Kapitel 80

Er war auf der Jagd. Nicht wie der rücksichtslose Räuber, der Er war, nicht wie der unsichtbare Verfolger, nicht wie die reißende Bestie, sondern höflich, mit angemessenem, wohlerzogenem Lächeln. Entschlossen, aber nicht aggressiv. Seine Bewegungen waren bestimmt und stilvoll. Die Bewegungen einer Dame von Stand, die ein Ziel verfolgte. Sein Gesichtsausdruck zeigte nichts als Freundlichkeit und Güte.

Ihre Seidenröcke raschelten, wenn Er sich bewegte. Grau war eine Farbe, die Er mochte. Sie tat Seinem Sinn nicht weh, schrie Ihn nicht grell an. Er wünschte sich immer mehr, Er könne diesen Körper behalten, als Gefährt, als Gefäß, als Heim, das Er beziehen konnte, wann immer Er sich in der materiellen Welt bewegen mußte. Sie war, was Er brauchte, akzeptiert und doch unauffällig. Kein Mensch würde sie für gefährlich halten. Niemand würde denken, sie strebte nach etwas anderem, als es Frauen ihrer Art und ihres Alters gemeinhin wollten. Nicht einmal die Jäger der Bruderschaft verstanden sie. Sie wußten, daß hinter ihr mehr steckte, als eine oberflächliche Betrachtung zutage treten ließ, wußten, daß sie ohne Reue oder Zögern getötet hatte. Doch sie ahnten nicht, über welche außerordentliche Intelligenz sie verfügte und unterschätzten ihren Überlebenswillen.

Dennoch spürte Er, daß Er sie zu verlieren begann. Sie würde nun bald verenden. Menschliche Herzen hatten nicht die Kraft, einer Macht zu widerstehen, die aus den eigenen Gedanken auf sie einwirkte. Ihre Schutzmechanismen waren nach außen gerichtet, nicht nach drinnen. Sie kämpfte in die falsche Richtung und verzehrte sich dabei. Sie verlor die Schlacht, und ihre Verzweiflung nährte Ihn, während Seine glitschigen Fangarme ihr Gehirn und ihre Gedanken umschlossen, an ihren Blutgefäßen entlang durch ihren Sinn und ihr Sein glitten. Bald würde ihr Leben verlöschen wie eine Kerze. Das tat Ihm leid, nicht ihretwegen, sondern wegen Seines Verlustes. Er würde ihre aufrührerischen Gedanken vermissen und die Inspiration ihres prägnanten, eleganten Denkens, das Er wohl zu nutzen verstanden hatte. Er würde wieder auf sich selbst angewiesen sein.

Ihr Wissen hatte Er jedoch bereits gespeichert, wie ein Lexikon oder ein Nachschlagewerk, das einem Fragen beantwortete, wenn man Antworten suchte. Dennoch war die Essenz ihres Wesens in seiner Unnachgiebigkeit erfreulich, und ihre menschlichen Reflexe funktionierten. Er mußte nicht daran denken, in den richtigen Abständen die Lider zu senken oder den Menschen, mit dem Er sprach, interessiert anzusehen. Der menschliche Körper war ein recht gut gelungenes Objekt. Kein Kunstwerk vielleicht, aber doch solide zusammengefügt. Flexibel wie nichts anderes. Verwendbar.

Sein eigener Körper war anders. Besser natürlich, alle Körper der Na Daoine-maithe waren äußerst angepaßt an die Ziele und die Umwelt, in der sie sich befanden. Sie waren spezialisiert. Er konnte Seine Größe und Form frei bestimmen, Seine Konsistenz, konnte stark und zäh sein oder winzig und nadelspitz. Schwerkraft war Ihm so nebensächlich wie Zeit.

Die Frau konnte immer nur sein, was sie war, und selbst das würde sie bald nicht mehr sein, denn ihre Lebenskraft verzehrte sich in dem Wunsch, Ihn zu begreifen und zu besiegen. Er kostete diese Kraft und fand sie wohlschmeckend. So viel Fähigkeit, Talent und Entschlossenheit.

Auch konnte sie lesen. Das war günstig. Während Er die Einträge im Gästebuch las, wurde Ihm allerdings klar, daß diese besondere Fähigkeit nur dann von Nutzen war, wenn die Information in dem tintenschwarzen Geschreibsel etwas enthielt, was man brauchen konnte. Er kannte den Namen Seines Gegners. Namen waren wichtig, und das Halbblut hatte seinen nicht geheimgehalten. Seinen eigenen Namen würde Er nie so unüberlegt preisgeben. Nur wenige Seiner Artgenossen kannten ihn und würden ihn doch nicht aussprechen, und die Menschenwesen hatten in ihrem Bestreben, Worte für alles in der Welt zu finden, egal ob es verstehbar war oder unverständlich oder nichts als völlige Verständnislosigkeit ausdrückte, eigene Namen für Ihn gefunden.

Manche Namen, die sie Ihm gegeben hatten, kannte Er. Klangkonglomerate, Buchstabenkombinationen, die nichts über Ihn aussagten als das, daß niemand Ihn begriff, und das war gut so. Unbegreiflich sein bedeutete für Ihn unangreifbar sein. Geist nannten sie Ihn, Spuk, Phänomen oder Wiatruschod. Letzteres bedeutete Ostwind in einer ihrer Sprachen. Doch die Essenz Seines Seins klang in keinem dieser Namen. Er war ein Wesen, ein physisch existentes Wesen, Er hatte Wünsche, Begierden und Pläne, hatte Sinn und Geist, sich Strategien auszudenken, um an Sein Ziel zu gelangen.

Freilich war es für Ihn schwer, sich in Seiner eigenen Welt, in der Leben wenig Bestand hatte und Zeit etwas war, das nicht stattfand, immer als Mann, als männliches Geschöpf zu verstehen. Nicht einmal Er war in der Lage, sich abschließend zu definieren. Sein Geschlecht bestimmte sich aus der Rolle, die Er spielte. Die höheren Angehörigen der Na Daoine-maithe hatten oft genug freien Zugriff auf diese Spielarten der Existenz.

Er war jedoch nicht physisch genug, um selbst Nachkommen Leben zu schenken. Seine Aufgabe war es, die Essenz Seines Seins in einen empfangenden Körper abzulegen, um sie dort wachsen und sich nähren zu lassen. Das machte Ihn zu einer Art Vater.

Was dies anging, war Er in der Tat unentschlossen. Das logische Vorgehen wäre gewesen, das Manuskript zu nehmen und diese laute Welt zu einer stillen zu machen, die Seinen Wünschen und Bedürfnissen entsprach, damit Er sie jederzeit heimsuchen und als Sein Heim finden konnte. Wenn es machbar war, konnte Er es machen. Das Manuskript, das Er suchte, war ein Artefakt der Macht. Diese Dinge waren nicht von allein und ohne Grund im Universum vorhanden. Irgendwie waren sie von irgendwem erschaffen worden, hatten ihren Weg in die Welt der Menschen genommen und lagen dort versteckt unter Staub und Aberglaube. Einbildung, Glaube und Wahrheit konnten eins sein. Auf irgendeiner Ebene der Realität waren sie dasselbe. Ob sie es im Hier und Jetzt waren, war eine andere Frage. Das Hier und Jetzt war nicht Sein Spezialgebiet, zumindest nicht, solange es im Gegensatz zum Irgendwo und Irgendwann stand. Sein Wunsch und Wille, die Linien der Wirklichkeit sich in Wellen brechen zu lassen, mochten vielleicht nicht ganz ausreichen, um den Glauben, man könne die Welt Seinen Gedanken gemäß verändern, zur Gewißheit werden zu lassen.

Menschen liebten Fakten, und deshalb war bei ihnen vieles kompliziert. Als die unterentwickelten und jungen Kreaturen, die sie waren, glaubten sie, eine Tatsache sei ausschließlich etwas, für das man Worte finden und einen Beweis führen konnte. Doch selbst ihre neumodischsten Wörter reichten nicht aus, das komplexe Beziehungsgefüge allumfassender Existenz zu begreifen. Sie wußten nichts von Zeit, dachten, sie hätten sie meßbar gemacht, indem sie sie in winzige Einzelteile der Ewigkeit aufteilten. Doch die Ewigkeit war unteilbar, und sie wußten nichts darüber.

Sie maßen Raum, indem sie den Abstand von einem nichtigen Punkt einer beweglichen Welt zum nächsten bestimmten. Was, wenn die Wahrheit des Manuskripts so irrelevant und falsch war wie das menschliche Verständnis um die Welt an sich?

Es war uninteressant. Er spürte, daß die Körperlichkeit der geborgten Frauengestalt Ihn veranlaßte, Seine Gedanken von Seinem Endziel weg zu jener physisch befriedigenden Variante zu wenden, zu etwas, das näher und erreichbarer war. Das Weibchen. Der Körper hatte Ihn wissen lassen, daß es im Moment wahrscheinlich unbewacht war. Er konnte die Frau haben, sie kosen, in sie eindringen und Seinen Samen in sie pflanzen. Er stellte interessiert fest, daß Sein Atem raste. Der Gedanke, ihre warme, nackte Haut zu berühren und ihre Angst, ihren Schmerz und ihren Schrecken zu erleben, ließ Seine geliehene Hülle reagieren, und Ihm gefiel die Reaktion.

Zeit. Er mußte sich daran erinnern, Zeit war noch von großer Bedeutung in dieser Welt. Er konnte nicht zwei Dinge gleichzeitig tun. Er mußte eine Reihenfolge festlegen. Er lauschte der Platitüde in Seinem gestohlenen Geist: eines nach dem anderen.

Den Schlüssel zu bekommen war leichter gewesen, als Er gedacht hatte. Der junge Mann an der Rezeption war kein Geistesriese gewesen.

Kurz hatte Er sich überlegt, den Körper zu wechseln, denn ein Hotelangestellter würde auf einer Odyssee durchs Haus kaum auffallen und konnte überall klopfen, ohne Verdacht zu erregen. Er war dann doch in dem Frauenkörper geblieben. Niemand würde sich vor der Frau fürchten.

Ein wenig überrascht war Er gewesen, als Er auf die Bruderschaft traf. Doch die Männer hatten Ihm geglaubt, zumindest das meiste. Er hatte den bitteren Argwohn des Priesters bis in dessen Herz gespürt und sich gefreut, daß Er so weit blicken konnte. Der Mann traute Ihm nicht ganz oder genauer, ihr nicht ganz. Aber das war unwesentlich. Der Priester hatte die Aussage der Frau nicht prüfen können. Also blieb ihm nur zu glauben oder nicht. Eine dritte Möglichkeit gab es nicht, und obgleich die Religion des Priesters ihn darauf vorbereitet haben müßte, ohne Arg und Zweifel zu glauben, ließ das sein mißtrauisches Wesen nicht zu.

Sie hatten sich verteilt, nachdem Er Seine Geschichte erzählt hatte. Sie waren in den ersten Stock gegangen, Er in den zweiten. Von Tür zu Tür, horchend, spürend. Das Geräusch, das Sein Kleid machte, störte Ihn. Ihr Kleid. Ein unpraktisches Ding. Es war zu eng um die Taille, und der hohe Spitzenkragen kratzte am Hals. Er fragte sich, warum Frauen sich mit so etwas belasteten. Das Korsett zwang Ihn, gerade zu stehen, und der Kragen ließ Ihn ihr Kinn in die Höhe strecken.

Frauenkörper waren Gefangene ihrer Bekleidung. Er war es gewohnt, sich frei zu bewegen, wo immer Ihn Sein Wille hintrug. Nun stellte Er fest, daß Er die menschliche Bereitschaft, aus unbedeutenden Gründen zu leiden, unterschätzt hatte. Natürlich litt Er nicht. Das überließ Er ihr. Sie war es gewohnt, und Er konnte sich sogar an ihrem Leiden erfreuen.

Er lauschte den Machtlinien in der Luft, den Kraftfeldern kosmischen Seins. Er schnupperte nach der Erregung eines beanspruchten Sinns. Er tastete nach dem flüchtigen Hinweis auf eine Richtung. Nichts. Wie zuvor konnte Er den Gegner nicht ausmachen, obwohl dieser schwächer sein müßte als Er. Er hatte sich zu gut geschützt. Es würde Zeit brauchen, ihn zu finden.

Da war sie wieder: Zeit. Er begann, sie als Feind wahrzunehmen. Ihre Belanglosigkeit in Seiner eigenen Welt ließ Ihn immer wieder vergessen, welche Macht sie andernorts besaß. Doch hier durfte Er sie nicht vernachlässigen. Sie gehörte zu dieser Art Leben. Zu der Art, die Er ändern würde – und bevor Er sie vernachlässigen konnte, mußte Er erst etwas ändern.

Wieder fiel es Ihm schwer, sich an die logische Abfolge von Ereignissen zu halten. Dinge, die geschehen mußten, sollten geschehen, indem Er sie wollte. Damit hätte Er die Gewißheit, daß das, was Er wollte, immer so war, wie Er es wollte, einen unendlichen einzigen Moment lang.

So ging Er den Flur des zweiten Stockwerks entlang, nachdem Er das erste der Bruderschaft überlassen hatte. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, sie nach dem Feind suchen zu lassen, doch Er hatte der Versuchung nicht widerstehen können, sie für sich arbeiten zu lassen. Er hatte sie nie gefürchtet. Sie jagten meist nur Seine schwächeren Artgenossen, die, die kontinuierlich in der Welt der Menschen lebten, die einmal ihnen allen gehört hatte. Jetzt war sie eine Welt verstreichender Zeit, geprägt vom Zyklus von Geburt, Altwerden und Tod. Die Art, wie Sí in diese Welt kamen, war so unterschiedlich wie mysteriös, und ihr Alterungsvorgang wurde in Tausenden von Jahren statt in Dekaden gemessen. Sie starben selten, und um sie zu ermorden, mußte man über spezielles Wissen verfügen. Trotzdem waren sie Kinder dieser Welt, gehorchten der Zeit und unterlagen der Vergänglichkeit.

Er hatte nicht viel mit ihnen gemein. Sie interessierten Ihn nicht. Pläne hatte Er auch nicht für sie. Pläne schmiedete Er nur für sich.

Diese Pläne trugen Ihn von Tür zu Tür.

Er lauschte.

Er spürte.

Er suchte nach einer Fährte – und dann roch Er sie, eine winzige Brise aufgestauten Ozons. Ein Gewitter dräute hinter einer Tür. Blitze hingen im Moment vor ihrer Entladung fest. Er roch die Macht des Mannes, und damit konnte Er dessen Schwäche riechen.

Er strich ihren Rock glatt, setzte ein Lächeln auf und klopfte.

Das Obsidianherz
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