Kapitel 75
Warum nur passierten ihr all diese Dinge, fragte sich Corrisande. War es eine göttliche Strafe für das Leben, das sie geführt hatte? Sie hatte gestohlen, doch im Vergleich zu dem anderer Menschen war ihr Leben beinahe makellos gewesen. Wenn sie Schmuck stahl, beraubte sie niemanden seines Auskommens. Die Menschen, deren Juwelen sie an sich nahm, waren reich. Schuldig hatte sie sich nie gefühlt.
Nun hatte sie getötet, aber nur ein Mal und nur, um einen anderen zu retten. Sie fand, sie habe eine so massive Bestrafung nicht verdient. Doch das war unerheblich. Selbstmitleid würde ihr nicht helfen.
Ihre Gedanken rasten. Dagegen also kämpften Delacroix und seine Männer. Das hatte Delacroix aus ihr herauszuholen versucht, ohne zu wissen, ob sie dem Komplott angehörte oder nicht. Nun war sie ein Teil davon geworden, und nur deshalb, weil sie war, was sie war.
Sie fragte sich, warum Delacroix sie hatte gehen lassen. Wahrscheinlich wußte er gar nicht, was hier geschah. Er hatte keine Vorstellung von den Einzelheiten des Plans, hatte nichts als ein paar dünne Verdachtsmomente. Wenn er mehr gewußt hätte, hätte er sie gar nicht erst verdächtigt. Das hieß, über dies hier wußte er nichts.
Er suchte das Manuskript, und alle möglichen Irren sahen in dem Artefakt ihre Rettung und ihr Glück. Erst Vonderbrück und jetzt Steinberg. Beide waren Magier.
Sie mußte die Offiziere warnen. Steinberg hatte sie gefesselt, aber behutsam, um ihr nicht weh zu tun. Sie begann, sich zu winden, versuchte, ihre Beine unter sich zu ziehen, in eine kniende Position zu kommen. Um den Knebel zu entfernen, mußte sie mit den Fingern den Schal erreichen. Doch das war schwierig. So vorsichtig der Mann auch gewesen war, er hatte sie wie ein Paket verschnürt. Er hatte keinesfalls ein Risiko eingehen wollen.
Der Mann war wahnsinnig. Er konnte doch nicht die ganze Welt verändern wollen? Wie konnte das jemand wollen? Wie konnte jemand überhaupt nur annehmen, daß sein Verstand groß und umfassend genug dazu war, aus Alpträumen und Wunschträumen eine ganze Welt erstehen zu lassen? Es war lästerlich. Es war undenkbar, jenseits ihres Begriffsvermögens.
Alle Fey ermorden. Was mochte geschehen sein, daß er sie so haßte? Was hatten sie ihm getan, daß er ihre gesamte Gattung ausrotten wollte? Eine Gattung, der er selbst angehörte. So wie sie. Sie fühlte sich ihr nicht nah, doch in ihren Gedanken war keine Abneigung, nur offene Fragen.
Sie wußte so wenig. Nichts wußte sie über ihre unheimliche Abstammung, und die einzigen Fey, die sie je getroffen hatte, waren in diesem Hotel. Das Schattenwesen hatte versucht, sie zu rauben und zu mißbrauchen. Der dunkeläugige Mann, der Delacroix’ Hand festgehalten hatte, hatte ihr Leben gerettet.
Das mußte ihm Schmerzen bereitet haben, begriff sie auf einmal. Er hatte Delacroix am Handgelenk gehalten, während der den Kalteisendolch in der Hand hatte. Er hatte das ertragen, um sie zu schützen. Sie konnten nicht alle schlecht und böse sein. Sie glaubte nicht daran.
Inzwischen hatte sie es auf ihre Knie geschafft. Ihre Knöchel waren fest verschnürt, ihre Füße gefühllos. Sie versuchte, sich seitwärts zum Bettgestell zu drehen. Die Handgelenke konnte sie nicht bewegen, doch ihre Finger waren frei. Sie hob ihr Gesicht an ihre Hände. Sie konnte die Finger bewegen, allerdings nur ein wenig, und sie brauchte eine lange Zeit, um an dem Schal zu ziehen, oder genauer, den Schal festzuhalten, während sie versuchte, das Gesicht darunter hervorzuziehen. Er hatte den Schal fest um ihr Haupt gewunden, hatte damit das widerliche Tüchlein in ihrem Mund fixiert. Kaum konnte sie atmen, und weinen durfte sie schon gar nicht. Wenn sie weinte, würde ihre Nase sich zusetzen, und sie würde ersticken. Ein guter Grund, nicht die Beherrschung zu verlieren.
Ihre Finger zogen und rutschten ab, zerrten erneut und rutschten wieder ab. Der Seidenstoff war glitschig, und der Mann hatte den Schal so fest um sie gebunden, daß er sich an allen Teilen ihres Gesichts festzukrallen schien. Sie wußte nicht, wie lange ihre tauben Finger brauchten, bis es ihr endlich gelang, den Stoff vom Gesicht zu ziehen und das Taschentuch auszuspucken.
Jetzt konnte sie schreien.
Nützen würde ihr das nichts. Er war nebenan, und niemand würde sie so schnell erreichen können wie er. Ein zweites Mal würde er sie nicht unterschätzen. Vielleicht würde er sie töten oder mit Magie lähmen, sie in eine paralysierende Migräne schicken, würde sie erneut versteinern. Das konnte sie nicht riskieren. Diese Art von Angst konnte sie nicht mehr ertragen.
Schreien war keine Lösung. Sie tastete mit dem Mund nach den Schnüren, die ihre Handgelenke banden. Es war zu dunkel, um sie zu erkennen, doch ihre Lippen fanden einen Knoten, und sie begann, daran zu knabbern und zu ziehen. Sie mußte sich beeilen, denn sie wußte nicht, wann er nach ihr sehen würde. Er war Mediziner, und auf eine verschrobene Weise lag ihm ihr Wohl am Herzen. Vielleicht würde er überprüfen wollen, ob es ihr gut ginge. Ein freundlicher Geistesgestörter. Schwer einzuschätzen. Sie biß in die Schnur, zog sie mal in die eine, mal in die andere Richtung. Manchmal stieß sie gegen die Verbrennung an ihrer Hand und unterdrückte einen Schrei. Die Hand fühlte sich besser an als vor der Behandlung, doch wenn sie die Wunde berührte, schoß ihr pure Agonie durch den Arm.
Ihre Füße waren inzwischen komplett eingeschlafen. Ihre Zehen kribbelten erbärmlich. Nicht, daß er sie zu fest gebunden hatte, er hatte nur nicht damit gerechnet, daß sie sich drehen und darauf knien würde.
Eine Schnur löste sich, und ihre Hände waren nicht mehr ans Bettgestell gebunden. Sie stellte fest, daß ihre Handgelenke trotzdem noch gefesselt waren. Sie hob sie an die Lippen und suchte auch hier nach einem Knoten, fand aber keinen. Er hatte die Fesseln unter ihren Handgelenken verknotet, und sie kam nicht dran – und die Kordel durchzubeißen würde viel zu lange dauern.
Doch vielleicht konnte sie die Fußfesseln auch mit gefesselten Handgelenken lösen. Sie drehte sich und setzte sich wieder auf den Boden, zog die Knie an. Sie faßte nach unten und verfluchte Frauenkleidung. Ihre weiten Röcke und Unterröcke waren im Weg, und ihr Korsett verhinderte, daß sie sich allzuleicht vornüberbeugen konnte.
Als Einbrecherin hatte sie immer Knabenkleidung getragen. In einem Reifrock die Wände hochzuklettern war unmöglich. Die Freiheit, die Männerkleidung bot, hatte sie genossen, obgleich sie in den Sachen natürlich nicht hübsch ausgesehen hatte. Die Aussicht, bei einer Inhaftnahme zu allem Überfluß auch noch unpassend gekleidet zu sein, hatte sie immer beunruhigt.
Sie konnte den Knoten, der das Seil um ihre Knöchel hielt, nicht erreichen. Sie krümmte und wand sich mal in die, mal in jene Richtung, aber egal wie sie sich drehte und wand, sie kam nicht dran.
Doch an die Schnürsenkel kam sie. Sie öffnete sie und versuchte, die Schuhe an den Füßen zu lockern. Stiefeletten. Es hätte schlimmer sein können, aber auch besser. Warum hatte sie nur keine Tanzschuhe angezogen? Aus denen herauszukommen wäre leicht gewesen.
Sie brauchte einige Zeit und schrie fast auf, als sie abrutschte und ihre Verbrennung über ihre Schuhe rieb. Den gleichbleibenden Schmerz hatte sie wieder eine Weile verdrängen können. Die Salbe war ausgezeichnet. Er war ein guter Mediziner. Warum konnte er nicht einfach nur ein guter Mediziner sein – und sonst nichts?
Plötzlich schaffte sie es, ihre Füße aus den Stiefeln zu ziehen. Sie rappelte sich auf, stand in Strümpfen da und schwankte. Ihre Füße waren taub. Sie bewegte probehalber die Zehen. In die Stiefel würde sie nicht wieder passen, selbst wenn es jetzt leicht war, die Fesseln von ihnen herunterzuziehen.
Es war dunkel. Sie versuchte, sich an den Schnitt des Raumes zu erinnern. Sie hatte nur eine Tür gesehen, die, die in seinen Salon führte. Die hatte er versperrt. Ein Schloß zu knacken war leicht, doch sie benötigte Hilfsmittel dafür, und ihre gefesselten Handgelenke würden sie zudem behindern.
Blieb nur das Fenster. Sie hörte den Regen gegen die Scheibe trommeln. Sie befand sich im zweiten Stock. Sie dachte an ihr Kleid, weit und lang. Mit den gefesselten Händen hob sie die Röcke Stück für Stück, bis sie drunter greifen konnte. Wenigstens den Reifrock und die ausladenden Unterkleider mußte sie loswerden. Sie zog sie um ihre Taille, bis sie an die Knöpfe und Haken kam, und öffnete sie. Sie zappelte und wand ihren Körper, und die Unterwäsche fiel ihr zu Füßen.
Vorsichtig stieg sie heraus, stieß sie mit dem Fuß aus dem Weg, damit sie sich nicht darin verfing und fiel. Der Rock ihres Kleides war nun, ohne Schuhe mit Absätzen und ohne Unterröcke, zu lang für sie. Aber dagegen konnte sie nichts tun, konnte sich nicht weiter auskleiden. Trotzdem würde der Stoff im Weg sein, wenn sie aus dem Fenster stieg. Sie hob das Material an den Mund, hielt es mit den Zähnen, und es gelang ihr, vorne einen Knoten in den Stoff zu machen, der einen Großteil des umfangreichen Kleides zusammenhielt.
Besonders gut klappte das nicht. Doch wenigstens hatte sie jetzt Beinfreiheit. Wahrscheinlich sah sie völlig unmöglich aus, wie sie dastand in knöchellangen, spitzenverzierten „Unerwähnbaren“ mit einem hochgeknoteten Rock. Doch das war jetzt unwichtig.
Sie lauschte, ob sie aus dem anderen Raum Geräusche vernehmen konnte, und hörte Schritte. Sie mußte sich beeilen. Jeden Augenblick konnte er zurückkommen. Sie trat zum Fenster und öffnete lautlos beide Flügel. Davor war kein Balkon. Das Sims war feucht. Während ihrer Klettermaxe-Karriere hatte sie darauf geachtet, nicht bei strömendem Regen zu arbeiten, und schon gar nicht mit gefesselten Händen.
Nur wenig Licht kam von den beiden Gaslaternen, die weit unter ihr den Haupteingang flankierten. Nichts bewegte sich auf der Straße. Es war ruhig, eine dunkle, stille, verregnete, kalte Nacht.
Sie versuchte, sich an den Aufbau des Gebäudes zu erinnern. Neben jedem dritten Fenster gab es einen Balkon. Sie hatte einfach Pech, daß ihr Fenster keinen hatte. Doch nebenan war einer. Sie sah nach unten und stellte fest, daß es im ersten Stock keine Balkone gab. Wenn sie nach unten kletterte, würde sie irgendwann ins Dunkel springen müssen – und dann? Ins Hotel laufen und um Hilfe schreien? Würde man ihr helfen oder sie abtransportieren lassen wie eine entflohene Irre? Wer würde sie zuerst erreichen, der Arzt oder die Offiziere? Wen würde man schon holen, wenn plötzlich eine aufgeregte, verletzte Frau in die Lobby stürmte? Den Arzt, nicht das Militär.
Nach unten konnte sie also nicht. Sie mußte hinauf. Sie wußte nicht genau, was über diesem Zimmer war, aber es mochte durchaus ihre eigene Schlafkammer sein.
Sie setzte sich aufs Fenstersims und drehte sich mit den Beinen nach außen. Ihre schuhlosen Füße baumelten hoch über der Straße. In der Mitte des Fensters war ein Mittelholm, den sie ergriff. Dann schob sie sich nach draußen, drehte sich dabei vollends der Wand zu. Sie wußte, daß horizontale Zierrillen die Außenwand entlangliefen, vielleicht einen, vielleicht zwei Zoll tief. Sie wünschte, es wären zwei Zoll und sie würde eine solche Verzierung mit ihren Füßen finden.
Ihre Zehen tasteten die Wand ab. Ihre Körpermitte und ihr Oberkörper ruhten noch auf dem Sims. Vielleicht hätte sie von dort aus stehend ihre Kletterpartie beginnen sollen. Wenn sie jetzt fiel, dann brauchte sie sich weder um die Welt noch um den Wahnsinnigen von nebenan Gedanken zu machen. Sie würde auf die schwarze Straße klatschen und tot sein. Vielleicht nicht gleich, doch ob man sie rechtzeitig finden würde, war fraglich.
Ihre verbrannte Hand quälte sie inzwischen wieder sehr. Sie gab nicht gut genug acht darauf, und die Hand mußte Aufgaben übernehmen, die kaum eine gesunde Hand vermochte. Corrisande verbot sich, laut zu stöhnen und versuchte, den Schmerz aus ihrem Bewußtsein zu verbannen. Ihre Füße fanden eine Rille in der Wand. Sie war schmal und glitschig. Corrisandes Strümpfe waren sofort durchnäßt.
Seitlich von ihr unter dem nächsten Fenster sah sie den dunklen Schatten eines Balkons. Wahrscheinlich lag er vor dem Zimmer des Arztes, und sie würde sehr leise sein müssen, wenn sie ihn überhaupt erreichen konnte. Zoll für Zoll bewegten sich ihre seidenbestrumpften Füße an dem Vorsprung entlang. Der Regen hatte ihr Kleid durchnäßt, und ihr war kalt. Sie preßte ihr Gesicht an die Wand, die rauhe Oberfläche zerkratzte ihre Haut. Sie bewegte sich immer weiter seitlich, bis zu dem Punkt, an dem sie den Fensterrahmen loslassen mußte.
Es gelang ihr nicht, ihre Finger zu lösen, denn mit einem Mal war ihr klar, daß sie im gleichen Moment fallen würde. Es war unmöglich, sich allein mit den Zehen auf einem winzigen Vorsprung zu halten. Ihre gefesselten Hände konnte sie nicht vor sich nehmen, denn sie würden zuviel Platz zwischen ihrem Körper und der Wand benötigen. Einen solchen Winkel konnte sie nicht ausbalancieren. Sie würde rückwärts fallen.
Noch konnte sie zurück. Es war möglich, wieder durchs Fenster zu kriechen. Er mochte sie dabei hören. Er würde kommen, sie erneut fesseln, sie unter einen Bannspruch legen und ihr Dinge antun. Rätselhafte Dinge, unbegreifliche Dinge oder vielleicht auch nur anstößige Dinge, und sie würde es ihm erlauben. Vielleicht machte es wirklich keinen Unterschied mehr. Welchen auch? Vielleicht würde er ihr ja nichts tun. Bisher hatte er das weitgehend vermieden. Er war netter zu ihr gewesen als der Colonel. Vielleicht ließ sich aushalten, was immer er mit ihr vorhatte. Es war auf alle Fälle einfacher und sicherer als das, was sie im Moment tat. Ungefährlicher. Weniger lebensbedrohlich.
Sie erinnerte sich an die Bernstein-Augen und schien seine harsche Stimme zu hören: „Atmen Sie, Corrisande! Los! Atmen!“
Sie konzentrierte sich und atmete ein, wobei ihr sehr bewußt war, daß dies eventuell ihr letzter Atemzug sein mochte. Dann ließ sie los, ließ sich fallen, rutschte seitlich an der Hauswand entlang, hoffte, dieser gezielte Sturz werde ihr ermöglichen, irgendeinen Teil des schmiedeeisernen Balkongeländers nebenan zu erhaschen. Es war nicht weit, nur ein, zwei Schritte, die sie aber nicht tun konnte.
Sie schlug ihr Gesicht an einem spitzen Eisenstück an und spürte, wie sich etwas in ihre Wange bohrte und durch ihr Gesicht riß. Der plötzliche Schmerz ließ sie beinahe den Moment verpassen, den sie hatte, um sich festzuhalten. Doch ihr Kletterinstinkt ließ sie nicht im Stich, und schon hatte sie ihre Hände durch die Eisenornamente geschlungen, fand irgend etwas zum Festhalten, kratzte über ihre Brandwunde, klammerte sich an rissiges Metall. Sie unterdrückte einen Schrei. Ihre Füße verloren den Halt am Mauervorsprung, und nun hing sie über der Straße, hielt sich nur mit den gefesselten Händen am nassen, kalten Eisen fest.
Sie dachte plötzlich, daß sie wahrscheinlich abgestürzt wäre, wäre sie ein reinblütiger Mensch gewesen. Doch ihre Finger hielten die Metallstreben umfaßt, und sie war nicht schwer. Sie war stark und unverwüstlich. Sie würde das schaffen. Eine Alternative gab es nicht. Es mußte gelingen.
Sie fühlte, wie ihr warmes Blut vom Gesicht über den Hals in den Kragen lief. Sie konnte es riechen, salzig-metallisch, ihr unreines Feyon-Blut. Offenbar hatte sie sich schwerer verletzt, als sie ursprünglich gedacht hatte. Sie versuchte, auch daran nicht zu denken, schob den Gedanken an Schmerz gezielt von sich weg. Sie schwang die Beine hoch, klemmte sie zwischen die Eisenstreben. Man konnte außerhalb des Balkons stehen. Sie hatte es bereits getan. Es war einfach gewesen.
Sie zwang sich, ihr Gewicht auf die Füße zu verlagern. Jetzt kauerte sie außerhalb des verzierten Gitters, die Füße unter ihr, ihre Hände an einer Strebe festgekrallt. Ihr Körper hing in einer engen Hocke über der Straße.
Hoch. Sie mußte hoch, und zwar lautlos. Emporsteigen konnte nicht so schwer sein. Die Architektur machte das Haus zu einem Einbrecherparadies. Zumindest hatte sie das gedacht, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte. Horizontale Rillen im Mauerwerk, Stuckfiguren über den Fensteröffnungen und schmiedeeiserne Balkone, deren ausladende Einfriedungen verspielt von einem zum nächsten Stockwerk wuchsen. Normalerweise war das leicht. Wenn man nicht gefesselt und verwundet war.
Sie schob ihre Finger an den Eisenstreben entlang nach oben. Empor. Wann immer sie die Hände bewegte, versuchte sie, mit den Füßen die Balance zuhalten, und einmal hielt sie sich mit den Zähnen fest, bis ihre Hände wieder einen Halt gefunden hatten.
Das feuchte Eisen war glitschig unter ihren Füßen. Sie bewegte sich vorsichtig. Sie mußte sich beeilen, doch wenn sie fiel, war alles zu spät. Sie hatte nur diese eine Chance, und sie konnte gut klettern. Sehr gut sogar. Selbst mit gefesselten Händen.
Höher und höher kroch sie, ihre schuhlosen Füße balancierten auf den scharfkantigen Eisenornamenten, die in sie hineinkratzten und -schnitten, ihre Hände krochen Zoll für Zoll nach oben.
Nun stand sie auf der Balustrade. Sie mußte mit den Händen nach oben, nach dem nächsten Halt greifen, balancierte auf dem schmalen Geländer. Ein kalter Wind riß an ihrem Kleid und lockerte den Knoten, den sie in den langen Rock geknüpft hatte. Ihre Hände ergriffen die Gitter des nächsten Balkons über ihr. Wieder versuchte sie, die Beine nach oben zu schwingen, so wie sie es auf dem Balkon gemacht hatte, von dem sie soeben hochgeklettert war, und es gelang ihr fast. Doch dann schnitt mit lähmender Gewalt Schmerz durch ihren Kopf, stach durch ihre Gedanken, und sie wäre fast gefallen, hing nur noch an den Fingerspitzen, spürte, wie ihre Finger langsam vom feuchten Eisen rutschten. Alle Kraft verließ sie.
Beinahe hätte sie es geschafft, dachte sie. Beinahe. Aber nicht ganz.