Kapitel 20

Die sogenannten Herren der Schöpfung waren einfach zu unpraktisch, dachte Cérise. Sie wußte wirklich nicht, wie ihnen je etwas ohne weibliche Hilfe gelang. Da warteten sie auf das Monster, das in zwei, drei Stunden erneut erscheinen sollte, und keiner von ihnen hatte daran gedacht, einmal das Hotel zu verlassen und ein wenig einkaufen zu gehen. Nein. Natürlich mußte sie das tun. Als habe sie alle Zeit der Welt!

Nichts hätte falscher sein können. Freiherr von Perfall, das derzeitige Oberhaupt aller Münchner Bühnen, erwartete sie in wenigen Minuten zur Probe, und er würde es sicher nicht schätzen, wenn sie sich verspätete. Er galt als übergenauer Mensch. Für einen Künstler, und dafür hielt er sich, hatte er eine durch und durch geschäftsmäßige Art, seine Angelegenheiten zu handhaben. Allerdings war er nicht nur Künstler. Er war auch Rechtsgelehrter.

Genauso klangen seine Bühnenwerke. Sie hatte sie gehört und war sicher, daß die Werke nicht überdauern würden. Wagners Opern schon, seine nicht. Nicht, daß sie Wagner lieber mochte, und das immerhin war eine Meinung, die sie mit von Perfall teilte. Freilich blieb ihm nichts anderes übrig als sie zu mögen, denn Wagneropern waren des Königs Lieblingsmusik, und als Bayerischer Hofmusikdirektor mußte er wohl oder übel die Meinung seines Königs teilen. Im Zuge dieses Pflichtbewußtseins nahm er auch aktiv Anteil an den verschiedenen Inszenierungen und Proben. Vielleicht hätte er nicht Jura studieren sollen, ehe er Musiker wurde. Das konnte einen musikalisch nur verderben. Cérise mochte keine Anwälte.

Doch das war jetzt egal. Sie war früher als nötig vom Hotel aufgebrochen. Nicht etwa, damit sie auf alle Fälle einer Begegnung mit dem Monster entging – keinesfalls. Doch es war ihr in den Sinn gekommen, daß die Herren Offiziere höchstwahrscheinlich wieder nicht die richtigen Schlüsse aus den Ereignissen der letzten Stunden gezogen hatten und auf das Naheliegendste zuletzt kommen würden.

Das war typisch. Sie hätte ihnen natürlich auch einfach sagen können, was zu tun war, doch sie hatte sich entschlossen, die Sache auf eigene Faust anzugehen. Eine Frau konnte viel mehr erreichen als ein Mann. Zumindest meistens.

Statt direkt zur Oper zu gehen, überquerte sie am Opernplatz die Maximilianstraße und steuerte in Richtung einer der kleinen Seitenstraßen. Der Laden, den sie suchte, war genau dort. „Obermair – magische Ausrüstung“ war auf einem Schild über der Tür zu lesen, und der Portier hatte ihr versichert, dies sei die beste Quelle für arkane Hilfsmittel. Ein guter Hotelportier mußte selbst die ausgefallensten Dinge wissen.

Sie verabscheute Zauberkunst. Es hörte sich immer alles so großartig, so berauschend an, doch wurde man damit konfrontiert, dann mangelte es an Wirkung. Man mußte sich nur Vonderbrück anschauen. Da kam er mit der allerhöchsten Empfehlung, und was machte er? Saß in seinem Zimmer und schickte sie sinnlos durch die Gegend. Und immer diese Miene leidend gelangweilter Konzentration.

Also mußte sie selbst etwas unternehmen. Sie lugte durch das Fenster in den kleinen, dunklen Laden. Jetzt schwand ihre Selbstsicherheit ein wenig. Vielleicht sollte sie doch erst nach der Probe zurückkommen?

Nichts da. Sie war Cérise Denglot, und sie weigerte sich kategorisch, sich vor einem Geschäft zu fürchten. Entschlossen öffnete sie die Tür und trat ein. Ein falsch klingender Glockendreiklang bimmelte. Sie erschrak, doch dies hatte nichts mit Zauberkunst zu tun. Die Glöckchen hingen einfach von der Decke, und die sich öffnende Tür stieß sie an.

Ganz simpel. Nichts Ungewöhnliches dabei.

Aus einer Türöffnung auf der anderen Ladenseite trat ein ganz in Schwarz gekleideter Mann mittleren Alters. Er machte einen mürrischen Eindruck.

„Ja, bitte“, begrüßte er sie und wiederholte dann: „Ja, bitte?“

Anscheinend war das die magische Art, einen guten Morgen zu wünschen.

Sie nickte ihm zu und lächelte. Letzteres konnte sie gut. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht wie die Strahlen der Morgensonne in all ihrer Herrlichkeit. Das hatte von Görenczy einmal in einem nicht ganz gelungenen Versuch, poetisch zu sein, gesagt. Sie war gerührt gewesen. Damals.

„Guten Morgen“, grüßte sie zurück. „Ich frage mich, ob sie mir helfen können.“

Der Mann sah sie erwartungsvoll an, und plötzlich wurden seine Augen rund und sein Blick enthusiastisch.

„Mademoiselle Denglot“, hauchte er begeistert und faltete die Hände, als wolle er sie anbeten. „Welche Ehre! Welch Glücksgefühl! Welch Ruhm in meinem bescheidenen Hause! Ich habe Sie singen gehört. Sie sind großartig! So großartig. Ich war zu Tränen gerührt.“

Er streckte die Hände nach ihr aus, merkte aber dann, daß er die Grenze höflichen Benehmens zu überschreiten drohte.

„Sie müssen mein Verhalten verzeihen. Meine Begeisterung hat mich fortgerissen. Ich bin so geehrt. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Cérise lächelte ihn erneut an und ignorierte, daß sein dünner Zwirbelbart an den Enden vor Entzücken zitterte wie die Barthaare eines überängstlichen Nagetiers. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum Bewunderer nicht praktischerweise alle jung und gutaussehend sein konnten.

„Monsieur“, sagte sie, „mein Begehr ist probablement etwas ungewöhnlich, aber hätten Sie vielleicht Kalteisenwaffen in Ihrem Sortiment?“

Sein Antlitz wurde ernst. Er fuhr sich unverzeihlicherweise mit der Hand durch das spärliche Haar.

„Du lieber Himmel“, stammelte er. „Du lieber Himmel.“

„Ich weiß natürlich, es ist ein wenig außergewöhnlich, sich nach solchen Gegenständen zu erkundigen, aber wir ... ich benötige so etwas außerordentlich dringend.“ Sie schenkte ihm ein noch strahlenderes Lächeln, und sein Mauseschnurrbart zitterte um so erregter.

„Du lieber Himmel“, wiederholte er. „Gute Güte.“

Dann riß er sich zusammen.

„Bitte verzeihen Sie vielmals meine Impertinenz, wenn ich mir erlaube, Ihnen einen Rat zu erteilen, obgleich ich – das weiß ich sehr wohl – dazu nicht das geringste Recht habe, doch sollten Sie sich in einer Gefahr, die von einem Feyon ausgeht, befinden, so wäre es für Sie auf alle Fälle richtiger – und auch sicherer –, einen entsprechenden Spezialisten, der in diesen Dingen bewandert ist und der Ihnen in dieser besonderen Lage sicherlich gerne behilflich sein wird, zu konsultieren, Mademoiselle.“

Cérise benötigte einen Moment, um den Satz in seiner Komplexität zu begreifen.

„Ah“, sagte sie schließlich. Dann arbeitete sie an einem noch zauberhafteren Lächeln. „Die Waffe ist gar nicht für mich. Ich hatte noch nie mit einem Feyon zu tun. Gewiß nicht.“

Er sah sie skeptisch an.

„Bestimmt nicht?“ fragte er. „Als ich Sie eintreten sah, vermeinte ich, eine gewisse Aura zu ...“

Sie sah ihn streng an.

„Wahrscheinlich habe ich mich geirrt. Sicher waren es nur Ihre Schönheit und Ihr Glanz, die mich betörten.“ Er lächelte sie einen dankenswert kurzen Moment lang entrückt an. „Sie wissen ja, Kalteisen ist sehr, sehr selten. Dieser Laden“, er verneigte sich ohne ersichtlichen Grund, „hat sich auf arkane Materialien für professionelle Meister des Arkanen spezialisiert. Wir sind stolz darauf, die verschiedensten Logen zu beliefern. Allerdings verkaufen wir grundsätzlich nicht an Amateure ... ich meine Laien. Die Utensilien sind zu gefährlich. Ich hoffe, Sie verstehen das.“

Cérise nickte verständnisvoll. Sie holte in dem Bewußtsein, daß ihr Dekolleté dadurch noch ein wenig wirkungsvoller wurde, tief Luft, und in der Tat verirrte sich der Blick des zaudernden Zauberlieferanten eine Sekunde lang in dem ihm dargebotenen Garten der Lüste.

„Ich verstehe“, hauchte sie und gab sich Mühe, verzagt und hilflos zu klingen. „Sie können mir nicht helfen – und ich hatte doch so auf Ihre Hilfe gebaut! Was soll ich denn nur tun?“ Sie hob die Hand in einer dramatischen Geste an die Schläfe. „Aber Sie müssen natürlich Ihren Grundsätzen treu bleiben. Das sehe ich ein. Oh. Das begreife ich nur zu gut. Nur ...“ Sie ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen und schmückte ihn mit einem weiteren tiefen Seufzer.

Der Ladeninhaber war nun deutlich beunruhigt. Er trat von einem Fuß auf den anderen und rang die Hände. Langsam wird er reif, dachte Cérise Denglot bei sich. Sie trat dicht an den Ladentisch, stützte ihre linke Hand darauf und lehnte sich bei dieser Bewegung leicht vor. Sie wußte, daß der Mann nun ihre gesamte Präsenz sehr deutlich spüren würde, von der besseren Aussicht auf ihr Dekolleté ganz zu schweigen.

„Eventuell“, sagte sie, „können Sie einmal eine Ausnahme machen? Nur für mich? Ich darf Ihnen die Hintergründe nicht offenbaren, doch“, sie hielt inne, ließ eine effektvolle Sekunde verstreichen und nahm dann seine Hand, „Sie würden Leben retten. Möglicherweise sogar meines.“

Sie wußte, sie hatte gewonnen. Der Mann sah ihr mit schmelzendem Blick in die Augen. Ohne sie loszulassen, griff er mit der anderen Hand unter den Ladentisch und holte ein massives Holzkästchen hervor.

„Ich habe nur dieses eine Artefakt“, sagte er und öffnete den Behälter. Ein zierliches Messerchen lag darin auf Samt gebettet. Es war nicht größer als ein Brieföffner.

„Bitte unterschätzen Sie es nicht“, ermahnte er sie. „Dies ist absolut tödlich für jeden Sí, und sollten Sie einen treffen, verraten Sie nicht, daß Sie es von mir haben. Keinesfalls!“

Cérise versprach es.

Dann zahlte sie den außerordentlich hohen Preis für den kleinen Schatz und schenkte dem Mann noch ein Lächeln, zusammen mit einer Freikarte für „Tristan und Isolde“, der nächsten Oper, in der sie singen würde.

„Können Sie es mir ins Hotel schicken?“ bat sie und schrieb die Adresse auf. „Bitte adressieren Sie es an ...“ Sie zögerte, da sie mit einem Mal sehr sicher war, daß weder Delacroix noch Udolf ein Geschenk von ihr verdienten, „... an Leutnant Asko von Orven. Lassen Sie es gleich zustellen. Der Herr braucht es dringend.“

Sie verließ das Geschäft und trat ins Freie. Ihr war etwas schwindlig. Die Atmosphäre in dem Laden war doch sehr drückend gewesen. Ihr war, als hebe sich ein grauer Schleier von ihrer Seele, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund war sie froh, daß sie das Kästchen nicht selbst überbringen mußte.

Nicht, daß sie dazu noch Zeit gehabt hätte. Ihre Probe fing in wenigen Minuten an. Sie mußte sich beeilen.

Das Obsidianherz
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