedem Erwachsenen aufnehmen können. Er hatte weder lesen noch schreiben können, doch er war schlau und aufgeweckt gewesen und hatte alles Neue schnell gelernt. Er hatte damals gewußt, daß er es in seinem Gewerbe weit bringen würde, und davon geträumt, eines Tages genauso ein Beschützer für eine Bande von Kindern zu werden, wie das sein eigener Padrone ihm gegenüber war. Nur netter.
Er war ehrgeizig gewesen, immer darauf bedacht, neue Beute auszubaldowern, neue Möglichkeiten auszuloten, und so war er eines Tages in der Erwartung, dort viele nette Dinge zu finden, die sich in klingende Münze umwandeln ließen, in ein großes, reich aussehendes Anwesen eingestiegen.
Statt dessen hatte er sich in einer Magierloge wiedergefunden, einer, die die schwarze Kunst pflegte. Sie hatten ihre Schutzzauber gegen Eindringlinge und hatten ihn geschnappt, bevor er noch bemerkt hatte, in welcher Gefahr er sich befand. Die Gruppierung war sowohl Geheimbund als auch religiöse Sekte und praktizierte unbehelligt einen Glauben, der dem Anschein nach schon seit dem Fall von Karthago ausgestorben war.
Die Opferung von Kindern war in Syrakus so undenkbar wie überall. Doch Kinder aus den Elendsvierteln verschwanden andauernd, ohne daß irgend jemand sie intensiver suchte oder auch nur vermißte. So konnte der Magierorden seine Religion ungehindert praktizieren. Er achtete darauf, nur Kinder auszuwählen, die niemand vermissen würde.
Delacroix war ideal für ihre Zwecke, obgleich sie bereits ein Opfer gefangen hatten. Die Magier hatten den kleinen Dieb mit einem anderen Jungen in einen Raum gesperrt. Delacroix versuchte sogleich, das Schloß zu knacken – was ihm normalerweise keinerlei Schwierigkeiten bereitete – doch dieses Schloß war magisch verstärkt.
Der andere Junge war älter als er selbst, blond und trug die Kleidung eines Schiffsjungen. Er sprach kein Italienisch, und Delacroix kannte seine Sprache nicht. Der fremde Junge fürchtete sich augenfällig sehr.
Dazu hatte er auch allen Grund. Noch in der gleichen Nacht brachte man beide Jungen in einen großen Raum, in dem mehr Kerzen brannten, als Delacroix bis dahin in seinem Leben je auf einem Haufen gesehen hatte. Die Flammen erhitzten die Luft. Den beiden Kindern gab man etwas zu trinken. Es schmeckte köstlich süß, und Delacroix fühlte sich fröhlich und gelöst. Er wartete auf eine gute Gelegenheit zur Flucht. Aber das hatte Zeit, meinte er. Kein Grund, etwas zu überstürzen.
Der andere Knabe empfand das anders. Er begann, sich zu wehren und zu treten, und es gelang ihm fast, den Männern zu entkommen. Delacroix sah ihn das Seil hochklettern, an dem man den Kandelaber hochziehen konnte. Er kletterte gut, aber nicht gut genug. Einer der Männer am Boden streckte die Hand nach ihm aus, und obgleich er keinesfalls nah genug stand, um ihn zu berühren, fiel der Junge im gleichen Augenblick und schlug auf dem Steinboden auf. Delacroix sah ihn mit gebrochenem Genick dort liegen und hörte, wie die Männer ärgerlich untereinander debattierten. Tot war der Knabe nutzlos.
Sie wandten sich Delacroix zu und dankten wahrscheinlich ihren wie auch immer gearteten Göttern für den überraschenden Ersatz. Ehe er reagieren konnte, war er schon durch einen Zauber gelähmt. Diesmal gingen die Magier kein Risiko ein.
Sie hoben ihn auf eine Art Steinaltar. Große Hände hielten ihn nieder. Das Universum drehte sich um ihn, wirbelte, um dann an einem neuen Fluchtpunkt der Realität fixiert zu werden. Die Männer sangen. Weite Kapuzen verhüllten ihre Gesichter.
Er spürte die Zeit nicht vergehen, konnte nicht einmal annähernd bestimmen, wie lange er dort lag. Er lauschte nur. Die Gesänge tönten immer weiter. Er hätte sich vor dem langen Dolch wohl fürchten sollen, den einer der Kapuzenträger über ihn hielt. Doch er empfand keine Furcht, nur Unbehagen. Er verstand nicht. Die Schneide glänzte schwarzsteinern im Kerzenlicht und sah schön und kostbar aus wie ein exquisites Spielzeug.
Dann berührte die Spitze ihn über dem Herzen, drang in seine Haut, bis Blut kam. Das tat nicht weh, doch er fühlte sich mit einem Mal in scharfe Kälte eingehüllt. Er wollte schreien, merkte jedoch, daß er es nicht konnte. Er konnte nur reglos auf dem Stein liegen, von dem er plötzlich wußte, daß er tief in die Erde ragte. Eine Verbindung formte sich von weit unter ihm, von der Tiefe in den Stein und durch ihn hindurch bis hin zu dem Messer, das sich in sein Fleisch bohrte.
Plötzlich wußte er, daß er nur ein dummes, kleines Kind war, das gleich sterben würde. Diese Einsicht ergoß sich gleichsam von außen in seinen Geist, dehnte diesen wie eine Wolke aus, um faßbar zu werden. Er wurde eins mit den neuen Gedanken, verstand die Mysterien der Welt und verachtete sie, war hungrig auf Leben, gierig nach Macht. Wie eine Säule aus dem Zentrum der Erde schwoll das Sehnen und Wollen an, fuhr durch das Denken seines unbedeutenden Knabenhirns hindurch, griff nach dem schwarzen Dolch und zog ihn mit lüsternem Begehren nach unten.
Die Zeit verrann zähflüssig, wurde immer langsamer, während er fühlte, wie die Spitze des Dolches Stück für winziges Stück in seinen Körper schnitt. Er konnte das Antlitz über ihm erkennen, reglos, von einer Kapuze beschattet: sein Diener. Er wußte, daß die Essenz seines Seins in den kalten Grund gesogen würde, während sein warmes Blut über den Stein strömte.
Er fühlte sich euphorisch, versunken in einer Vereinigung mit einem Geist, der nicht der seine war. Über sich sah er ein Wolfsgesicht, das sich im Kerzenlicht formte. Gelbliche Augen. Sie verschmolzen mit seinen eigenen dunklen, die zu nichts verbrannten. Er wurde Teil seiner eigenen Vision, fühlte sich eintauchen in ein finsteres und zugleich feuriges Wesen, spürte sich heranwachsen zu einem gigantischen Schatten.
Dann sah er die Kugel. Für ihn flog sie so langsam, daß er ihr Herannahen beobachten konnte, während ihn die Erwartung von Frustration und Verlust zerriß. Das Geschoß erreichte den Hals des Vermummten über ihm, bohrte sich hinein, ließ bedächtige Blutstropfen aus der Wunde schweben und trat dann zerfetzend zur anderen Seite wieder aus.
Die Gestalt brach zusammen. Der Dolch fiel und fiel. Äonen später hörte er, wie die Waffe lang anhaltend klappernd auf dem Boden aufschlug, und dann war da ein großer blonder Mann in einer Seemannsuniform, der über dem anderen Jungen kniete und dessen Namen rief, eine Unendlichkeit lang. Wieder ein anderer, mit einem Kruzifix um den Hals, erschien und hob Delacroix von dem Stein.
Die Verbindung brach ab.
Die Trennung stürzte ihn in tiefe Ohnmacht. Als er erwachte, gab es keine Tempelräume, keine magisch verschlossenen Zimmer, keine Gesänge und fast keine Erinnerung daran. Diese kehrte erst mit der Zeit zurück, nach und nach aus der Tiefe durch seine Alpträume zu ihm gesandt.
Er erwachte zu einem neuen Leben. Er war gerettet.
Es klopfte. Delacroix schrak aus seinen Tagträumen hoch und zuckte bei der hastigen Bewegung schmerzhaft zusammen.
„Herein“, rief er und lächelte schief, als von Orven mit seinem Hemd und Gehrock unterm Arm eintrat.
„Guter Mann“, lobte er. „Ich wußte doch, daß man sich auf Sie verlassen konnte und Sie mir ein paar Kleidungsstücke bringen. In blutverschmierten Fetzen durch das beste Hotel am Platze zu spazieren wäre selbst für mich ein zu großer Bruch der Etikette gewesen.“ Er stemmte sich hoch und stand langsam auf. „Da hätte ich mit Sicherheit die Damen erschreckt.“
Leutnant von Orven ignorierte die Vorlage.
„Brauchen Sie Hilfe beim Anziehen?“ fragte er den Colonel, der den Kopf schüttelte und nach seiner Kleidung griff.
„Ich denke, ich kann mich allein anziehen. Ich wäre Ihnen allerdings dankbar, wenn Sie mir nachher behilflich sein könnten, meinen Arm in eine Schlinge zu hängen. Der Arzt hat empfohlen, ihn eine Weile ruhigzustellen.“
„Natürlich“, erwiderte Asko. „Ich freue mich zu hören, daß ein Arzt die Sache untersucht hat. Vonderbrück hat seine Dienste auch angeboten, sollten Sie sie in Anspruch nehmen wollen. Er behauptet, er hätte nichts von der Fähigkeit der Kreatur gewußt, sich in ...“ Er stockte, fand nicht die richtigen Worte, das Erlebnis auf höfliche Weise zu umschreiben. „Jedenfalls hat er uns geraten zu ruhen, da die Kreatur in etwas mehr als drei Stunden wieder unterwegs sein wird. Wenn Sie erlauben, werde ich Sie zu Ihrem Zimmer geleiten.“
„Danke. Ich weiß Ihre Aufmerksamkeit zu schätzen. Aber übertreiben Sie es nicht. Es ist nur eine Schramme.“
„Ich war sicher, daß Sie das sagen würden“, kommentierte Leutnant von Orven trocken, „und zwar genau in diesem Wortlaut. Ich werde Sie dennoch begleiten.“
Delacroix war verblüfft. Er hatte bislang bei dem Leutnant keine große Tendenz zum Sarkasmus bemerkt. Vielleicht hatte er den Mann doch unterschätzt. Wie auch immer – es gab Dringenderes, worüber sie reden mußten.
„Wegen Miss Jarrencourt“, begann er, aber der junge Offizier unterbrach ihn sofort: „Miss Jarrencourt und Miss Parslow haben das Hotel verlassen. Ihre Zofe packt zur Zeit ihre Sachen.“
Delacroix sah verärgert aus.
„Da haben Sie Ihre Zeit ja gut genutzt“, bemerkte er säuerlich.
„Eigentlich nicht“, entgegnete Asko. „Meine Eingreifen war gänzlich überflüssig. Mlle. Denglot scheint ihren gefühlvollsten Charme eingesetzt zu haben, um die Damen zum Bleiben zu überreden.“
„Kein Wunder, daß sie davongelaufen sind“, konstatierte Delacroix. Zum ersten Mal seit vielen Stunden grinsten die beiden Männer einander an. „Nun, dann haben Sie Glück gehabt. Hätte sie versucht, sie zur Abreise zu überreden, wären die Damen sicher noch hier. Wir sollten Mademoiselle in die nächste Jagd integrieren. Vielleicht bringt sie die Kreatur dazu, etwas fürchterlich Dummes anzustellen.“
„Mademoiselle hat mich informiert, daß sie zu einer Probe muß und zur gegebenen Zeit nicht anwesend sein wird.“
„Glückliche Cérise!“
„Sie gab ihrer Enttäuschung darüber Ausdruck.“
„Natürlich. Ich hoffe, sie muß Wagner singen. Sie haßt Wagner.“
„Es ist Wagner.“
„Gut.“
Nicht zum ersten Mal machte sich von Orven darüber Gedanken, was zwischen Delacroix und der Sopranistin vorgefallen sein mochte, daß sie einander so spinnefeind waren. Selbstverständlich ging ihn das nichts an. Gott sei Dank – und so war es besser, er wußte es nicht. Statt dessen sagte er nur: „Gestatten Sie“, und half dem Colonel die Hemdknöpfe zu schließen. Dann half er ihm in Weste und Rock und band akribisch seine Krawatte.
„Danke“, sagte Delacroix, ohne sonderlich dankbar zu klingen. „Ich hätte das schon geschafft.“
„Bestimmt. Aber wir haben nicht viel Zeit. Wir sollten nach unten gehen. Ich frage mich, wo Görenczy ist.“
„Ich habe ihn diesem unglaublich wohlinformierten Arzt hinterhergeschickt, der mich behandeln kam. Er hat uns einige Einzelheiten über die Kreatur erzählt. Sie könnten stimmen – oder auch nicht.“
Leutnant Asko von Orven, der gerade dabei war, Colonel Delacroix’ linken Arm in die Schlinge zu legen, sah erstaunt auf.
„Ich erzähle es Ihnen auf dem Weg nach unten“, versprach Delacroix. „Sehe ich jetzt wieder ordentlich und zivilisiert aus?“
„Nicht ordentlicher und zivilisierter als sonst auch, Sir“, erwiderte der junge Mann mit steinernem Gesichtsausdruck und öffnete die Tür.