Kapitel 27

Die drei Männer sahen sich hastig nach Anzeichen der Kreatur um, doch in diesem Augenblick war nichts von ihr zu sehen. Delacroix, immer noch auf einem Knie, hielt seinen Dolch von sich gestreckt. Seine Augen suchten gehetzt den Flur ab. Asko von Orven war sofort wieder aufgesprungen und schwang drohend sein Spielzeugmesser. Von Görenczy trat auf sie zu, nachdem er die Eisenschachtel wieder an sich genommen hatte.

Die leere Eisenschachtel.

Delacroix hoffte, er würde in der Lage sein, ohne sichtbares Zittern aufzustehen. Er fühlte, wie sein Amulett Spuren in seine Brust sengte, viel zu heiß, um erträglich zu sein. Langsam begann es sich abzukühlen. Dennoch war er keinesfalls sicher, ob die Gefahr schon vorbei war, und er würde sich nicht noch einmal von dem plötzlich aus dem Nichts erscheinenden Spuk überrumpeln lassen.

„Großer Gott, Delacroix“, rief Udolf bewundernd, „Sie haben vielleicht Nerven, sich diesem Ungeheuer selbst anzubieten! Kompliment. Ich salutiere vor Ihrer Kaltblütigkeit.“

Von Orven kniete sich nun auch hin und versuchte, der jungen Frau zu helfen, die immer noch wie ein Häufchen Elend hinter Delacroix kauerte.

„Geht es Ihnen gut, Miss Jarrencourt?“ fragte er und streckte die Hände nach ihr aus.

Sie schrie auf und preßte sich, so das überhaupt möglich war, noch weiter gegen die Wand, von ihm fort.

„Reichen Sie Ihr Messer von Görenczy“, befahl Delacroix. „Wir wollen die junge Dame nicht noch mehr erschrecken.“

Von Orven lief rot an und tat wie ihm geheißen. Dann wußte er nicht mehr weiter. Das Mädchen verschwand fast völlig hinter dem breit gebauten britischen Offizier.

„Sir, wenn Sie vielleicht Ihren ...“, schlug er vor.

Delacroix konzentrierte sich und stand auf. Er spannte seine Muskeln an und schüttelte die Beine aus, um ja nicht steif und nervös zu wirken. Er sah sich um, erwartete immer noch einen erneuten Angriff.

Von Orven beugte sich zu der Wolke aus gelber Seide direkt vor ihm nieder.

„Wenn Sie mir gestatten, Miss“, begann er, doch er erhielt keine Antwort.

„Gottverdammich, helfen Sie ihr einfach hoch, von Orven. Sie ist kaum in dem Zustand für gesittete Konversation.“

Ein wenig ungeschickt, gerade so als wüßte er nicht genau, wie er die junge Dame höflicherweise anfassen sollte, nahm Asko ihre Oberarme und zog sie hoch. Er hatte Angst, sie würde in Ohnmacht fallen, doch sie stand einfach nur da, die Augen weit und ohne Fokus. Er spürte, wie eiskalt sie war, fühlte sie in seinen Händen zittern. Er überlegte, wie er sie um Erlaubnis fragen sollte, ihr behilflich zu sein, dann unterließ er die Frage. Eventuell hatte Delacroix recht, und dies war nicht die Zeit für ritterliche Zurückhaltung.

Er hob sie auf, nahm sie in die Arme und fühlte sich ein wenig albern bei der Sache, irgendwie operettenhaft. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter. Zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden hielt er Miss Jarrencourt in den Armen, und er hielt sie gerne in den Armen, stellte er fest. Nur hätte er sich andere Umstände gewünscht. Sie über die Schwelle in sein Haus zu tragen zum Beispiel.

Doch dies war nicht der richtige Augenblick für solche Gedanken. Er hielt sie fest und sicher und ging den Flur zurück auf ihr Zimmer zu.

Delacroix und von Görenczy sahen den beiden nach. Dann begannen sie, sich in die gleiche Richtung zu bewegen.

„Das war ...“, von Görenczy suchte nach Worten, „... außergewöhnlich“.

Delacroix sah ihn kritisch an. „Verdammt knapp wäre ein passenderer Ausdruck“, sagte er.

„Ja, war’s wohl. Es ist mir an den Hals gegangen. Kann nicht behaupten, daß ich das mochte. Abscheulichster Angriff, den ich je erlebt habe. Das arme Kind. Hoffe nur, sie hat noch alle Tassen im Schrank nach dem – Erlebnis. Oder wie immer man das nennen soll.“

„Versuchte Vergewaltigung wäre ein geeigneter Begriff“, murmelte Delacroix.

Udolf hielt unvermittelt an.

„Versuchte Ver...“, rief er entgeistert.

„Pst! Leise!“ unterbrach ihn Delacroix.

„Aber wie soll das denn gehen? Ich meine, sind Sie sicher?“

Delacroix hielt vor der Suite an und wandte sich Udolf zu.

„Wie soll ich sicher sein? Ich weiß so wenig wie Sie. Aber so sah es aus. Ich werde gewiß nie den Ausdruck auf ihrem Gesicht vergessen, als die Bestie versuchte, ihr in den Mund zu kriechen. Ich hoffe nur ...“ Er ließ den Satz unvollendet.

„Meinen Sie ...“, begann Udolf, war dann aber auch nicht in der Lage, den Verdacht in Worte zu fassen. Die Männer starrten einander an, Ekel auf den Gesichtern.

„Wir sollten jetzt hineingehen“, sagte Delacroix schließlich, „und uns mit Mrs. Parslow auseinandersetzen.“

Doch Mrs. Parslow war nicht da. Statt dessen kroch Marie-Jeannette hinter einem Ohrensessel hervor. Sie sah etwas zerzaust aus.

„Keine Angst, Mädchen“, sagte von Görenczy mit gespielter Fröhlichkeit. „Die Retter sind da.“

Asko hatte Corrisande auf der Couch abgesetzt. Sie saß dort wie eine Puppe, bewegungslos und aufrecht. Ihre Hände umfaßten den Sofarand neben ihren Röcken.

Er sah sie besorgt an.

„Miss Jarrencourt!“ sprach er sie an. „Bitte sagen Sie mir, daß es Ihnen gutgeht.“

Er kniete seitlich vor ihr, hätte sie gerne in die Arme genommen und festgehalten. Doch das war kein angemessenes Betragen und hätte zudem so ausgelegt werden können, als versuche er, eine Situation für sich auszunutzen, die kein anständiger Mann je ausnutzen würde.

Also kniete er nur da, blickte besorgt und suchte nach Anzeichen auf ihren Zügen, die ihm verraten würden, wie ihr zu helfen sei.

Delacroix war weniger zartfühlend. Er hockte sich auch vor sie und nahm ihr Gesicht in seine große rechte Hand. Ihre Haut war eisig.

„Miss Jarrencourt!“ rief er ihr aus unmittelbarer Nähe direkt in Gesicht. „Sie müssen den Schreck jetzt hinter sich lassen. Sie müssen den Willen haben, zu uns zurückzukommen. Ich weiß, das ist schwer, aber ich weiß auch, Sie können das. Sie wollen doch nicht, daß ich Ihnen wieder den Inhalt von Leutnant von Görenczys Taschenflasche einflöße, oder?“

Corrisandes blauer Blick fand langsam seinen Weg in den gelben direkt vor ihr.

„Braves Mädchen!“ sagte Delacroix und streichelte ihr mit dem Daumen über die Wange. Asko fletschte hinter geschlossenen Lippen die Zähne.

Corrisande holte tief Luft. Ihr war eiskalt. Sie fühlte sich schmutzig. Sie wußte nicht, wie sie den anwesenden Herren auch nur näherungsweise klarmachen sollte, wie furchtbar, wie unaussprechlich, wie absolut widerlich alles gewesen war. Die kaltglitschige Kreatur war in ihre Kleidung eingedrungen, an ihrer Haut entlanggeschleimt und hatte sie an Stellen berührt, die noch nie jemand zuvor berührt hatte. Fangarme waren in ihr Dekolleté gekrochen, hatten sich einen Weg in ihr Mieder gebahnt, ihren Leib erforscht und sich an ihren Beinen hochgewunden. Sie wollte nicht wissen, was sie noch getan hätten. Delacroix hatte es verhindert. Sie hörte seine Stimme noch in ihrem Kopf.

Die Stimme des Mannes, den sie fast hätte ermorden lassen.

„Oh Gott“, sagte sie, blickte dann zu von Görenczy und streckte den Arm aus. Ihre Hand bebte heftig.

„Leutnant von Görenczy“, sagte sie ruhig. „Ihre Flasche bitte.“

Bestürztes Schweigen traf sie. Das war keine mädchenhafte Reaktion. Mit Sicherheit war es nicht das, was die Herren erwartet hatten, und Eliza hätte vermutlich nervöse Zuckungen davon bekommen. Zum Teufel damit.

Sie ließ die kleine Silberflasche fast fallen, als man sie ihr reichte, und schaffte es dann nicht, sie mit ihren bebenden Händen zu entkorken. Jemand tat es für sie. Von Orven.

Sie nahm einen tiefen Zug und begann zu husten. Doch das beißende Gefühl tat gut. Wie das Ausbrennen einer Wunde schien es sie zu reinigen. Sie nahm noch einen Schluck, hustete nochmals und merkte, daß der starke Alkohol ihr die Tränen in die Augen trieb.

Gut. Ihr war nach Weinen, sie sehnte sich nach der Katharsis der Tränen. Weinen hätte geholfen, wenn sie nur gewußt hätte, wie das ging. Normalerweise konnte sie gut weinen, beherrschte die lakrimose Kunst mit Akribie. Nur jetzt schien es utopisch. Sie war dort draußen zu Stein erstarrt. Steine konnten nicht weinen. Sie konnten bestenfalls bersten.

Sie nahm noch einen Schluck. Es hieß, Cognac ließe einen vergessen. Sie fragte sich, wieviel man davon trinken mußte, bis dieser Effekt einsetzte. Möglicherweise würde sie es ja bald entdecken.

Jemand nahm ihr die Flasche weg. Von Orven. Er saß inzwischen neben ihr, und sie bemerkte, daß er schützend seinen Arm um sie gelegt hatte. Er wirkte etwas schüchtern dabei, und sie hätte es ihm keinesfalls gestatten sollen. Es war an der Zeit, ihn für dieses Verhalten zu kritisieren. Das sollte sie jetzt tun. Absolut. Sie hatte ihm solche Freiheiten nicht eingeräumt.

Aber er war warm. Er fühlte sich lebendig an, und es war gut, beschützt zu werden. Sie hätte es nicht tun sollen, doch sie lehnte sich an ihn, und er hielt sie behutsam.

„Das sieht ja schon viel besser aus“, bemerkte Colonel Delacroix mit einem schiefen Lächeln. „Wenn Sie sich besser fühlen, sollten wir jetzt darüber sprechen, was genau passiert ist. Tut mir leid, ich kann Ihnen das nicht ersparen, und wir werden offen und klar sein müssen, auch wenn das für Sie nicht angenehm ist. Selbst wenn es über das hinausgeht, was Sie sonst mit einem Mann oder mit überhaupt jemandem bereden wollten.“

Sie merkte, daß der junge Mann, der sie stützte, verunsichert war und beinahe etwas gesagt hätte. Sie sah, daß die Sache auch dem Chevauleger sehr peinlich war, ein Gefühl, das ihn wohl nicht oft ankam, und sie blickte wieder in die seltsamen Bernsteinaugen des Colonels und wußte, was er sie gleich fragen würde.

Sie lief dunkelrot an, ohne irgend etwas dazu tun zu müssen.

„Nein“, sagte sie und versuchte, ihn ohne Worte zum Begreifen zu zwingen, daß dies ihre Antwort auf die Frage war, die sie nicht hören wollte. „Nein.“

Er sah zunächst aus, als wolle er weiterfragen, doch dann las sie in seinen Augen, daß er zu verstehen begann.

„Sind Sie verletzt?“ fragte er klinisch neutral.

„Nein, Sir“, entgegnete sie und versuchte, so unsentimental und zurückhaltend wie möglich zu bleiben. „Ich denke nicht.“ Sie stand auf, ihre Knie bebten heftig. „Wenn Sie mich einen kurzen Moment entschuldigen möchten, ich glaube, ich werde mich gleich ziemlich unwohl fühlen. Marie-Jeannette!“

Sie stürzte wie blind ihrem Schlafzimmer entgegen, verbot sich, in Gegenwart der Herren zu würgen. Von Orven war ebenfalls aufgesprungen, als wollte er ihr folgen, doch Delacroix hielt ihn zurück.

„Sir“, rief er aufgebracht, „sie braucht Hilfe!“

Von Görenczy antwortete: „Asko, laß sie in Ruhe. Wenn ihr schlecht wird, ist sie dabei sicher lieber allein.“

Die Tür schloß sich hinter den beiden Mädchen. Die drei Männer standen im Salon. Von Görenczy nahm einen Schluck aus seiner Silberflasche und reichte diese dann Delacroix. Der trank ebenfalls und reichte seinerseits die Flasche weiter an von Orven. Der blonde Offizier lehnte zunächst ab, doch dann sagte er: „Ach, zum Teufel!“ und nahm auch einen Schluck.

„Lieber nicht“, antwortete Delacroix.

Das Obsidianherz
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