Kapitel 14
„Es kennt also meinen Namen“, wiederholte Corrisande zum fünften Male und drehte fahrig eine Scheibe Toast mit dem Buttermesser von einer Seite auf die andere. Sie saß mit Mrs. Parslow im Frühstücksraum, nur wenige Meter entfernt von Mme. de Rhins-Epitués Tisch. Trotz dieses unerwartet glücklichen Umstandes hatten sie freilich nun doch nicht mit der Dame gesprochen.
Statt dessen starrten sie Cérise an, die mit an ihrem Tisch saß und ein gutes Frühstück, bestehend aus Croissants, Kaffee und Früchten aus dem Botanischen Garten, zu sich nahm. Die Sängerin hatte sie auf dem Korridor angesprochen, als seien sie alte Bekannte. Sie hatte sich nach Corrisandes Wohlbefinden erkundigt. Mrs. Parslows Versuch, der skandalösen Person, wie sie die Opernsängerin insgeheim nannte, eine kalte Abfuhr zu erteilen, scheiterte gänzlich. Cérise hatte schon entsprechende Präliminarien mit einem Lächeln abgetan und vorgeschlagen, gemeinsam zu frühstücken, denn ein gutes Frühstück wirke bekanntlich Wunder bei Gemütsverstimmungen und gereizter Milz. Es schien gerade so, als habe die Sopranistin die Empfindsamkeit eines Burgwalls.
Während sie neben ihnen her zum Frühstücksraum gegangen war, hatte sie auf harmlos-charmante Weise geplaudert. Jeder Zeuge der Konversation hätte sie für nichts als höfliches Geplänkel gehalten. Ein konzentrierterer Zuhörer allerdings hätte den fröhlichen Worten entnommen, daß die Kreatur, der die Damen abends zuvor begegnet waren, offenbar doch gefährlicher war als zunächst angenommen und daß das Wesen nun über einen riskanten Feind informiert war, nämlich Miss Jarrencourt.
„Es kennt also meinen Namen“, sagte Corrisande erneut und ließ aus Versehen ihr Messer fallen.
„Ja, Miss Jarrencourt – oder vielleicht sollte ich Sie ja anders nennen, falls es gerade zuhört, n’est-ce pas? Darf ich Sie beim Vornamen nennen? Sie müßten ihn mir nur verraten.“ Cérise lächelte und zerlegte geschickt eine sündhaft teure Tropenfrucht.
Corrisande sah sich panisch um, konnte jedoch keinen Schatten auf dem Weg durch den Raum erkennen.
„Corrisande“, sagte sie. Mrs. Parslow, die keinen Wert darauf legte, einer Person der Bretter, die die Halbwelt bedeuteten, gesellschaftlich näherzukommen, unterbrach:
„Das ist doch völlig irrelevant. Wir werden unverzüglich packen und ausziehen. Das ,Zur Sonne‘ soll auch sehr nett sein. Etwas weiter entfernt zwar von der Residenz und näher am Bahnhof, aber was macht das schon? Oh, sieh nur, Corrisande, da ist unsere gute Freundin, Mme. de Rhins-Epitué! Welch angenehme Überraschung, hier eine alte Bekannte zu treffen. Warum gehst du nicht zu ihr und sagst guten Tag? Am besten jetzt gleich – und dann kannst du ihr auch noch mitteilen, daß wir in die ‚Sonne‘ umziehen. Wir könnten uns doch mit ihr auf einen Mokka im Café Tombosi treffen! Es soll dort sehr nett sein. Corrisande, Liebes? Hörst du mir zu?“
Corrisande hörte augenscheinlich nicht zu. Ganz plötzlich schien ihr die Möglichkeit, durch Mme. de Rhins-Epitués Intervention genau die richtigen Leute zu treffen, nicht mehr der Zenit ihres Glücks zu sein. Sie ignorierte ihre angebliche Anstandsdame und starrte mit großen Augen Cérise an, die sich gerade darüber beschwerte, daß die Feigen vraiment sehr zu wünschen übrig ließen und daß sie weit bessere exotische Früchte in Mailand genossen hatte, als sie dort zuletzt an der Scala gesungen hatte.
„Mademoiselle Denglot“, unterbrach Corrisande Cérise, „Sie haben gesagt, einer der Herren sei verletzt. Welcher?“
„Machen Sie sich keine Sorgen“, antwortete die Sängerin und versuchte ihr Glück bei einer Orange, die, wie sich alsbald herausstellte, auch unerträglich war. „Es ist Delacroix. Aber der ist unerschütterlich wie eine Eiche. Wahrscheinlich ist es ohnehin nur eine Schramme. Sie wissen ja, wie Männer sind. Jammern zu gerne über gar nichts.“
Sie schenkte Corrisande ein entzückendes Lächeln und dachte so bei sich, sie selbst sei doch um einiges ansehnlicher als die kleine braunhaarige Miss.
Corrisande spürte einen winzigen Stich im Herzen, als sie die Information vernahm. Sie wußte nicht, warum sie beunruhigt war, aber sie war es nun einmal.
Mrs. Parslow, die in diesem Moment jede weitere Hoffnung aufgab, Mme. de Rhins-Epitué während des Frühstücks noch zu kontaktieren, da die formidable Dame gerade einem schwerfälligen Segelschiff gleich aus dem Raum rauschte, brauchte einige Augenblicke, um sich wieder zu fassen. Dann sprach sie Cérise an.
„Was ist mit den beiden jungen Offizieren? Sind sie unverletzt?“
Cérise nickte und besaß die Unverfrorenheit, der Anstandsdame zuzuzwinkern.
„Aber sicher. Von Orven ist gänzlich unversehrt, und Leutnant von Görenczy ebenfalls, falls das irgend jemandem wichtig sein sollte.“
Mrs. Parslow erstarrte empört.
„Ist der Colonel schwer verletzt?“ fragte Corrisande und erinnerte sich plötzlich an den starken Arm, der sie gehalten hatte.
„Nein, meine Liebe. Gewiß nicht. Machen Sie sich keine Gedanken. Am besten überlassen Sie es uns, für Ihren Schutz zu sorgen. Ihre Tante und Sie müssen doch nicht das Hotel verlassen! Ich meine“, sie beugte sich konspirativ vor, „es wäre doch ein richtiges kleines Abenteuer, wenn Sie uns dabei helfen könnten, das Gespenst zu jagen. Ihr besonderes Talent, es schon von weitem zu spüren, wäre eine ungeheure Bereicherung. Stellen Sie sich vor! Sie könnten die bekannteste kleine Heldin der Stadt werden. Jeder würde Sie bewundern, und jeder würde Sie dann kennen!“
„Wir werden sofort abreisen!“ bestimmte Mrs. Parslow knapp. Sie stand auf, ihr Mund war vor Ärger schmal wie eine Klinge. „Ich werde Marie-Jeannette anweisen, uns unsere Mäntel, Hüte und Réticules herunterzubringen. Sie kann dann in aller Ruhe packen, wenn wir weg sind, und uns die Sachen in die ‚Sonne‘ nachbringen. Komm, Corrisande. Wir sind schon länger geblieben als nötig.“ Sie winkte einem Ober und gab ihm einige Anweisungen.
Corrisande stand ebenfalls auf und lächelte die Sängerin unsicher an, wobei sie ihre beste air d’innocence an den Tag legte.
„Es tut mir so leid, Mlle. Denglot, aber ich fürchte, ich habe kein Talent zur Heldin. Ich bin wahrscheinlich nicht wagemutig genug, und ich möchte das Gespenst nicht noch einmal treffen. Wirklich nicht. Es hat mich fürchterlich erschreckt. Ich bin ganz sicher, daß meine Tante die richtige Entscheidung getroffen hat. Es war sehr nett von Ihnen, uns über die Gefahr, in der wir schweben, zu informieren. Ich wünsche Ihnen und den ... Gentlemen ... viel Erfolg dabei, das gräßliche Ungeheuer zu erlegen. Richten Sie den Herren mein Bedauern aus. Ich bin sicher, Sie werden mich verstehen.“
Sie hielt einen Moment inne und dachte darüber nach, ob sie versprechen sollte, für das gute Gelingen und die Gesundheit der Herren zu beten, fand dann aber doch, so viel Engelhaftigkeit hätte ein wenig übertrieben gewirkt.
Cérise Denglot stand ebenfalls auf und trat dem Mädchen auf unverfrorene Weise in den Weg.
„Corrisande, meine Liebe“, sagte sie und lächelte katzensanft, „es fällt mir schwer, mir vorzustellen, daß Sie gar so ängstlich sind, wie Sie mich glauben machen wollen. Als ich Sie heute morgen über das Balkongeländer klettern sah, schienen Sie weitaus bessere Nerven zu haben.“
Corrisande senkte den Blick und errötete gekonnt bis ins Mark.
„Mlle. Denglot, es tut mir unendlich leid, daß Sie Zeugin dieses meines Fehltrittes geworden sind. Das Wesen hatte mich aus dem Raum getrieben, und ich versichere Ihnen, ich wußte gar nicht, was ich tat. Sonst wäre ich gewiß nie über dieses Geländer geklettert.“
„Das glaube ich gern“, antwortete Cérise. „Aber als die Gefahr vorüber war, wußten Sie sehr wohl, was Sie taten, und ich habe nicht einmal einen Hauch von Panik an Ihnen bemerkt.“
„Natürlich nicht!“ antwortete Corrisande, kniff die Augen zusammen und bemühte sich, wenigstens eine unschuldige Träne auf den Weg zu schicken. „Stellen Sie sich vor, ich hätte meiner Angst nachgegeben und wäre abgestürzt! Ich wäre vor Scham gestorben, wenn ich nur in Nachthemd und Morgenmantel auf der Straße gelegen hätte!“
„Leben Sie wohl, Mlle. Denglot!“ fügte Corrisande noch hinzu und folgte dann Mrs. Parslow gehorsam und brav aus dem Raum.