Kapitel 56

Delacroix zielte mit seiner Pistole auf die Tür, die er von seiner Position auf dem Sofa aus der Schräge deckte. Die beiden Offiziere hatten sich schnell auf je eine Seite des Eingangs gestellt, jeder von ihnen mit der Waffe in der Hand. Sie machten sich bereit für was immer nun kommen würde, verrieten jedoch mit nichts ihre Erregung.

Gute Leute, dachte Delacroix. Was immer sie dachten oder fühlten, sie taten, was zu tun war.

„Herein!“ rief Delacroix. Die Tür öffnete sich, und ein kleiner, kräftiger Herr mittleren Alters trat einen Schritt vor, um dann mitten in der Bewegung innezuhalten. Er war etwas ungewöhnlich gekleidet: Er trug karierte Hosen zu einem normalen schwarzen Rock und einer grünlichen Weste.

„Großer Gott, Delacroix“, rief er und grinste von einem Ohr zum anderen. „Erschießen Sie mich nicht. Ich wäre allen Ernstes beleidigt.“ Seine Aussprache verriet den Schotten.

Delacroix senkte seine Waffe.

„McMullen“, sagte er und bedachte den Neuankömmling mit einem müden Lächeln. „Ich habe mich noch nie so gefreut, Sie zu sehen. Kommen Sie rein.“

Der Mann trat ein und ließ eine große Reisetasche fallen. Sein Lächeln wurde dünner, als er der beiden Bayern, die inzwischen hinter ihm standen und immer noch auf ihn zielten, gewahr wurde. Er blieb stocksteif stehen.

„Worauf warten Sie?“ fragte er. „Auf einen Raubüberfall?“

Delacroix stand auf und ließ seine Waffe in seinem Jackett verschwinden. Er streckte dem Mann die Hand entgegen.

„Willkommen, McMullen. Äußerst willkommen sogar, und um Ihre Frage zu beantworten: Wir haben die Bruderschaft erwartet. Wir haben unseren ,Hilfsmagier verloren. Somit blieb uns außer Waffengewalt nicht viel.“ Er lachte gehässig und gab den beiden Bayern ein Zeichen. „Meine Herren, unser Meister der Arkanen Künste ist da. Mr. McMullen, darf ich Ihnen meine Kampfgefährten für diesen Einsatz vorstellen. Leutnant Asko von Orven, und hier haben wir Leutnant Udolf von Görenczy. Sie waren ausnehmend hilfsbereit, auch wenn sie Probleme haben, mir zu glauben, daß es die Bruderschaft des Lichts tatsächlich gibt und was sie will.“

Delacroix forderte den Neuankömmling mit einer Geste auf, Platz zu nehmen. Der setzte sich und streckte die kurzen Beine aus.

„Nun“, sagte er. „Dann berichten Sie mal. Haben Sie das Manuskript?“

Delacroix lachte freudlos.

„Nein. Ihr Kollege, Herr Müller, hatte es und sollte es an mich übergeben. Er wurde ermordet, noch bevor ich ankam. Mein Zug hatte Verspätung, und dann gab es auch noch ein Mißverständnis. Als ich ihn erreichte, lag er mit einer Kopfverletzung tot auf dem Boden. Kein Manuskript. Statt dessen sucht das Hotel eine Art Spukgebilde heim. Unser verblichener Magiespezialist nahm an, die beiden Vorkommnisse seien miteinander verbunden und wir müßten das Wesen fangen, um an das Manuskript zu kommen. Wir haben es gefangen.“ Er wies auf das Kästchen. „Da ist es drin. Man sagte uns, es sei ein Wiatruschod. Ziemlich abscheuliche Kreatur.“

Der Magier sprang bei der Erwähnung des Namens auf.

„Wiatruschod? Die existieren wirklich? Sind Sie sicher?“

„Wir sind uns bei nichts mehr sicher, Sir“, bemerkte von Orven trocken. „Unser Magier hat sich als geistesgestörter Mörder herausgestellt. Das Monster konnte sich in Menschen bohren und hat zudem eine junge Dame auf besonders verwerfliche Weise angefallen. Wir haben das Biest gefangen, aber das Manuskript ist nirgends aufgetaucht, und jetzt erzählt uns Colonel Delacroix, unsere eigene katholische Kirche sende Leute aus, die wir bekämpfen sollen. Also fragen Sie bitte nicht, ob wir uns sicher sind. Vielleicht können Sie ja Licht ins Dunkel bringen. Wir wären dankbar dafür.“

Er trat zwischen die Schachtel und Udolf, blockierte damit den Weg des Offiziers und wedelte mit einer Hand vor dessen Gesicht herum.

„Laß das, Udolf! Du schlafwandelst schon wieder.“

Von Görenczy trat einen Schritt zurück und grinste ein bißchen verschämt.

„Verdammte Bestie. Vielleicht“, er wandte sich an den Neuankömmling, „können Sie da ja was tun, Sir. Das Ding scheint mich anzuziehen. Es kann wohl meine Gedanken beeinflussen.“

McMullen nickte.

„Das können die meisten Fey. Obwohl es ungewohnt ist, daß es das durch Kalteisen hindurch kann. Wie haben Sie es eigentlich gefangen? Ich hätte nicht gedacht, daß das geht.“ Er hob kurz die Hand und ließ die Männer innehalten, ehe sie anfingen, Einzelheiten zu erklären. „Moment. Wir sollten uns wohl besser erst um die Gefahren kümmern und dann in Details gehen.“

Er umrundete den Tisch, auf dem die Schachtel stand, und zeichnete mit den Fingern in die Luft. Eine Art Kristallschimmer blinkte kurz um das Kästchen auf und wurde dann unsichtbar.

Von Görenczy rang nach Luft und sank knieweich in seinen Sessel. Er blickte seine Kampfgefährten verlegen an und hoffte, daß sie es nicht bemerkt hatten. Keiner von ihnen kommentierte seine Reaktion.

Nur der Schotte trat zu ihm und fischte einen Gegenstand aus der Tasche.

„Gestatten Sie, Leutnant“, sagte er und preßte ihn ohne weiteres Fragen gegen Udolfs Stirn.

Nichts geschah.

Er steckte das Artefakt wieder ein.

„Sie sind sicher, Leutnant von Görenczy. Es hat Sie nicht berührt. Keine Aurenrückstände.“

„Woher wissen Sie das?“ fragte von Görenczy besorgt, aber auch ein wenig unglücklich ob der Aufmerksamkeit, die er plötzlich auf sich zog.

„Weil Sie sonst vermutlich sehr heftig reagiert hätten. Wäre qualvoll gewesen.“

„Höchstwahrscheinlich hätten Sie unserem Spezialisten ein paar Schläge verabreicht“, kommentierte Delacroix mit leichtem Lächeln. „Versuchen Sie’s bei mir. Ich möchte es genau wissen. Die Bestie ist nämlich in mich hineingekrochen.“

„Du lieber Himmel!“ rief der kleine Schotte. „Wie konnten Sie es denn dazu überreden, sein weitläufiges Domizil wieder zu verlassen?“

„Colonel Delacroix hat sich einen Kalteisendolch in die Schulter gerammt“, erklärte von Orven.

Der Meister nickte.

„Böse Sache. Aber wohl die einzige Möglichkeit. Junger Mann“, er sprach Asko direkt an, „bitte seien Sie doch so gut und halten Sie den Colonel fest, wenn ich ihn berühre. Sehen Sie“, er grinste fröhlich, „ich habe ihn schon Leute verprügeln gesehen, und ich habe gar keine Lust, Empfänger seiner wilden Reflexe zu werden.“

Von Orven stellte sich wortlos hinter das Sofa und legte seine Hände auf Delacroix’ Schultern. Dabei hielt er die rechte Schulter mit einiger Kraft fest, während er die linke nur leicht berührte, um im Fall einer plötzlichen Bewegung zupacken und den massigen Mann aufs Sofa zurückdrücken zu können.

Delacroix machte sich bereit. Doch es gab keinen Schmerz. Das Metall an seiner Stirn war kühl.

„Auch kein Rückstand“, kommentierte der Magier. „Sie sind soweit in Ordnung, auch wenn Sie im Moment aussehen wie zerkochtes Haggis. Ich wette, Sie haben nicht geschlafen.“

„Wir haben alle nicht geschlafen“, erwiderte Delacroix. „Wir hatten zwei ereignisreiche Tage und Nächte.“ Ja, und ein paar gottverdammte Rätsel zu lösen. Seine Gedanken flogen unwillkürlich zurück zu Corrisande, zu dem zarten Körper, den er mit so brutaler Gewalt in seinen Händen gehalten hatte und zu den Tränen, die von ihrem über sein Gesicht gelaufen waren. Ein leichtes Mädchen hätte gewußt, wohin es ihn treten mußte, damit er von ihr abließ. Auch das konnte alles gespielt sein, eine perfekte Darstellung der jeune fille innocente. Er schob die Erinnerung weg. Sie gehörte nicht hierher.

Der Zivilist beobachtete ihn mit beunruhigter Miene. Dann wandte er sich den anderen Offizieren zu.

„Ist einer von Ihnen verletzt?“ Er musterte Asko. „Das ist ein häßlicher Bluterguß.“

„Nur ein blauer Fleck. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müßte.“ Asko war peinlich berührt. Jetzt, wo er sich an die Einzelheiten erinnerte, fühlte er sich unzulänglich. Es hätte gar nicht möglich sein dürfen, ihn einfach hochzuheben und durch den Raum zu werfen. Der Gedanke, von einem solchen Geschöpf berührt worden zu sein, bereitete ihm Unbehagen.

„Wir müssen uns vorbereiten, wenn Sie eine magische Attacke erwarten. Es wäre mir lieber, jeder von Ihnen würde ein wenig schlafen. Abwechselnd. Ich werde Ihre Hilfe brauchen, und ich brauche Sie wach und aufmerksam. Außerdem müssen Sie mich noch über die Details informieren.“ Er wandte sich Delacroix zu.

„Sie sollten als erster schlafen gehen. Ich werde Ihre Tür und Ihre Fenster magisch sichern. Ich will, daß Sie ein paar Stunden schlafen.“ Er trat nahe an den Colonel heran und gestikulierte in Richtung dessen Schulter. „Ich kann die Wunde nicht heilen, aber in den nächsten zwei Tagen sollte sie Ihnen keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten. Also gehen Sie schlafen. Wir wecken Sie, wenn wir Sie brauchen. Haben Sie Ihr Schutzamulett an?“

„Nein.“

„Warum nicht? Das ist genau die Art Situation, für die ich es Ihnen gegeben habe. Ich weiß, es stört Sie. Aber Sie sollten vernünftig sein.“

Von Orven war überrascht, wie der kleine Mann einen furcht-erregenden Kämpen wie Delacroix behandelte. Die vorbehaltlose Art wies auf eine lange Freundschaft hin.

„Ich habe es Cérise gegeben. Sie brauchte es.“

„Oh. Sie ist auch hier? Wunderbar. Da habe ich ja jede Menge Spaß und Aufregung verpaßt“, bemerkte er trocken. „Ich schätze, Sie haben hervorragend harmonisiert.“

Delacroix verkniff sich eine Antwort.

„Dann will ich mal schlafen gehen“, sagte er. „Meine Herren, geben Sie Mr. McMullen Bericht über alles, was geschehen ist. Ich werde ihn später über die restlichen Details informieren. Wenn ich wieder wach bin.“

„Es kann keine restlichen Details geben“, bemerkte von Orven mit eisiger Höflichkeit, „es sei denn, Sie hätten uns immer noch etwas verschwiegen.“

„Da haben Sie recht“, antwortete Delacroix, ohne sich zu einem Streitgespräch verleiten zu lassen. „Sie können ihm alles sagen. Ich gehe schlafen.“

Er stand auf. „Wecken Sie mich in zwei Stunden. Dann kann einer von Ihnen ruhen. Wir haben alle etwas Ruhe redlich verdient. Gute Arbeit, meine Herren.“ Er hatte die Tür fast erreicht und drehte sich noch einmal zu dem Magier um. „Noch was. Vielleicht könnten Sie ja herausfinden, was mit dem Blut vor von Görenczys Tür ist. Wir scheinen jemanden verletzt zu haben, wissen aber nicht wen. Ich denke, es ...“

„Gute Nacht“, sagte McMullen. „Als ich kam, war kein Blut vor dieser Tür, und außerdem können mir Ihre Freunde alles erzählen.“

Nicht alles, dachte Delacroix. Nicht alles. Sie wußten nichts über die messerwerfende Prinzessin der Unterwelt und deren mögliche Verstrickung in die Sache. Er würde es McMullen berichten, wenn sie allein waren. Er brachte es nicht über sich, sie zu verraten. Skrupel, die er normalerweise nicht hatte.

Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Er war ratlos und unentschlossen, und das behagte ihm nicht. Der Ärger darüber schwelte dicht unter der Oberfläche müder Beherrschung.

Er öffnete die Tür und trat auf den Korridor.

Das Obsidianherz
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