Kapitel 71

Corrisande stand vor ihrem Waschgeschirr und kühlte ihre verbrannte Hand. Alle paar Minuten goß sie kaltes Wasser nach, denn dann wurde es warm. Sie erhitzte es mit dem Feuer, das ihre Hand verbrannt hatte. Der Schmerz war durchdringend und gnadenlos. Er hörte keine Sekunde lang auf und schabte Rillen in ihre Widerstandskraft. Ihre Hand war roh und aufgeschwollen.

Seltsamerweise fühlte sie sich nicht schwach. Ihre Begegnung mit der Kalteisenklinge war schlimm gewesen, und sie hatte versucht, sich hinzulegen. Doch sie konnte nicht ruhen, weil der Schmerz sie umtrieb.

Er hatte es nicht mit Absicht getan. Er hatte sie nicht ermorden wollen. Höchstwahrscheinlich hatte er ihr nicht einmal weh tun wollen. Doch das spielte keine Rolle. Sie war zerrissen und außer sich vor innerlichem und äußerlichem Schmerz. Sie erinnerte sich an die furchtbaren Minuten, in denen sie verzweifelt und sinnlos um Luft gekämpft hatte, in denen sie sicher gewesen war zu ersticken. In Zukunft würde sie sehr darauf achten, Kalteisen nie mehr nahezukommen. Schwer konnte das nicht sein. Vermutlich gab es nicht viel davon. Sie hatte noch nie davon gehört.

Die Hand würde heilen ... oder? Ihr wurde klar, daß sie nicht wußte, ob die Brandwunde je heilen würde. Wenn es eine magische Waffe gegen Sí war, war es immerhin möglich, daß sie immer weiter schmerzen würde. Dann stünde ihr ein Leben voller Agonie bevor, als hielte sie unablässig eine Hand in kochendes Wasser.

Es mußte aufhören. Jeder Schmerz mußte das.

Es würde heilen.

Vielleicht ...

Zweifel hatte sich in ihrem Kopf breit gemacht. Es war schwer, Schmerz zu erleiden. Ihn zu fühlen und zu glauben, er werde niemals mehr aufhören, war unerträglich.

Sie überlegte, zu Delacroix zu gehen und ihn zu fragen. Er mußte es wissen. Er würde ihr die Wahrheit sagen. Doch sie konnte nicht zurück. Ihre Wege würden sich nie mehr kreuzen. Das hatte sie gelobt.

Aber sie mußte etwas tun. Diese Tantalusqual zerrte an ihr, riß Löcher in ihre Duldsamkeit. Er unterschied sich von anderem Schmerz. Was immer ihr bisher weh getan hatte, war überhaupt nicht vergleichbar gewesen. Es war immer schnell vorbei gewesen. Sie heilte schnell und problemlos. Sie war immer viel widerstandsfähiger und unverwüstlicher gewesen, als andere gemeint hatten.

Das mußte ihr Fey-Erbe sein. Sie war robuster als andere Frauen, nicht weil ihre Erziehung einige ungewöhnliche Züge trug, sondern weil sie selbst anders war. Sie hatte das zerbrechliche, hilfsbedürftige Mädchen gespielt und angenommen, auch andere Frauen spielten ihre Zartheit nur. Eventuell war das gar nicht so? Eventuell war sie selbst einfach stärker?

Natürlich war sie nicht körperlich kräftiger. Aber die Menge dessen, was sie erdulden konnte, war überdurchschnittlich groß.

Doch jetzt war das Maß voll. Sie brauchte einen Arzt. Sie brauchte etwas, jemanden, der ihr diesen Schmerz nehmen oder ihn lindern konnte, und es mußte jemand sein, der wußte, worum es sich handelte.

Dr. Steinbergs Visitenkarte! Sie hatte sie in ihrem gelben Kleid gehabt, das zu verbrennen sie Marie-Jeannette aufgetragen hatte. Vielleicht hatte die Zofe ja soviel Verstand gehabt, zuerst das Täschchen im Rock auszuräumen? Sie begann, danach zu suchen. Wo würde Marie-Jeannette so etwas deponieren? Auf dem Frisiertisch? Auf dem Sekretär?

Am Sekretär wurde sie fündig. Sie sog den Atem zwischen die Zähne. Jede Abwesenheit des kalten Wassers machte alles sofort noch schmerzhafter.

Vielleicht würde er ihr helfen können. Er wohnte im Hotel, hatte er gesagt. Zumindest hatte sie es so aufgefaßt. Er konnte nicht durch den Feyon-Bann, also mußte es so sein. Sie war an diesem Tag schon einmal im Schlafzimmer eines Mannes gewesen, und der war kein Arzt gewesen.

Sie verließ hastig den Salon, nahm nur für alle Fälle ihr Täschchen mit. Sie stieg die Treppe hinunter, zählte jede einzelne Stufe dabei, um sich von ihrer Hand abzulenken. Sie fühlte sich, als hätte sie die Alpen zu Fuß überquert, als sie in der Lobby ankam. Der Portier war nicht anwesend, nur ein junger Mann, vermutlich Marie-Jeannettes Herr Hinterhuber. Sie zeigte ihm Steinbergs Karte, sagte, er hätte ihr gesagt, daß er hier wohne. Da sei sie ganz sicher.

Doch Hinterhuber zuckte nur die Achseln. Nein, Dr. Steinberg hatte seine Praxis einige Häuser weiter. Er errötete ein wenig, als sie insistierte, der Arzt habe ihr etwas anderes erzählt. Er blickte verschämt auf ihre rote Hand. Schuld. Er fühlte sich schuldig. Dazu hatte er keinen Anlaß, außer er log.

Sie faßte in ihr Täschchen und zog einen Geldschein hervor. Sie achtete nicht auf den Betrag. Er nahm ihn und errötete noch mehr.

„214“, flüsterte er und: „Das wissen Sie nicht von mir. Er will nicht gestört werden. Das hat er betont.“ Dann steckte er das Geld ein, und Corrisande ging zurück zur Treppe. Zwei Etagen. Sie begann wieder, Stufen zu zählen. Irgend etwas mußte sie tun, um sich von der Agonie abzulenken.

Es war ein langer Weg. Sie stieg eine nahezu endlose Zeit. Die zweite Etage konnte doch nicht so weit weg sein? Sie setzte einen Fuß vor den anderen. Sie würde bald dasein. Gleich würde sie da sein, und er würde ihr helfen können.

Dann stand sie vor der Tür. Was, wenn er nicht da war? Sie lehnte sich gegen den Türrahmen, versuchte, zu Atem zu kommen, klopfte.

Keine Antwort. Sie klopfte erneut.

„Dr. Steinberg?“ rief sie, versuchte, ihre Stimme durch die schwere Tür klingen zu lassen. „Sind Sie da? Hier ist Corrisande Jarrencourt. Ich ... brauche Sie.“

Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Er hielt etwas in der Hand, sie konnte nicht erkennen, was.

„Sind Sie allein?“ fragte er. Eine seltsame Frage. Dann sah er ihre Hand.

„Ach du lieber Himmel.“ Er öffnete die Tür etwas weiter, blickte vorsichtig den Flur entlang. Niemand war auf dem Gang. Daraufhin zog er sie ins Zimmer und verschloß die Tür hinter ihr. Sie fiel fast, als er sie zu einem Sessel dirigierte.

„Kalteisen?“ fragte er, und sie nickte nur. Er hatte es erkannt. Er würde ihr helfen.

„Es tut so furchtbar weh“, flüsterte sie. „Können Sie mir helfen?“

„Kalteisen“, wiederholte er, sie hörte den Haß in seiner Stimme. Er wühlte in seiner Tasche, und sie hatte Zeit, sich umzusehen. Sie befand sich in einem kleinen Salon mit einer Tür, die vermutlich in den Schlafraum führte. Auf dem Tisch lag Sand verstreut, und eine Reihe von Messingstäben balancierte auf Kristallfüßchen, drehte sich mal in die eine, mal in die andere Richtung wie Nadeln eines Kompasses. Vom Leuchter hingen weitere Kristalle an Schnüren, die sich wie im Wind bewegten und leise klirrten, wenn sie aneinanderstießen. Es sah alles sehr sonderbar aus. Sie hatte keine Vorstellung, zu was das gut sein mochte – und es war auch einerlei.

„Wer hat Ihnen das angetan?“ fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

„Es war ein Unfall“, sagte sie, wollte nicht schon wieder eine Diskussion über Delacroix’ Motive und potentielle Gefährlichkeit führen.

„Es ist nie ein Unfall“, protestierte er. „Menschen fügen, uns gern Schmerzen zu. Haben Sie das noch nicht erfahren? Sie werden es schnell merken. Wenn sie wissen, was Sie sind, werden sie nicht mehr aufhören, Sie zu schurigeln. Das ist erst der Anfang. Sie sind alle so.“

Er klang fast drohend. Auf jeden Fall machte er einen anderen Eindruck als zuvor, als sie ihm auf der Treppe begegnet war. Vielleicht hätte sie nicht kommen sollen. Sie wußte schließlich nur über ihn, was er ihr selbst erzählt hatte, und sie wußte von sich selbst, daß das nicht notwendigerweise zu stimmen brauchte.

Ihr Blick glitt abermals durch den Raum. Es schien, als läge eine Art Energie auf ihm, etwas was sie nicht greifen oder begreifen konnte. Doch sie spürte es auf der Haut. Es baute sich auf wie ein Unwetter, fühlte sich an wie lauernde Blitze an einem schwülen Tag.

In einer Ecke lag Kleidung achtlos auf einem Haufen. Sie sah Blutflecke darauf. Seine Sachen. Er mußte verletzt sein.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Dann stand er wieder vor ihr, nahm ihr Handgelenk. Seine Finger waren kalt. Er schmierte eine Arznei auf ihre Hand, und es fühlte sich kühl an und linderte ihren Schmerz.

„Es wird noch eine Weile weh tun, tut mir leid. Aber es wird heilen“, versicherte er. „Ich werde Sie nicht noch einmal fragen, wer das war. Wenn der heutige Tag vorbei ist, spielt es ohnehin keine Rolle mehr. Fast bin ich dankbar, daß Ihnen das passiert ist, denn es hat Sie zu mir geführt, und genau hier sollten Sie auch sein. Das Schicksal ist auf meiner Seite.“

In seinen Augen glänzte es seltsam, wie ein Fieber. Fast erinnerte der Blick sie in seiner intensiven Begehrlichkeit an den Vonderbrücks. Ihr stellten sich die Nackenhaare; sie konnte fast fühlen, wie sich jedes einzelne hob.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie artig und lächelte ihn an. „Es ist schon viel besser. Ich denke, ich werde hinaufgehen und mich hinlegen.“ Sie versuchte, sich zu erheben.

Seine Hände legten sich auf ihre Schultern, hielten sie nieder. Er stand sehr nah bei ihr, beugte sich über sie.

„Sie können jetzt nicht gehen“, sagte er ruhig und freundlich. „Sie sind ein Teil all dessen geworden. Als ich Sie gestern fand, Miss Jarrencourt, habe ich nicht im Traum daran gedacht, daß das Schicksal uns am Anbruch eines neuen Zeitalters zusammenführen würde. Sie sind wie wir, wie ich, ein Bindeglied zweier schwächerer Rassen. Sie müssen bei mir bleiben.“

„Bitte, Sir“, sagte sie in ihrer arglosesten Stimme, „meine Tante wartet auf mich, Sie wird mich gleich suchen kommen, wenn ich nicht rasch zurück bin.“

„Ihre Tante ist im Moment beschäftigt, Miss Jarrencourt, und auch nicht in Ihren Räumen. Ich weiß, wo sie ist. Ich weiß einigermaßen genau, wo jeder ist, und Sie müssen bleiben. Keine Angst. Ich werde Ihnen nichts tun. Ich werde Sie nicht mit Kalteisen verbrennen, und ich werde Sie nicht einem abscheulichen Monster auf dem Silbertablett servieren. Ich bin kein Mensch. Deshalb sind Sie bei mir auch sicher. Völlig sicher ... und ab morgen brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen, daß Menschen Ihnen weh tun oder Sí Sie angreifen. Morgen ist es vorbei.“

Er klang immer noch charmant, doch seine Worte machten sie frösteln. Dennoch lächelte sie weiter. Sie wußte nicht, was er meinte, doch er klang, als sei er sich sehr sicher. Mehr als sicher, fanatisch. Komm nie zwischen einen Mann und sein fanatischstes Begehr, hatte ihr Vater ihr einmal gesagt. Er wußte Bescheid über unberechenbare, unverantwortliche Menschen.

„Ich weiß nicht, was Sie meinen, Dr. Steinberg. Aber ich denke, ich sollte jetzt gehen. Ich danke Ihnen für ...“ Sie stöhnte auf.

Er hatte die Hände an ihre Schläfen gelegt und drang in ihr Sein ein. Es fühlte sich an wie zuvor, als er versucht hatte, mehr über ihre Herkunft zu ergründen. Es war zu nah, zu privat, zu intim, als griffe er direkt in ihren Körper und ihre Seele. Sie wünschte, sie könnte ihn davon abhalten, ihn abweisen, sich vor seinem Ansturm retten. Doch sie war machtlos, hatte keinerlei Idee, wie man ihm beikommen konnte. Sie fühlte sich hilflos.

Einen Moment lang hatte sie Angst, er könne ihre Gedanken lesen, ihre Angst vor ihm erkennen, ihren Widerwillen, doch dann spürte sie mit unbegreiflicher Klarheit, daß er das nicht vermochte. Ihr innerstes Wesen konnte er nicht ergründen, ihm fehlte der Zugang. Dennoch tat er etwas mit ihr, etwas, das sie nicht wollte. Sie hatte es ihm nicht gestattet, und ihr Kopf begann vor plötzlicher Migräne zu hämmern.

„Was tun Sie?“ fragte sie verzweifelt, und ihre Angst wuchs.

„Ich suche nach dem Fey-Erbe in Ihnen, und es ist da. Ja. Es ist klein, doch es wird reichen. Sie werden zu uns gehören.“

Reichen? Inwiefern?

Seine Hände verließen ihre Schläfen, schwebten neben ihrem Gesicht, senkten sich ihren Schultern zu, ohne diese zu berühren, und mit einem Mal bewegten sie sich abwärts und legten sich auf ihren Bauch. Sie blickte ihn entsetzt und sprachlos an.

„Sie werden eine der Mütter einer neuen Art werden. Eines neuen Herrschergeschlechts. Das wird Sie erfreuen.“

Nichts erfreute sie, und schon gar nicht seine Übergriffe. Sie mochte nicht, was oder wie er sprach, doch seine Augen blickten glänzend in die ihren, und sie lächelte, denn sie wußte, daß sie weder seiner Körperkraft noch seiner Magie irgend etwas entgegenzusetzen hatte. Eine falsche Reaktion würde sie nicht überleben.

„Was tun Sie da, Dr. Steinberg?“ fragte sie nur und riß sich eisern zusammen. Sie mußte ruhig bleiben.

Er hatte sie bereits losgelassen, er führte eine kleine Geste aus, und mit einem Mal konnte sie sich kaum mehr bewegen. Ihr Schädel hämmerte.

„Sie sind teilweise Sí, so wie ich auch. Wir sind nichts. Für diese Welt sind wir nur ein peinlicher Fehltritt. Menschen mit ihrem begrenzten Begriffsvermögen und ihrer beschränkten Intelligenz jagen uns, verachten uns und bringen uns um, wo immer sie uns finden, und die Sí interessieren sich nicht für uns. Dann und wann lassen sie sich herab und paaren sich mit Sterblichen. Dann setzen sie Kinder in eine Welt voller Haß. Dabei sind wir Menschen weit überlegen, meine liebe Miss Jarrencourt. Wir sind stärker, widerstandsfähiger, intelligenter und talentierter. Das wissen Sie, oder nicht? Soviel müssen Sie doch verstanden haben! Man sollte uns nicht hetzen und töten. Wir sind viel anpassungsfähiger und vielseitiger als die Fey, die sich ihr Leben und ihre Ziele kaum aussuchen können. Eine Dryade muß bei ihrem Baum bleiben und ein Wiatruschod bis auf die kurzen Besuche, die die Ordnung des Universums ihm gestattet, in seiner hohlen Welt. Die Natur hat ihnen Grenzen auferlegt, um ihre Macht einzuschränken. Wir aber haben die Freiheit der Wahl, die den Menschen eigen ist, und verfügen über Kräfte der Fey. Wir sollten diese Welt beherrschen. Eine von uns beherrschte wäre eine bessere Welt.“

Er war geisteskrank. Er war komplett geistesgestört. Irrsinnig. Schlimmer als Vonderbrück.

„Wie wollen Sie dieses Ziel erreichen?“ fragte sie ganz ruhig, als diskutiere sie das Wetter. Er sah sie erstaunt an, als habe er nicht erwartet, daß sie noch sprechen konnte. Er gestikulierte noch einmal in ihre Richtung, und sie schrie kurz auf, hob die Hand an die Stirn. Die Kopfschmerzen wurden unerträglich.

Dann waren sie auf einmal fort.

„Oh“, sagte er, „das tut mir leid. Es war mir nicht klar, daß mein Bann Ihnen Schmerzen bereitet. Doch das ist ein gutes Zeichen. Es heißt, man kann Sie nicht manipulieren, ohne daß Sie es bemerken, und offenbar haben Sie sogar eine kleine Abwehrkraft dagegen. Es wird uns viel Freude bereiten, zusammen Ihre versteckten Talente zu entdecken, Miss Jarrencourt.“

Jetzt hielt er sie nicht mehr fest, schien sich sicher, daß sie nicht davonlaufen würde. Sie fragte sich, ob sie es bis zur Tür schaffen könnte, wenn sie aufsprang und losrannte. Doch sie wußte, das war ausgeschlossen. Sie mußte mitspielen. Eventuell konnte sie ihm irgend etwas über den Kopf schlagen, wenn er nicht hinsah. Sie fragte sich, wo er verletzt war. Eventuell wäre es nützlich, das zu wissen.

„Ich habe mein Ziel beinahe erreicht“, fuhr er fort. „Das Manuskript gehört quasi mir. Sobald diese Dummköpfe die Kreatur töten, die Sie so tapfer für mich erjagt haben, mein hübsche, kleine Komplizin, wird es mein sein. Es enthält den Schlüssel zur Realität. Das heißt, jeder, der es besitzt, kann die Wirklichkeit nach seinem Willen verändern. Diese abergläubischen Simpel denken, es öffne die Pforten zur Hölle. Da liegen sie falsch. Meine Erkenntnisse besagen, es dient einem völlig anderen Zweck, und Sie werden Teil dieser Verwandlung sein.“ Er sah ihr in die Augen. „Sie werden herrlich aussehen mit einer Krone im Haar. Freuen Sie sich darauf? Wir werden die Könige der Erde sein, die Mittler zwischen zwei Welten.“

Ein nervöses Surren ertönte von einem der Aufbauten, die überall im Raum verstreut standen. Er sah sich um, leichte Besorgnis auf seinen Zügen.

„Doch jetzt habe ich keine Zeit für Sie. Es tut mir leid. Sie müssen warten, bis ich mit allem fertig bin, und ich bin untröstlich“, er klang aufrichtig traurig, „aber ich werde Sie wohl fesseln müssen. Meine Kräfte brauche ich für andere Dinge, und wenn ich einen so starken Bann über Sie spräche, daß er Sie für Stunden lähmt, würde Ihnen das vermutlich sehr, sehr weh tun. Ich lasse Sie frei, sobald dies vorüber ist. Dann komme ich zu Ihnen. Wir werden zusammensein und all jene um uns versammeln, die so sind wie wir. Stellen Sie sich das vor! Es wird fabelhaft.“

Er forderte sie mit einer Geste auf aufzustehen, und sie gehorchte, wohl wissend, daß er ihren Willen beugen und ihr Schmerzen zufügen würde, wenn sie nicht gehorchte. Sie folgte ihm wortlos ins andere Zimmer. Er hielt eine Rolle Seil in der Hand, dasselbe Seil, mit dem er die bizarren Gerätschaften im Zimmer aufgehängt hatte.

„Dr. Steinberg, bitte tun Sie das nicht“, bat sie. „Ich werde Sie nicht stören. Ich werde Ihnen nicht im Weg sein. Ich verspreche es.“ Ein gebrochenes Versprechen konnte nicht so schlimm sein wie eine gebrochene Welt.

„Verzeihen Sie“, sagte er nur, und eine neuerliche Migräneattacke schoß durch ihren Kopf und ließ sie schwanken.

Sie beobachtete sich dabei, wie sie ihm die Arme entgegenstreckte. Er band die Handgelenke zusammen, gab sorgsam acht, nicht ihre Brandwunde zu berühren.

„Hinlegen“, befahl er und wies mit dem Kopf auf sein Bett. Sie weigerte sich. Sie mußte ihre ganze Kraft zusammennehmen, doch es gelang ihr, den Kopf zu schütteln.

„Bitte nicht“, bettelte sie und merkte, daß ihre Aussprache unklar war. Sie wollte nicht ins Bett dieses Mannes.

„Gut“, sagte er mit einem einsichtigen Lächeln, das ihn nett und normal aussehen ließ. „Ich werde Sie nicht zwingen. Ich achte Ihr Bedürfnis nach Anstand. Obgleich es morgen früh obsolet sein wird. Unsere neue Welt wird ohne zwecklose Hemmungen und falsche Moral auskommen. Setzen Sie sich auf den Boden. Hier.“

Er führte sie ans Fußende des Bettes und fesselte ihre Hände über ihrem Kopf ans Bettgestell. Dann nahm er ein sauberes Taschentuch aus dem Sakko, öffnete ihren Mund, stopfte es mit unsicheren Fingern hinein und band einen Schal darum. Er fesselte ihre Fußknöchel zusammen und schob dabei ihre Röcke nur so hoch, daß sie ihn dabei nicht störten. Ein gesitteter, wohlerzogener Mann. Wahnsinnig, aber höflich und kultiviert.

Sein Bann verließ sie, sie fühlte, wie der Schmerz verschwand. Ihr Kopf war frei.

„Ich bin untröstlich“, sprach er. „Bitte beunruhigen Sie sich nicht. Alles wird morgen ganz wunderbar sein. Das schwöre ich. Ich werde zu Ihnen kommen, wenn alles vorbei ist, und ich werde Ihnen die Angst vor mir zu nehmen wissen. Das Schicksal ist auf unserer Seite. Ich dachte immer, ich würde allein auf die anderen unserer Art warten, doch die Vorsehung meint es gut mit mir. Sie werden an meiner Seite sein. Sie sind der Beweis, daß ich das Richtige tue. Ängstigen Sie sich nicht. Von morgen an gibt es nur mehr uns, unsere Art, eine Horde unwichtiger Sklaven und nirgends einen einzigen Sí auf der ganzen Welt.“

Er hob die Hände zu ihrem Gesicht, rührte sie aber nicht an. Sie saß ganz still da.

Dann ergriff er seine Toiletten-Utensilien und wandte sich der Tür zu. Er nahm sein Rasiermesser mit – nicht, daß sie es etwa hätte erreichen können. Doch er ging kein Risiko ein.

Er löschte das Licht und schloß die Tür. Sie hörte, wie er von außen den Schlüssel im Schloß drehte.

Das Obsidianherz
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