Kapitel 78
Corrisande kroch die Angst in den Leib. Ihr war furchtbar kalt. Die Decke wärmte sie nicht. Ihr Kleid war naß und klebte auf ihrer Haut. Sie zitterte.
Die Kälte. Es war bestimmt nur die Kälte. Sie zwang sich aufzustehen und ging zu einem Zierspiegel an der Zimmerwand. Sie sah hinein und schrak zurück. Ihr feuchtes Haar klebte strähnig an ihrem Kopf. Eine helle Zickzacklinie lief über ihr Gesicht, dort wo sie verletzt gewesen war. Keine Narbe, nur neue Haut, weiß und durchscheinend.
Wo seine Zunge sie nicht berührt hatte, war noch Blut auf der Haut. Sie roch es. Es waren nur Kratzer, ungefährlich, nur häßlich. Sie atmete bei der Erinnerung an seine eigentümliche Liebkosung tief durch. Auf irgendeine Weise war sie mit ihm verwandt. Nach außen hin hatte er sie behandelt wie eine kleine Schwester oder Nichte. Doch seine körperliche Nähe hatte eine andere Wirklichkeit besungen.
Sie wünschte, er wäre wieder da. In seiner Nähe fühlte sie sich sicher. Selbst wenn ihr Blut ihm schmeckte. Doch er gehörte ihr nicht, sie durfte nicht so denken. Sie hatte genug Probleme, ohne sich einem Feyon zu ergeben, dessen berauschende Körperlichkeit ihre Sinne so heftig und unerwartet berührt hatte.
Sie fragte sich, ob Cérise klar war, worauf sie sich einließ. Doch dann fühlte sie, daß die Denglot genau wußte, was sie tat. Sie hatte sie singen gehört. Die Leidenschaft, die die Diva allein mit ihrer Kunst ausdrücken konnte, war sicher nur ein Teil des Ganzen, gab dem sensiblen Hörer jedoch einen guten Eindruck ihres Feuers. Es gab bestimmt viele gute Sänger und Sängerinnen, doch nur wenige verfügten über das Talent, auch die tiefsten Gefühle in ihre Zuhörerschaft hineinsingen zu können. Corrisande konnte die Reaktion des Sí auf die schöne blonde Frau verstehen.
Sie wußte nicht einmal seinen Namen, war aber sicher, daß er ihren kannte. ,Kleines‘ hatte er sie genannt. Vielleicht war sie das wirklich für ihn, klein, unscheinbar und bedeutungslos, bemüht, eine Welt zu retten, die eventuell nicht einmal in Gefahr war. Ein dummes Kind.
Gönnerhaft war er nicht gewesen. Nur besser informiert. Er hatte sie nicht von oben herab behandelt, hatte nur sein Wissen und seine Heilkraft weitergegeben.
Sie musterte noch einmal ihr Spiegelbild. Zerschellt sah sie aus. Es war allzu deutlich sichtbar, und es lag nicht einmal primär an ihren Kratzern und Wunden und all dem Blut auf Haut und Kleidung. Sie war am Ende ihrer Möglichkeiten. Jetzt wußte sie nicht weiter. Alle Ängste waren ihr geblieben. Vielleicht standen sie nicht mehr so im Vordergrund, trieben sie nicht mehr die Wände hoch, klangen nur wie mißtönende Begleitmusik, die sie nicht aus ihrem Kopf und auch nicht aus ihren Gefühlen vertreiben konnte.
Die körperlichen Schmerzen waren erträglich. Die Kratzer taten noch weh, auch ihre Wange pochte noch im Takt ihres Pulsschlags. Ihre Muskeln brannten. Ihre Füße schmerzten, wo sie auf den Eisenornamenten balanciert hatten. Doch das alles war nicht so schlimm. Ihre Hand brannte, doch Steinbergs Salbe hatte gut gewirkt, und auch dieser Schmerz war zu einem andauernden Hintergrundsummen geworden. Er störte, aber sie konnte ihn aushalten.
Was viel mehr schmerzte, war die Erkenntnis, daß sie nun nicht mehr so weitermachen konnte wie bisher. Es gelang ihr aber nicht, auch nur im entferntesten darüber nachzudenken, was sie sonst mit ihrem Leben anfangen sollte. Es schien unwichtig. Eventuell würde die Welt am nächsten Morgen eine andere sein, und sie würde zur ersten Sklavin des neuen Herrschers oder zum ersten Opfer eines neuen weltweiten Strafgerichts. Der Mann würde sie für ihren Verrat töten, wenn er sie zu fassen bekam. Sie wußte nicht wie, war aber sicher, daß er eine ausnehmend häßliche Methode aussuchen würde. Beinahe konnte sie seinen wirren Geist spüren, wie er ihren fing und bog und brach.
Sie wandte sich vom Spiegel ab und dem Balkon zu. Vielleicht sollte sie den Raum verlassen, wie sie ihn betreten hatte, indem sie einfach nur die Wand nach oben kletterte, mit nichts im Sinn außer einem nutzlos hohlen Zweck. Der Gedanke hatte etwas Verführerisches. Einfach in die Nacht, die Dunkelheit und in die Nässe zu verschwinden, als wären diese ein geographisches Ziel. Ihre Hände waren frei. Sie konnte gut klettern. Besser als sonst jemand. Niemand hatte je geschafft, was ihr heute gelungen war. Sie konnte es, und wenn nicht, war es auch einerlei. „Stell nichts Dummes an, Kleines“, hatte er gesagt. Hatte er es gewußt?
Entsetzen durchflutete sie einige Sekunden lang. Sie rang nach Luft, unterdrückte das Gefühl, sich erbrechen zu müssen. Atmen Sie, Corrisande, los. Atmen. Der Moment abgrundtiefen Terrors verebbte langsam, und sie wußte, daß sie sich vor ihrer Verantwortung nicht drücken konnte. Sie hatte dies angefangen, sie war nun Teil davon. Sie hatte wie die anderen eine Aufgabe, und sie mußte etwas tun.
Sie wickelte die Decke fester um sich und versuchte, ihr zerrissenes Kleid so einzuhüllen, daß man nicht ihre zerkratzte, nackte Haut und ihre Unterwäsche sehen konnte. Sie versuchte, der Decke wenigstens ein wenig Wärme zu entlocken in einer Welt, die in jeder Hinsicht soviel kälter war als noch vor einigen Tagen. Sie ging zur Tür, ließ den Balkon mit seinen Möglichkeiten hinter sich. Wenn Steinberg sie töten wollte, mußte er sie erst finden, und dann würde er sich mit ihr auseinandersetzen müssen.
Sie wollte ihr Messer wieder. Sie würde es brauchen. Doch sie hatte mehr als eins.
Sie trat auf den Flur. Vom anderen Ende hörte sie laute, ärgerliche Stimmen. Sie stritten. Sie verschwendeten kostbare Zeit. Sie lief auf die Tür zu, hinter der die Stimmen erklangen. Sie würde es ihnen erzählen müssen. Sie glaubten weder der Sängerin noch dem Sí. Daran hätte sie denken sollen. Es war ja auch unbegreiflich.
Sie öffnete die Tür, ohne anzuklopfen, denn für solche Nettigkeiten war es längst zu spät. Sie trat ein, und im nächsten Moment fühlte sie die kalte Mündung einer Pistole an der Schläfe. Sie schloß die Augen und wartete auf den Schuß.
Er kam nicht.
„Herr im Himmel!“ Es war von Orvens Stimme. Auch seine Waffe. Im Zimmer war es mit einem Mal totenstill, und sie öffnete vorsichtig blinzelnd die Augen und blickte in ein Paar bersteinfarbene am anderen Ende des Raums, das sie bestürzt musterte. Sie lenkte den Blick rasch in eine andere Richtung, fand ein Paar braune Augen, Udolfs, deren geschockter Blick immer noch die nahende Katastrophe spiegelte.
Sie stand ganz still. Eine unendlich lange Sekunde verstrich. Die Mündung verschwand von ihrer Schläfe.
„Sie dürfen nicht streiten“, sagte sie. Die Decke glitt ihr von einer Schulter und gab den Blick auf ein blutverschmiertes, zerrissenes Kleid und auf die Schrammen auf ihrer Haut frei. Es war unwesentlich. „Sie müssen jetzt gleich zu ihm. Ehe er Maßnahmen gegen Sie ergreifen kann. Gegen uns alle.“
Dann sah sie, daß einer der Herren bewegungslos am Boden lag. Der neue Meister des Arkanen. Der Mann, der sie mesmerisiert und befragt hätte. Er würde sagen können, was zu tun war. Er mußte es wissen, und er würde ihr glauben. Er hatte alle Mittel, sie die Wahrheit sagen zu lassen, und seine Fähigkeiten würden auch für das gebraucht, was jetzt auf sie zukam.
Sie wandte sich an den Sí.
„Können Sie ihn erwecken?“ fragte sie.
„Eventuell“, antwortete er. „Wenn die Herren willens sind, mich nach seinem Bewußtsein suchen zu lassen.“
„Ganz sicher nicht“, hörte sie Askos Stimme hinter sich und drehte sich zu ihm um. Inzwischen zielte er auf den Sí. Auf seinen Zügen lag ein unangenehmer, zynischer Ausdruck. Die Lippen, die sie einen Tag zuvor geküßt hatte, hatten sich verändert. Seine Augen waren zusammengekniffen und kalt. Er zielte auf den Feyon, und sie spürte deutlich, daß er keinen Augenblick zögern würde, auch zu schießen. Sie trat in die Schußlinie.
„Herr Leutnant, Sie müssen es ihn versuchen lassen. Er hat ganz außergewöhnliche Kräfte ...“ Sie konnte nicht weitersprechen, wollte weder den Sí noch sich selbst verraten.
„Treten Sie zur Seite, Miss Jarrencourt“, sagte er, und seine eisige Entschlossenheit ließ ihn einen ganz anderen Mann werden als der, der sie erst vor wenigen Stunden so romantisch umworben hatte. „Sie sind zu jung und unerfahren, um zu wissen, was für eine Gefahr er darstellt.“
Sie lächelte. Er errötete leicht und senkte die Waffe ein wenig. Er wußte nichts von ihrem Sí-Erbe, das zumindest war deutlich. Wenigstens ihm hatte Delacroix noch nichts gesagt.
„Das stimmt“, sagte sie. „Ich weiß nicht, welche Begabungen und Talente er haben mag, aber wir müssen sie nutzen. Sehen Sie denn nicht, Herr Leutnant ... Asko ...“, sie sprach ihn mit Vornamen an, obwohl sie dazu noch kein Recht hatte, „daß das hier wichtiger ist? Sie haben gesagt, Sie wollen mich beschützen und Schaden von mir wenden. Dann tun Sie das auch. Sie müssen jetzt gleich etwas tun, und Sie brauchen Ihren Magier dazu. Ich weiß fast nichts über all dies, aber ich weiß, was der Mann in der Etage unter uns für Sie, für uns alle, geplant hat, und wenn Sie ihn nicht aufhalten, dann werden Sie mich nicht beschützen können – niemals –, und deshalb werde ich auch nicht beiseite treten.“
Er sah sie bestürzt an, sein Blick wanderte von ihrem Gesicht und ihren Händen, die voller Kratzer waren, über ihr blutiges, zerrissenes Kleid zu ihren schuhlosen Füßen in blutbefleckten Strümpfen. Sie wußte, daß sie jetzt anders aussah als das brave, unschuldige Mädchen, das errötet war, als er ihr die Hand küßte. Er wäre sehr viel glücklicher gewesen, wenn sie nicht hiergewesen wäre, nicht so zerzaust und aufgelöst, und wenn sie ihm nicht widersprochen hätte. Das konnte er ihrethalben später alles haben. Wenn sie überlebten. Wenn er sie wirklich wollte, dann würde sie versuchen zu sein, was er sich wünschte, brav und sanftmütig, artig und hübsch. Sie würde sich einfach in seine Idealvorstellung von ihr hineinbiegen. Das konnte nicht so schwer sein. Ehefrauen machten das überall so und dauernd. Also mußte es leicht sein, leichter, als mit gefesselten Händen eine Mauer zu erklimmen.
Nur nicht jetzt. In diesem Augenblick war es nebensächlich, ob ihre augenblickliche Erscheinung oder ihr halsstarriger Eigenwille ihn schockierte. Er hielt sie nur auf, und sie hatten keine Zeit für so etwas.
Sie hörte Delacroix’ schroffe Stimme.
„Miss Jarrencourt hat recht“, sagte er und stand plötzlich neben ihr. Seine dominante körperliche Präsenz beanspruchte einen eigenen Raum in ihrem Sinn, machte sich in ihren Gefühlen breit. Sie ignorierte es. „Wir haben Prioritäten, Herr Leutnant. Überwinden Sie Ihre Vorurteile, wir haben keine Zeit dafür.“
Der Hüne sah zu ihr herunter, und sie senkte ihren Blick, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Sie errötete bei dem Gedanken, er könnte sehen, auf welche Weise sie geheilt worden war. Es war ein dummer Gedanke. Er konnte nicht wissen, was geschehen war und was sie dabei empfunden hatte, und selbst wenn er es ahnte, war es nicht seine Angelegenheit, jetzt nicht und überhaupt nie. Die Wolldecke entglitt ihr.
Er hob sie auf und legte sie wieder um sie. Seine Hände auf ihren eisigkalten Schultern fühlten sich heiß an.
„Graf Arpad“, sagte er, während er ihr half, sich wieder zu bedecken und ihre zerrissene Kleidung und all das Blut zu verstecken, „bitte versuchen Sie, ihn zu wecken.“
„Dann ziehen Sie ihn zu mir her“, hörte sie die weiche Stimme des Sí. „Er liegt unerträglich nahe bei der Kalteisenschachtel.“
Die flammenden Hände verließen ihre Schultern. Sie hatte erwartet, daß er sie aus der Schußlinie ziehen würde, doch das hatte er nicht. Es war ihre Entscheidung gewesen zu tun, was sie getan hatte, und er tat nichts, diese Entscheidung in Frage zu stellen. Er ließ sie in der Gefahr, in die sie sich freiwillig begeben hatte.
Sie trat auf Asko zu, der sie bekümmert anstarrte.
„Es tut mir leid“, sagte sie und sah in seine blaßblauen Augen. „Aber ich bin nicht die Außenwand des Hotels hochgeklettert, um zuzusehen, wie die Welt endet, während Sie speziesrelevante Moralvorstellungen diskutieren. Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe. Es tut mir sogar sehr leid.“
Er hielt die Waffe noch in der Hand, doch sie war nicht mehr auf sie gerichtet.
„Sie können mich nicht enttäuschen“, sagte er und erwiderte ihren Blick ernst. „Sie haben für uns alle gelitten, und Ihr Mut ist bewundernswert. Doch Sie wissen nur wenig von all dem hier, und die Erfahrungen, die Sie in Ihrem jungen Leben bislang gesammelt haben, können Sie nicht adäquat auf eine solche Situation vorbereitet haben. Sie sind ein süßes junges Mädchen und haben nicht den Erfahrungshorizont, Entscheidungen dieser Art zu fällen, und das ist richtig so, das brauchen Sie auch nicht, es ist nicht Ihre Aufgabe. Ich verstehe, daß Sie glauben, das Richtige zu tun, und ich weiß auch, daß Sie mich nicht tun lassen werden, was ich für das Richtige halte, selbst auf die Gefahr hin, daß ich Sie verletze. Doch das würde ich nie tun.“
Seine freie Hand wanderte zu ihrem Gesicht, berührte es aber nicht.
„Haben Sie Schmerzen?“ fragte er, und etwas von der höflichen Sanftheit fand den Weg zurück in seine Stimme.
„Es geht“, sagte sie ehrlich. „Egal – es wird heilen.“
Mit einem Finger fuhr er an der weißen Zickzacklinie in ihrem Gesicht entlang, an der Stelle, die geheilt worden war. Er sah konsterniert aus, wußte offenbar nicht, was er davon halten sollte. Sie würde es ihm nicht sagen. Hätte er gewußt, was der Feyon – Graf Arpad, korrigierte sie in ihren Gedanken – mit ihr gemacht hatte, hätte er ihn sogleich erschossen, und hätte er auch nur geahnt, daß sie die Intimität dieser Heilung genossen hätte, wäre er vor Schock umgefallen.
Sie stand still, ließ zu, daß er sie anfaßte und konzentrierte sich auf seine rechte Hand, die immer noch die Waffe hielt. Sie streckte die Linke danach aus und berührte sie.
„Bitte“, sagte sie. Die Hand, die die Pistole hielt, fühlte sich kalt an. Hinter sich hörte sie ein erschrecktes Einatmen und ein Stöhnen. Sie drehte sich nicht um, hielt nur weiter den Blick des jungen Offiziers fest, als könnte sie ihn mit ihren Augen vollständig bannen.
„Er erwacht“, sagte Delacroix’ Stimme, und dann: „McMullen! Wachen Sie auf! Wir brauchen Sie!“