Kapitel 55
Es war mitten in der Nacht, als Corrisande erwachte. Sie fror. Etwas hatte sie aus dem furchtbaren Alptraum gerissen, der sie heimgesucht hatte, doch sie wußte nicht was.
Sie spürte Tränen auf ihrem Gesicht. Sie hatte im Traum geweint. Ihre Hände waren in die Kissen gekrampft, und sie lag halb ausgezogen auf ihrem Hotelbett.
Vielleicht hatte sie das geweckt. Sie fühlte sich unwohl. Sie zog die Decke hoch. Im ersten Moment konnte sie sich nicht erinnern, warum sie so unvollständig entkleidet im Bett lag. Dann brach eine Lawine von Eindrücken in ihre Gedanken ein. Ihr furchtbarer schwarzer Traum verebbte und räumte das Feld für eine ebenso schreckliche Realität. Einige Augenblicke lang wußte sie nicht, wo der Horror des letzten Tages endete und das Entsetzen ihres allzu bösen Traumes anfing.
Sie war ein Feyon. Zumindest teilweise. Das war Realität. Der Gedanke kam immer wieder in ihr hoch. Er war nicht Teil des Alptraums und würde nicht ins Vergessen gehen, wenn der Tag anbrach. Sie war anders. Sie war abartig. Widerlich, verachtungswürdig und abscheulich. Menschen würden sie hassen, weil sie war, was sie war, und dabei wußte sie noch nicht einmal, was es hieß, so zu sein.
Sie war ruiniert. Ihr sorgfältig gehüteter Ruf war wegen eines Mannes, der ihren Vater und sie selbst verraten hatte, dahin. Der versucht hatte, Delacroix umzubringen – und natürlich Leutnant von Orven.
Ein wertvolles kleines Ding hatte er sie genannt. Sehr exquisit. Ein schöner Lockvogel. Niemandem wichtig außer einem, der sich für allzu stark und mächtig hielt. Ein Protegé vieler. Leicht zu habende Ware. „Nicht, daß Sie sich je an ihr erfreuen werden“, hatte er Delacroix prophezeit.
Der letzte Satz stimmte. Erfreut hatte sie Delacroix nicht. Er haßte ihre Gegenwart und alles, was er durch den machtgierigen Irren erfahren hatte. Er haßte es, doch er zweifelte nicht daran.
In gewisser Weise hatte Dupont recht. Sie war wertvoll. Der „König“ hatte ihm wahrscheinlich nicht einmal gesagt, wer da nach München kam, nur daß es einer seiner weiblichen Schützlinge war und daß er sie unterstützen sollte, wenn nötig. Höchstwahrscheinlich fiel es einem Mann mit so grauenhaftem Charakter leichter zu glauben, es handele sich um eine der Mätressen des Königs und nicht um die Tochter, und selbst wenn er vielleicht gewußt haben sollte, daß sie seine Tochter war, so mochte sie für ihn trotzdem nichts anderes sein als eine Frau, deren Gunst käuflich zu erwerben war.
Sie wußte um solche Frauen. Doch an dieser Facette halbweltlicher Aktivitäten hatte ihr Vater nie besonderes Interesse gezeigt. Er achtete darauf, daß die allzu bekannten Dämchen seine Edelspielhölle nicht betraten. Seine Ansprüche lagen höher. Diese Art von Dienstleistung war nicht seine Spezialität.
Ihr Vater hatte sie bewußt aus dieser Seite der Kriminalität herausgehalten. Er hatte ihr auch keine tiefergehenden Erklärungen für das Treiben angeboten, und Eliza war ohnehin der Meinung, daß Detailwissen über körperliche Liebe einem die Unschuldsmiene verdarb. Corrisande war Diebin – eine ziemlich gute sogar –, doch sie hatte nie auch nur im entferntesten mit dem Gedanken gespielt, Geld mit ihrem Körper zu verdienen. Der Gedanke war ihr widerwärtig, und das, obgleich sie nicht wußte, was eine solche Laufbahn im einzelnen beinhaltete. Unmöglich. Es widersprach allem, was sie in ihrer frühen Jugend in England von ihren hochbezahlten, moralisch einwandfreien Gouvernanten gelernt hatte, und der Gedanke war noch viel abscheulicher, seit sie die unwillkommenen und ekelerregenden Annäherungsversuche eines Wesens hatte erdulden müssen, das sie gegen ihren Willen hatte überwältigen wollen.
Dann hatte Delacroix das gleiche versucht. Vielleicht nicht genau das gleiche. Sie hatte seinen gierigen Körper an ihrem gefühlt, brennend und leidenschaftlich anstatt kalt und ekelhaft. Doch in der groben Mißachtung ihrer Wünsche und Gefühle unterschied er sich nicht von dem Monster, zeigte dieselbe wilde Verachtung für sie als denkende, fühlende Person.
Delacroix’ Angriff hatte sie nicht so angeekelt wie die Übergriffe des vielarmigen Monstrums. Er hatte ihr anders weh getan. Er hatte sie rücksichtslos festgehalten, doch es war nicht primär der körperliche Schmerz, der sie belastete. Der würde vergehen. Es war die Demütigung, das plötzliche Gefühl, etwas in ihr sei zerbrochen, als wäre ihr Stolz aus Glas gewesen. Seine Scherben schmerzten sie und schnitten ihr ins Herz.
Sie fing wieder an, geräuschlos zu weinen. Sie hatte geweint, als sie ins Zimmer zurückgekommen war, und Marie-Jeannette auch. Sie hatten sich aneinander festgehalten wie noch nie und hatten beide aus Furcht und Enttäuschung geweint.
Plötzlich hatte Corrisandes Ermüdung einen neuen Höhepunkt erreicht, und sie hatte sich auf dem Boden wiedergefunden, war nicht in der Lage gewesen, wieder aufzustehen. Sie war nicht ohnmächtig geworden, hatte einfach alle Kraft verloren. Das hatte Marie-Jeannette noch mehr erschreckt. Sie war es nicht gewohnt, daß ihre Arbeitgeberin Schwäche zeigte. So zierlich sie war, war sie doch im allgemeinen weitaus zäher, als man meinte.
Doch Corrisande war energielos, gebrochen und verstört. Es hatte Marie-Jeannettes gesamter Kraft bedurft, sie in ihr Schlafzimmer zu verfrachten und wenigstens aus ein paar Kleidungsstücken zu schälen. Corrisande hatte so gezittert, daß es ihrer Zofe kaum gelungen war, ihr Korsett zu öffnen.
Die Erinnerungen an den letzten Tag strömten durch ihren Kopf, von ganz allein, ungeordnet und ungewollt. Worte, Satzbruchstücke, Stimmen hallten in ihrem Gedächtnis wider wie Musikfetzen, die man nicht aus dem Ohr bekommt. „Ungeküßt, süße Corrisande? Erlauben Sie mir, diesen Zustand beheben.“ – „Geht es Ihnen gut, Miss Jarrencourt?“ – „Wenn es zum Ärgsten kommen sollte, Corrisande, dann können Sie sich auf mich verlassen. Ich verspreche, es wird schnell gehen.“ – „Geht es Ihnen gut, Miss Jarrencourt?“
Er hätte sie töten sollen. Doch dann wäre er jetzt auch tot. In dramatischen Literaturergüssen würde eine Heldin, die man so erniedrigt hatte, einfach sterben. Das erwartete man von Frauen, die ihre Ehre verloren hatten, egal ob sie daran schuld waren oder nicht. Man erwartete, daß sie fein säuberlich starben und der Gesellschaft nicht weiter peinlich waren. Daß sie ihre Lebensfreude verloren und an gebrochenem Herzen starben – oder die höchste Klippe eines verbotenen Berges erklommen, um ihren geschändeten Leib in die gnadenlose Schlucht zu stürzen.
Oder Gift nahmen.
Gift hatte sie.
Ob es schnell gehen würde? Sie wußte es nicht. Doch es würde sicher nicht weh tun. Ihr erschöpfter Geist klammerte sich einen Augenblick lang an der Idee fest, alle Stimmen zum Schweigen zu bringen, die hinter ihren Schläfen dröhnten, all die Gedanken und Ängste zu verjagen, ob sie weitermachen konnte, wie sie weiterleben würde, ob sie ihren Anblick im Spiegel ertragen würde in dem Bewußtsein, was sie war.
Stille. „Zu sterben und zu schlafen und sonst nichts.“
„Zitiere mir bitte nicht Shakespeare. Das ist unmädchenhaft.“
Sie konnte sich nicht daran erinnern, wo sie die Phiole gelassen hatte, und sie war zu erschöpft, um aufzustehen. Also lag sie nur da und grübelte der ultimativen Fluchtmöglichkeit nach, war jedoch zu müde, um aufzustehen oder auch nur ihre Hand zu heben. Ihre Gliedmaßen schienen bleiern, zu schwer, um bewegt zu werden. Jeder Muskel in ihrem Körper war entkräftet, überanstrengt und überfordert. Wie betäubt lag sie da und fror.
In dieser Nacht würde sie nicht sterben, wußte sie. Nicht in dieser. Sofern nicht Delacroix selbst kam, um ihr doch noch sein Messer ins Herz zu bohren oder sie mit seinen bloßen Händen zu ermorden – und sie wußte, daß er nicht kommen würde.
Er würde sie nie mehr mit seinen glitzernden Bernsteinaugen ansehen.
Sie ihn auch nicht. Er konnte sie mit einem nachlässigen Wort oder einer spöttischen Bemerkung ruinieren, und sie würde es zulassen, anstatt ihrem Vater Bescheid zu geben, der das Gefahrenpotential forträumen würde und sich auf ihre töchterliche Loyalität verließ, was Ereignisse anging, die ihn gefährdeten.
Doch in dieser Nacht würde sie nicht sterben. Sterben kostete Kraft, und sie hatte keine mehr. Keine Kraft, sich zu entkleiden und in ihr Nachthemd zu schlüpfen, keine, um ihre Frisur zu entwirren und all die Nadeln aus dem Haar zu ziehen, die ihr in die Kopfhaut kratzten. Nicht einmal Kraft genug, um aufzustehen und das Gift zu suchen. Gift war der Ausweg von Feiglingen. Sie war kein Feigling.
Sie wollte auch gar nicht sterben. Sie wollte leben. Sie wollte in die vergangene Woche zurückfliehen und sich entschließen, doch noch etwas in Paris zu bleiben. Oder statt nach München nach London zu fahren, wo eine noch strengere Gesellschaft ihr Sitten und Gewohnheiten aufzwingen würde, die sie mit Leichtigkeit meistern konnte, auf denen sie spielte wie auf ihrer Harfe, mit sicheren Fingern an den vielen Saiten.
Oder sie würde wieder Diebin sein. Sie erinnerte sich daran, wie sie an Häusern hochgeklettert war. Es war leicht gewesen. Sie hatte immer gedacht, es wäre gefährlich. Doch das war es nicht. Man mußte aufpassen, keinen Fehltritt zu tun, aber niemand erfand welche für einen. Man konnte sein Leben verlieren, aber nicht sein Herz.
Selbstmitleid. Nichts anderes. Blödes, unsinniges Selbstmitleid. Sie verabscheute sich dafür. All das Grübeln führte zu nichts. Sie mochte Feyon-Blut in den Adern haben, doch sie konnte weder die Zeit zurückdrehen, noch das Schicksal nachträglich ändern.
Morgen und wieder morgen. Morgen früh würde sie neuen Mut finden, und den Morgen danach auch. „Es mangelt Ihnen offensichtlich nicht an Mut“, hörte sie wieder seine Stimme sagen. Hoffentlich behielt er recht. In so vielen anderen Dingen hatte er unrecht.
Ihre Orientierung verschwamm, und das Zimmer drehte sich um sie. Es war, als trudle ihr Bett außerhalb von Raum und Zeit. Ihre Gedanken zerrannen zu Einzelfetzen. Sie driftete an der Grenze des Erschöpfungsschlafes. Doch sie war wach. Sie sah ihr Gesicht wie im Spiegel, und dann war es nicht ihres. Große, meerblaue Augen blickten sie von der anderen Seite einer spiegelglatten See an, Haar wie Seetang floß um ihren Kopf. Ihre Doppelgängerin sagte etwas, doch es verhallte im Meeresrauschen. Welle für Welle schlug qualvoll an die harte Küste. Der furchtbare Schmerz trocknen Landes und welker Luft, das Gefühl, glassplitternden Sand zu atmen. Für die Liebe zu einem Mann.
Für nichts und wieder nichts.