Kapitel 38

Immer muß Er warten. In Seinem schwarzen Reich, in dem Zeit nur ein flüchtiger Gast ist, baut Er an Seinen eigenen Mustern, spinnt Sein Netz, sät Seine eisigen Burgen. Er weiß, daß Zeit vergeht, vorbeihuscht wie eine Fremde auf der Durchreise, die nicht hierhergehört und die Ihm nur den ungewollten Eindruck ihrer selbst hinterläßt. Er weiß, daß das, was Sein Gedächtnis bewohnt, schon vergangen ist und das, was Sein Begehr und Verlangen ausmacht, noch nicht geschehen sein kann.

Sein Leben ist ein Kreis. Wenn Er Seine Welt zum Zentrum gesponnen hat, räumt Er sie. Er bricht durch den Mittelpunkt aus klarem, schwarzem, glasigem Stein. Der Kreis ist immer gleich und doch angeordnet in immer neuen Variationen. Gäbe es bei Ihm Zeit, wäre es immer die gleiche, jeder Zeitpunkt identisch.

Er weiß, daß außerhalb Seiner Sphäre Zeit auf andere Weise verrinnt und sich anderen Gesetzen beugt. Er weiß, daß für die Geschöpfe, die Ihn wahrnehmen, wenn Er die Welt der Lebenden besucht, die kurzen Zeiträume, in denen Er ihnen erscheint, zu unterschiedlichen Intervallen auftreten. Sie nehmen Ihn wahr und sterben, unterliegen der Zeit. Er weiß, daß einige der Kreaturen das erforderliche Wissen besitzen, um Seine Rückkehr in ihre Welt zu berechnen. Sie will Er vernichten, denn sie kennen Sein Geheimnis. Doch Er kann nicht. Sie haben auch das erforderliche Wissen, um Ihn auf Abstand zu halten.

Er sitzt und webt in Seiner glasschartigen Welt aus Obsidian, plant und denkt und haßt. In Gedanken genießt Er schon den Untergang derer, die gegen Ihn antreten und derer, die die Kühnheit besitzen, Sein Tun berechnen zu wollen, als wären Seine Visionen etwas, was ihre kleinen, ungeordneten, zeitverseuchten Gehirne auch nur näherungsweise fassen könnten.

Er spürte die Präsenz der Jäger, als er das letzte Mal hervorbrach, erfaßte ihre Koordinaten in ihrer farbwunden Welt ebenso wie die Grenzen, die sie Ihm zu setzen suchten.

Gern hätte Er sie vernichtet, wäre mit einem schwarzen Schrei durch ihre Schutzhüllen aus Haut und Magie gebrochen, in ihre Körper gekrochen und hätte sie für sich beansprucht. Nur so kann Er sich in der Welt der Menschen frei bewegen, indem Er in die zerbrechlichen Körper derer dringt, die Ihn dann als ihre Last tragen und als ihren Herrn.

Von den einsamen Steppen, die einst Sein Zugang zur Farbenwelt waren, ist Er so gereist, durch das verwirrende Revier der Menschen. Viele Leben hat es Ihn – oder sie – gekostet, so weit zu kommen, aber Er hat sie nicht gezählt, die Leben der Menschen oder deren Zeitalter, denn Zeit und Leben bedeuten Ihm nichts. Noch kennt Er all die Menschen, die Er befiel und übernahm, um in ihren Leibern Seine Reise weiterzuführen, solange bis sie um Ihn zerfielen.

Schwach waren sie. Nur wenige überlebten Seine Invasion lange, und ihre Leichname waren Seine Wohnung, während Er in ihnen Seinem Ziel entgegenschritt.

Er hat so viele Wünsche, doch verläßt Er sich auf den Augenblick, der kommen wird, da sie sich erfüllen. Sein heißester, sehnlichster Wunsch ist es, jeden Menschen besetzen zu können. Noch muß Er warten, bis Er ein Geschöpf mit ausreichend arkanem Rückstand in seinem Sein antrifft. Nur diese stehen Ihm offen, wie Häuser, deren Türen nicht versperrt sind, wie Schiffe, deren Fallreep sie mit dem Land verbindet.

Fast war es vollbracht gewesen. Einen hatte Er gefunden, ein ungeschütztes Exemplar, das Er übernehmen konnte. Doch dann der Fluch von Kalteisen. Er hatte Seinen Schmerz gespürt, ein seltenes, ungewolltes Gefühl, das Ihn daran erinnerte, daß Er noch sterblich war.

Er würde die Kreatur vernichten, die Ihm zweimal getrotzt und beim zweiten Mal nicht nur geschützt gewesen war, sondern Ihm die Frau genommen hatte, die Er sich erkoren hatte. Zunächst hatte Er sie nicht als den Seinen zugehörig erkannt, ihr Erbe, ihr Feyon-Blut war zu schwach. Doch dann kostete Er von ihrer weißen Haut, und sie schmeckte süß, jung und verführerisch. Sie zu erforschen wurde Sein Ziel.

Er hatte die Erkundung noch nicht abgeschlossen, als Er gestört wurde. Wieder Kalteisen. Er hatte von ihr gelassen, ehe es zu gefährlich für Ihn wurde. So hatte Er sie nicht nehmen können, sie nicht in Sein Reich bringen können, um sie zur Brutstätte für Seinen Samen zu machen. Sie würde nicht lange überleben, nicht in Seiner Welt, nicht als der Mensch, der sie zum größten Teil war. Doch es würde reichen. Sie in dunkles, eiskaltes Glas zu bannen würde ihr gerade genug Leben erhalten, daß sie Ihm Nachkommen werfen konnte.

Er sehnte sich nach ihr, während Sein dunkles Verlangen mit Seinem Obsidianreich wuchs. Bald würde Er sie besitzen. So bald, daß Er fast schon ihre Haut unter Seiner Schattenberührung fühlte. Eine neue Empfindung war das, und Er fragte sich, ob es das war, was Menschen in ihrer Farbenwelt „Liebe“ nannten.

Ja, das mußte es sein. Er liebte. Er würde sie nehmen. Diesmal, dieses nächste Mal würde Er durch jeden Widerstand brechen. Er würde jeden Störenfried vernichten. Sterbliche waren leicht zu töten. Nicht so Er. Nicht Seinesgleichen. Doch selbst Seiner Art fühlte Er sich nicht verbunden. Ihr Dasein in der Farbenwelt hatte sie verdorben.

Sein Sehnen wob neue Muster in die Finsternis Seiner Sphäre. Er würde morden. Der Gedanke erfreute Ihn. Er liebte das Leben wegen der Möglichkeit, die es bot, genommen zu werden, und er liebte es, es zu nehmen.

Sie hatten Ihm viele Namen gegeben. Doch bald würde nur noch einer gelten. Herr.

Das Obsidianherz
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