Kapitel 19

Marie-Jeannette lief durch die Straßen Münchens. Von Dienstboten erwartete man eine gewisse Beflissenheit. Besonders von Dienstbotinnen. Frauen der Gesindeschicht, die auf der Straße trödelten, vermittelten schnell den Eindruck, ihre persönlichen Dienstleistungen jedem x-beliebigen anzubieten.

Doch so leicht war sie nicht zu haben. Sie war gar nicht zu haben. Nicht jetzt. Nicht zu dieser Zeit.

Allerdings waren es keine moralischen Skrupel, die sie von einem Fehltritt abhielten. Sie bereitete sich auf eine Karriere vor, die ihr Zutritt zu den besseren Kreisen verschaffen würde. Es war ihr früh klargeworden, daß sie dieses Ziel nicht erreichen würde, solange sie als Schönheitsdienerin bei ihrer wenig mütterlichen Mutter blieb.

Corrisande war ein Glücksfall. Keine andere distinguierte Arbeitgeberin hätte eine solche Vereinbarung akzeptiert: Marie-Jeannettes enormes Zofentalent gegen eine gesellschaftliche Ausbildung, die ihr in ihrer Jugend verwehrt geblieben war. Zudem bekam sie Lohn. Erstes Ziel war, Corrisande vorteilhaft an einen reichen, passenden Gatten zu verheiraten. Auch dafür sollte es eine Gratifikation in Form von entsprechender „Aussteuer“ für Marie-Jeannette geben. Danach wollte sie ihre eigene Karriere vorantreiben. Als hochdotierte Edelkurtisane.

Irgendwann würde sie nicht mehr sittsam gebeugten Hauptes für andere durch die Straßen eilen.

Es war nicht weit, doch es schien ihr so. Man hatte ihr den Weg gut erklärt, und es war leicht gewesen, die Sendlingerstraße zu finden. Sie war weitaus weniger eindrucksvoll als der Boulevard vor dem Hotel oder an der Residenz. Trotzdem gab es hier viele Läden.

Doch an Geschäften war sie augenblicklich nicht interessiert. Sie hatte ein Schreiben zu überbringen und war sich nicht sicher, ob sie wirklich das Richtige tat.

Mrs. Parslow hatte es ihr gegeben, mit den Worten: „Miss Jarrencourt läßt dich bitten, dies Schreiben sofort dem Empfänger zu überbringen. Bitte gib es nur dem Adressaten persönlich, spiel nicht damit herum und verlier es nicht, wenn ich bitten darf!“

Auf dem Umschlag stand eine Adresse. Doch die Handschrift war nicht die Corrisandes. Dessen war sie sich sicher. Zuerst hatte sie nicht weiter darüber nachgedacht. Sie hatte das Schreiben genommen, sich den Weg erklären lassen und sich aufgemacht. Nach der Szene zwischen ihr und Mrs. Parslow vor dem Frühstück und der zwischen Mrs. Parslow und Corrisande nach dem Frühstück hatte sie nicht die geringste Lust verspürt, die Sache zu diskutieren.

Ihre Arbeitgeberin tat ihr leid. Ein so unangenehmes Erlebnis, auch wenn sie nicht genau verstanden hatte, was wirklich geschehen war. Sie hatte nur begriffen, daß sie wieder auspacken sollte, nachdem sie gerade eben erst alles eingepackt hatte. Das, was sie am Tag zuvor erst ausgepackt hatte, nachdem sie in Paris gepackt hatte. Zwei Tage war das her.

Sie wünschte inständig, die Damen würden sich endlich entscheiden. Normalerweise war Corrisande außergewöhnlich einsichtig und nüchtern. Wenn sie in Ohnmacht fiel, konnte man seine Unterwäsche darauf verwetten, daß sie es tat, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wenn sie weinte, konnte man sicher sein, daß sie es mit Stil und Anmut tat, perfekt zeitlich abgestimmt und nie mit mehr als einigen wenigen glitzernden Zähren, die aus ihren Augen fielen wie Tau von einer Blüte. Nie vergoß sie so viele Tränen, daß ihre Lider anschwollen oder ihre Augen rot unterlaufen waren. Marie-Jeannette beneidete sie um diese Befähigung. Sie übte fleißig vor dem Spiegel, schaffte jedoch nie mehr als nur einen recht guten Anschein von Weinen. Corrisandes Perfektion erreichte man schlichtweg nicht.

Diesmal war es anders gewesen. Ihre Ohnmacht am Abend zuvor war echt gewesen, und die Tränen, die ihre Arbeitgeberin diesen Vormittag vergossen hatte, waren weder taktisch klug, noch rasch getrocknet. Es waren Tränen der Angst, der Frustration und des Zorns, ziemlich großen Zorns.

Sie fand die kleine Seitenstraße und bog nach links. Es ging leicht bergab. Sie musterte die Holztüren und las die Hausnummern. Hier war es, Nummer drei. Am Eingang war kein Klopfer, also drückte sie einfach die Klinke herunter und stemmte sich gegen die schwere Tür. Die schwang auf und brachte sie auf einen dunklen Flur, der im Hinterhof endete. An der einen Wand war eine Türöffnung, die zu einer Holztreppe führte. Langsam stieg sie sie empor.

Das Treppenhaus war dunkel, und im Flur roch es modrig. Zu viele Katzen, zuviel Staub und zu wenig Reinlichkeit. Ihre Schritte hallten auf den Stufen. Mit einer Hand hielt sie ihre Röcke um sich herum, damit sie nicht schmutzig wurden.

Im ersten Stock gab es eine Wohnungstür. Auf einem Schild daneben stand „Die Sterne lügen nicht“ und darunter „2x läuten“. Ihre rudimentären Deutschkenntnisse reichten nicht dazu aus, die Botschaft zu verstehen, aber auf dem Brief war das erste Stockwerk angegeben.

Sie zog an der Klingelschnur.

Keine Antwort. Nach einiger Zeit läutete sie abermals, diesmal zweimal hintereinander.

Wieder verstrich Zeit, dann hörte sie, daß sich Schritte näherten.

„Wer da?“ fragte eine vorsichtige Stimme von der anderen Seite der Tür.

Einen Moment lang wußte sie nicht, was sie darauf erwidern sollte, dann entschloß sie sich, Französisch statt Englisch zu sprechen. Javrau war der Befehlshaber und arbeitete von Frankreich aus. Diese Leute konnten gewiß Französisch.

Plötzlich bekam sie Angst. Der dunkle Treppenaufgang, der muffige Geruch, die allgemeine Stimmung von Düsterkeit und Dreck besiegten ihren sonst so sonnigen Optimismus. Es konnte gut sein, daß sie in Gefahr schwebte. Immerhin waren dies Kriminelle. Man kannte sie hier nicht, wußte nicht, daß sie auf gewisse Weise „zur Familie gehörte, und wenn sie niemanden fand, mit dem sie auf Englisch oder auf Französisch sprechen konnte, war es nur allzu möglich, daß sie in Schwierigkeiten geraten würde.

Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß sie sich wünschte, sie wäre nicht so attraktiv. Ihr war klar, was ein Freudenhaus war, und sie wußte auch, daß viele junge Frauen dort nicht aus eigenem Antrieb arbeiteten. Sie hatte davon gehört, daß Mädchen verschleppt wurden, um sie zu genau solcher Tätigkeit in fremde Länder zu verkaufen.

Jetzt war es wohl zu spät, um noch davonzulaufen.

„Verzeihung“, sagte sie durch die geschlossene Tür. „Ich bringe ein Schreiben. Es ist äußerst wichtig.“ Dann sprach sie die Worte aus, die Mrs. Parslow ihr beigebracht hatte. „Paris ist eine schöne Stadt.“

Die Tür öffnete sich einen Spalt weit.

„Was willst du?“ fragte ein Mann auf Französisch. Er hatte einen starken deutschen Akzent.

„Ich bringe Monsieur Dupont ein Schreiben. Persönlich.“

„Er ist nicht da.“

„Es ist wirklich eilig.“

Ein Männerkopf linste um die Tür herum und musterte sie begehrlich.

„Komm besser rein“, sagte er. „Du kannst mit mir sprechen. Ich bin sein Partner.“

Sie hatte keine Lust, die Wohnung zu betreten, doch sie hatte keine Wahl. Sie war froh, daß sie immer ein Messer in ihrem Strumpfband trug, wenn sie ausging. Sie würde es auch zu benutzen wissen, falls es nötig würde. Sie konnte zwar nicht besonders gut damit umgehen, nicht so wie Corrisande, die ihr beigebracht hatte, wie man es handhabte und die selbst immer ein wenig peinlich berührt ob dieser besonderen Fertigkeit war.

Der Mann vor ihr sah nicht freundlich aus. Er sah auch ganz und gar nicht gut aus. Er sah ihr noch einmal ins Gesicht und senkte seinen Blick dann auf ihren Busen, von wo er nicht mehr wich.

Marie-Jeannette wünschte, Mrs. Parslow hätte das Schreiben selbst befördert. Doch die Dame hatte ein ausgesprochenes Talent, ein bequemes Leben zu führen und alle unbequemen Aufgaben auf andere zu verteilen.

„Ich habe einen Brief“, wiederholte sie und war sich nicht sicher, ob sie dem Mann sagen sollte, von wem das Schreiben kam, „und man hat mich angewiesen sicherzustellen, daß gleich etwas deswegen unternommen wird.“

„Ach ja?“ grinste der Mann höhnisch. „Wer zum Teufel glaubt denn, uns einfach so rumkommandieren zu können?“

„Ich bin sicher, Monsieur Dupont wird wissen, was zu tun ist“, sagte sie und hoffte, die Auskunft, er sei außer Haus, sei gelogen gewesen. „Wenn Sie mich nur zu ihm lassen, muß ich Sie nicht weiter belästigen.“

Der Mann leckte sich die Lippen. Er war häßlich, und zwar auf eine unverschämt feixende Weise, und obwohl seine Bekleidung sauber und nicht billig aussah, machte er dennoch einen schmierigen Eindruck. Marie-Jeannette konstatierte, daß es wohl seine verschlagenen Gesichtszüge sein mußten, die diesen Anschein erweckten.

„Gib ihn mir“, befahl er. Ehe sie noch darüber diskutieren konnte, hatte er ihr den Brief schon aus der Hand gerissen. Er trat einige Schritte beiseite und riß ihn auf.

Während er ihn las, wurde sein Gesicht noch spöttischer.

„So. Die Prinzessin braucht unseren Beistand. Wie charmant. Wer ist dieser Delacroix? Ein lästiger Verehrer?“

Marie-Jeannette wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie kannte den Inhalt des Schreibens nicht, und bei der Art, wie der gräßliche Kerl den Namen des Colonels aussprach, überkam sie ein äußerst schlechtes Gefühl. Sie hätte das Schreiben gar nicht überbringen sollen. Schließlich hatte sie gewußt, daß Corrisande es nicht selbst verfaßt hatte. Das Szenario erinnerte sie auf ungute Weise an die Nacht, in der der Comte de Lacy sein plötzliches Ende gefunden hatte. Damals hatte sie auch einen Brief in der Handschrift Mrs. Parslows überbracht.

„Das weiß ich nicht“, sagte sie so neutral wie möglich.

„Egal. Dupont ist beschäftigt, und du hättest dir den Weg sparen können; er ist nämlich genau im Nymphenburger Hotel. Ich nehme allerdings an, er hat nicht die Muße, der holden Prinzessin die üblichen drei Wünsche zu erfüllen. Aber“, sein Lächeln erreichte neue Gefilde der Unanständigkeit, „wir helfen selbstverständlich immer gerne. Ich werde mich selbst darum kümmern.“

„Ah“, antwortete Marie-Jeannette, „gut. Ich werde es ihr gleich ausrichten.“

Sie wandte sich ab, und wie erwartet trat er hinter sie, umfaßte sie mit den Armen und kniff ihr in die Brüste.

„Das hat doch noch zehn Minuten Zeit“, sagte er und leckte ihr Ohr ab. „Du wirst das mögen. Ich weiß, was deinesgleichen mag.“

Sie kämpfte gegen ihren Ekel an. Er hielt sie mit einiger Kraft, und sie wußte, daß sie ihn im Ringkampf nicht besiegen konnte.

„Wissen Sie“, sagte sie, während sie versuchte, die fummelnden Hände zu ignorieren, die sich in ihre Kleidung geschummelt hatten und ihr die Röcke hochzogen. „Die Prinzessin wird das nicht mögen. Der König auch nicht“, fügte sie hinzu und benutzte den Beinamen, mit dem Javraus Leute normalerweise ihren Befehlshaber bezeichneten. „Er ist ein sehr leidenschaftlicher Mann. Sehr leidenschaftlich, glauben Sie mir. Ich frage mich, ob er es mögen wird, mich mit Ihnen teilen zu müssen.“

Der Mann ließ sie los, als sei sie aus rotglühendem Eisen. Sie atmete auf, erleichtert, daß er ihr die Geschichte abgenommen hatte. Tatsächlich starrte er sie auf eine Weise an, die vermuten ließ, daß er den möglichen Wahrheitsgehalt der Aussage gerade noch einmal überdachte.

Sie verlor keine Zeit, drehte sich um und rannte aus der Wohnung und die Stiege hinab. Seine Stimme kam ihr nach.

„Sag der Prinzessin, ich werde mich persönlich darum bemühen.“

Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken. Sie zweifelte nicht daran, daß sie soeben einen Mörder gedungen hatte.

Das Obsidianherz
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