Kapitel 23
Asko von Orven sah den Priester aus Delacroix’ Zimmer kommen und eilte beunruhigt zur Tür. Er klopfte und befürchtete schon fast das Schlimmste. Lag der Colonel nun doch im Sterben und hatte die letzte Ölung empfangen?
Er wartete kaum das „Herein!“ ab und stürmte atemlos in den Raum. In seinen Händen trug er ein Holzkästchen.
„Geht es Ihnen gut, Sir?“ fragte er Delacroix, der an einem Tisch lehnte und rauchte.
„Danke, ja“, antwortete der Colonel lächelnd und sah dabei mit einem Mal noch gefährlicher aus als bisher.
„Ich habe den Priester weggehen sehen, und da habe ich ...“ Er beendete den Satz nicht.
„Seien Sie versichert, Herr Leutnant, ich habe mich noch nicht der letzten Ölung unterzogen. Ich habe vor, noch ein wenig am Leben zu bleiben. Haben Sie sich ausgeruht?“
Asko nickte.
„Jawohl, Colonel, aber dann habe ich diese Lieferung bekommen und mir gedacht, Sie sollten sich das einmal ansehen. Es ist von einem Laden namens „Obermair – Magische Ausrüstung“ gekommen, mit einem Grußwort von Mlle. Denglot.“
Er stellte den Kasten auf den Tisch.
„Ei, ei, Herr Leutnant, kann es sein, daß Sie das Herz unserer schönen Sängerin erobert haben?“ fragte Delacroix spöttisch und wandte sich dem Kästchen zu. „Typisch, sie schickt Ihnen ein verschlossenes Kästchen, aber nicht den Schlüssel dazu.“ Delacroix nahm sein Messer aus der Armschlinge und entfernte diese dann ganz.
„Sind Sie sicher, daß Sie das tun sollten?“ fragte Leutnant von Orven, der die Anspielung an Cérise Denglots Gefühle ihm gegenüber geflissentlich überhört hatte.
„Höchstwahrscheinlich nicht, doch ich brauche hierfür zwei Hände.“ Er grinste Asko an. „Oder sind Sie gut im Schlösser knacken?“
„Natürlich nicht“, lautete die empörte Antwort. „Das ist wohl kaum Lehrstoff bei der Erziehung eines Mannes von Stand.“
Delacroix lächelte.
„Stimmt“, sagte er. „Wir wollen also dankbar sein, daß die Erziehung eines Mannes von Stand nicht die einzige war, die ich genoß.“
Einem kleinen Lederetui entnahm er einige dünne, gebogene Metallteile, die Asko für Dietriche hielt.
„Schauen wir doch mal“, sagte er und führte vorsichtig eins davon in das Schlüsselloch ein. Die Schatulle sprang auf.
Von Orven war sich nicht sicher, ob er diese Fertigkeit bewundern oder verdammen sollte. Er war auch nicht sicher, ob es höflich wäre zu fragen, wo man so etwas lernte. Er war nur sicher, daß es ihn nicht erstaunte, daß der Brite diese Technik beherrschte.
Delacroix hob den Deckel an. Ein zierlicher dunkelgrauer Eisendolch lag auf einem Samtkissen.
„Sieh an“, konstatierte der Colonel, „Cérise hat Sie mit einer neuen Waffe ausgerüstet. Sie hat immer die ungewöhnlichsten Einfälle.“
Von Orven hob das Messerchen auf und wog es in der Hand. Es war kleiner als ein Obstmesser und ebenso dünn.
„Ist es das, was ich denke?“ fragte er.
Delacroix zuckte die Achseln und dann vor Schmerz zusammen. Vorsichtig verstaute er seinen Arm wieder in der Schlinge.
„Ich weiß nicht“, sagte er. „Sieht aus wie Kalteisen. Aber ich kann mir kaum vorstellen, daß jemand so fahrlässig ist, ein solches Artefakt an eine am Ort gastierende Sopranistin zu verhökern. Was heißt, daß es wahrscheinlich eine Nachbildung ist.“ Er hielt inne. „Der Priester hätte Ihnen darüber genauer Auskunft geben können. Doch er hätte es wahrscheinlich nicht ohne Gegenleistung getan. Und die Gegenleistung hätte den Preis, den das teure Spielzeug Cérise gekostet hat, um einiges übertroffen.“
Asko sah ihn zweifelnd an.
„Was mache ich jetzt damit?“ fragte er.
„Stecken Sie’s ein. Tragen Sie es bei sich. Aber verlassen Sie sich nicht darauf, daß es Ihnen hilft. Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Ein typisches Geschenk von jemandem wie Mlle. Denglot.“
Von Orven ignorierte den letzten Kommentar in der Absicht, Gentleman genug zu sein, ihn nicht zu hören, wenn Delacroix schon nicht Gentleman genug war, ihn sich zu verkneifen.
Delacroix, der die Gedanken seines Freundes nicht ahnte, wühlte in seinem Reisenecessaire. Er förderte ein Medaillon an einer Silberkette zutage, auf dem einige unleserliche Buchstaben zu sehen waren. Er hängte es sich um, öffnete seinen Kragen und versteckte das Schmuckstück unter seinem Oberhemd.
„Das soll gegen übles Hexenwerk helfen“, erklärte er lakonisch.
„Dann hätten Sie es besser schon heute morgen tragen sollen“, erwiderte Asko.
„Ich glaube, es hätte mir nicht geholfen, aber wer weiß? Ich trage es nicht gerne. Es bereitet mir Unbehagen. Deshalb hatte ich es gestern nacht abgenommen.“
„Unbehagen ist allemal besser als Tod“, gab Asko zurück.
Ein weiteres Klopfen ertönte. Es war Udolf.
„Entschuldigen Sie die Verspätung“, begann er, „aber mir hat jemand auf den Kopf geschlagen. Mußte mich erst wieder auf Vordermann bringen.“
Die beiden blickten ihn konsterniert an.
„War dabei, Steinberg zu verfolgen“, fuhr er fort. „Habe ihn verloren. Leider. Keine Ahnung, wo der Bursche abgeblieben sein könnte. Verflucht schnell, der Mann. Hätte nicht so schnell sein dürfen. Es war, als jagte ich einem Phantom hinterher.“
„Er hat dich auf den Kopf geschlagen?“ fragte Asko.
„Das weiß ich nicht. Jemand hat mir eins draufgegeben. Von hinten. Konnte nicht sehen, wer’s war. War gerade mit dem Leichnam beschäftigt, den ich gefunden hatte.“
„Leichnam?“ fragte Delacroix und wünschte sich, der junge Offizier wäre etwas stringenter in seiner Berichterstattung.
„Ja. Leichnam. Ziemlich tot, und nicht erst seit eben, würde ich mal sagen. Bin ja kein Fachmann, aber der Herr im Keller war nicht mehr taufrisch.“
„Welcher Keller?“ fragte Delacroix.
„Neben der Waschküche. Ach, apropos Waschküche. Da habe ich die wirklich unglaublichsten Frauen getroffen …“
„Natürlich“, bemerkte Delacroix trocken.
„Tust du doch immer“, sagte Asko.
„Nein! Das meine ich nicht ...“
„Können wir zu dem Leichnam zurückkommen? Bitte?“
„Also. Ich bin in den Keller runter, weil ich dachte, der Bursche hätte sich vielleicht da versteckt.“
„Der Leichnam?“
„Nein. Steinberg – und dann war da dieser Tote. Schädel eingeschlagen. Stumpfer Gegenstand vermutlich, und dann schlug mir auch jemand auf den Kopf. Als ich wieder zu mir kam, war der Leichnam weg und meine Pistole auch. Hatte sie gerade erst erworben. Hat ein Vermögen gekostet. Es war eine Pepper...“
Delacroix unterbrach ihn: „Unwichtig. Ist Ihnen der Leichnam noch einmal untergekommen?“
„Nein“, entgegnete Udolf. „Aber apropos untergekommen. Raten Sie mal, wen ich getroffen …“
„Noch eine unglaubliche Frau wahrscheinlich“, bemerkte Asko trocken.
„Ja, und gerade du …“
„Auch das ist jetzt nebensächlich“, unterbrach Delacroix. „Meine Herren. Wir müssen uns fertigmachen. Es ist Zeit, dieses Stockwerk zu patrouillieren.“
„Kann mir jemand eine Pistole leihen?“ fragte Udolf mit einem verschämten Grinsen. „Meine ist weg.“
Delacroix wies auf den Nachttisch.
„Nehmen Sie meine“, sagte er, „obwohl ich nicht glaube, daß man damit viel gegen das Monster ausrichten kann.“
„Schon klar“, antwortete von Görenczy, „aber ich fühle mich ohne so nackt. Mitten auf einem Feldzug.“ Er nahm die Schußwaffe und überprüfte sie.
„Weißt du, Asko, du wirst mir vermutlich den Kopf abreißen, aber meinst du nicht doch, daß unsere Chancen größer wären, wenn wir die kleine Miss Jarrencourt dazunähmen?“ fragte er.
„Miss Jarrencourt und ihre Tante haben das Hotel verlassen“, sagte Asko.
„Ach? Na, da waren sie aber schnell. Verdammt schnell sogar.“
Er folgte seinen Kameraden aus dem Zimmer und ließ die Tür hinter sich offen.