Kapitel 66
Es war schon spät am Nachmittag, als Cérise Denglot ins Hotel zurückkam. Eine lange Probe war es gewesen, intensiv, anstrengend, doch auch befriedigend. Sie hatte gesungen wie noch nie in ihrem Leben. Ihre Stimme hatte jedes Mitglied des Ensembles berührt, und das hatte sie glücklich gemacht. Herr Valerius, der Tenor, litt noch unter seiner abklingenden Erkältung, doch er war ein guter Sänger, und sie würde in ihm letztlich einen ausgezeichneten Partner haben.
Manchmal, nur manchmal war sie ins Träumen gekommen, und einmal hatte sie ihren Einsatz verpaßt. Doch im großen und ganzen waren alle begeistert gewesen, und sie wußte, daß diese Art von kollegialer Anerkennung schnell die Runde machen würde. Der König würde die Premiere nicht versäumen.
Sie hatte versucht, nicht an das zu denken, was in der Nacht geschehen war. Wann immer ihre Gedanken dorthin abschweiften, hatte sie sich zu mehr Konzentration gezwungen. Leicht war es nicht gewesen. Manchmal war es ihr, als könnte sie seine Berührung noch spüren, seinen Körper auf ihrer Haut, sein weiches, flaumiges Haar in ihrem Gesicht. Seine großzügige und zugleich fordernde Präsenz in ihr.
Sie fragte sich, ob alle Sí so liebten. Höchstwahrscheinlich nicht, dachte sie, oder Frauen hätten längst aufgehört, mit Menschenmännern zu schlafen. Sie sehnte sich nach Torlyn. Doch sie war zu sehr professionelle Künstlerin, als daß sie sich von diesen Gedanken hätte ablenken lassen – und singen? Sie wollte singen.
Eine lange Probe. Viel länger als erwartet. Sie war müde, als sie aus dem Operngebäude trat. Sie freute sich darauf, wieder in ihrem Zimmer zu sein. Vorher allerdings mußte sie mit Delacroix sprechen, und der würde ihr vermutlich den Hals umdrehen wollen dafür, daß sie am Morgen einfach davongelaufen war. Was für ein schwieriger Mann er doch war. Trotzdem schien es ihr an diesem Tage leichter zu fallen, ihm gegenüberzutreten als noch am Tag zuvor.
Sie lehnte das Angebot einer Droschke ab und entschloß sich, die kurze Strecke zu Fuß zu gehen, obgleich der Tag feucht und kalt war. Doch die Luft war frisch und tat ihr gut, und bestimmt ging sie nicht zu Fuß, nur um ein unwillkommenes Gespräch weiter hinauszuschieben.
Am liebsten hätte sie McMullen alles allein berichtet, doch er war vermutlich damit beschäftigt, den Fang zu bewachen und nicht allein, und sie war sich ganz sicher, daß sie ihr Liebesleben nicht in der Gegenwart der beiden Leutnants diskutieren wollte. Der eine wäre nur beleidigt und der andere schockiert. Also blieb nur Delacroix.
Vielleicht waren sie die Bestie ja inzwischen losgeworden. Sie fragte sich kurz, wo eigentlich Vonderbrück abgeblieben war. Vielleicht hatte er sich ausgeruht? Mit zwei Meistern des Arkanen konnte die Lösung ihres Problems nicht lange auf sich warten lassen.
Sie erreichte das Hotel schneller als gedacht und ließ sich an der Rezeption ihre Post geben, wobei der junge zweite Hotelportier sie mit runden, bewundernden Augen anstarrte. Sie erklomm die Treppe zum dritten Stock. Große Hoffnung, Delacroix in seinem Raum allein zu finden, hatte sie nicht, doch sie würde es versuchen. Als sie ihr Stockwerk erreicht hatte, sah sie Corrisande Jarrencourt gerade ihre Zimmertür öffnen. Irgendwie wirkte es seltsam, wie sie ihre Hände hielt.
Die junge Frau nickte ihr kurz zu und verschwand ohne ein weiteres Wort in ihrem Zimmer. Cérise hätte etwas mehr Freundlichkeit erwartet. Doch schließlich kannte das Mädchen sie so gut wie nicht.
Sie ging weiter zu Delacroix’ Tür und klopfte, ohne eine Antwort zu erwarten.
„Herein“, ertönte seine Stimme, und sie bereitete sich auf einen üblen Disput vor und öffnete die Tür.
Er sah sie einen Augenblick lang irritiert an, als hätte er jemand anderen erwartet. Dann wandte er sich nur ab und blickte wortlos aus dem Fenster. Er hielt seinen Dolch in der Hand und drehte ihn gedankenverloren hin und her. Sie kannte die Waffe, und es beunruhigte sie ein wenig, daß er bewaffnet dastand.
Sie schloß die Tür hinter sich.
„Guten Abend. Bevor du irgend etwas Unüberlegtes tust, möchte ich dir sagen, daß ich nicht mit dir streiten will. Ihr wolltet mit mir sprechen, und ich möchte lieber mit dir dabei allein sein, als das ganze Team als Publikum dabeizuhaben.“
„Gut“, sagte er, drehte sich aber nicht zu ihr um.
„Willst du mich nicht bitten, Platz zu nehmen?“
„Bitte nimm Platz.“
„Wenn du mir nicht zuhören willst, kann ich auch wieder gehen. Allerdings hast du heute morgen sehr viel Wirbel um die Sache gemacht.“ Sie fand sein Desinteresse beleidigend und fast irritierender als den erwarteten Streit.
„Schon möglich“, brummte er.
Jetzt begann sie, sich Sorgen zu machen, trat zu ihm und blickte ebenfalls aus dem Fenster, um zu sehen, was ihn dort so fesselte. Sie konnte nichts erkennen.
Sie drehte sich zu ihm um.
„Mon Dieu, Delacroix, du siehst furchtbar aus.“
Er antwortete ihr nicht.
„Ich habe sie fast getötet“, sagte er nach einer Weile sehr ruhig und sehr bitter.
Sie fragte nicht, wen.
„Belastet dich das noch? T... mein Freund hat dich doch davor bewahrt. Es geht ihr gut. Sie lebt. Ich habe sie gerade gesehen. Schweigsam und hochmütig. Sie hielt ihr Kinn so hoch, daß ich Angst hatte, sie würde über ihre eigenen Füße stolpern.“
Er sah sie an, konsterniert zuerst, dann schüttelte er den Kopf.
„Nicht gestern. Eben. Ich hätte sie beinahe getötet.“ Seine Stimme klang düster und viel zu ruhig.
„Warum?“
„Nicht mit Absicht. Nicht diesmal. Ich wußte nicht ...“
„Was wußtest du nicht? Oh Gott, du hast sie doch nicht mit dem Kalteisendolch angegriffen?“
Diesmal drehte er sich zu ihr um. Seine Augen sprühten vor Wut.
„Willst du mir etwa sagen, daß du gewußt hast, was sie ist?“
„Allzuviel habe ich nicht gewußt. Nur, daß Kalteisen“, sie benutzte Torlyns Worte, „ihrer Gesundheit vermutlich abträglich sein würde.“
Er rammte das Messer in die Tischplatte, wo es bebend stecken blieb.
„Verflucht noch mal, Cérise, das ist kein Spiel! Wenn du solche Dinge weißt, mußt du sie mir sagen!“ Er sah aus, als wollte er sie umbringen.
„Es ist aber nicht mein Geheimnis, und ...“
Er packte sie an den Armen und schüttelte sie.
„Ich habe die Nase gestrichen voll von Geheimnissen!“ fauchte er. „Ich will klare Antworten, und ich will sie jetzt gleich!“
„Laß mich sofort los, oder ich schreie sehr, sehr laut um Hilfe. Ich weiß nicht, was passiert ist, das dich so aggressiv gemacht hat, aber ich bin sicher, daß es nichts mit mir zu tun hat.“
Er ließ sie los.
„Was weißt du über sie?“ fragte er und faltete die Hände hinter seinem Rücken.
„Ich weiß fast nichts. Mein Freund sagt, in ihrer Ahnenreihe müsse irgendwann mal ein Feyon gewesen sein. Deshalb war das Monster hinter ihr her. Es wollte sich mit ihr paaren. T... mein Freund sagt, sie sei vollkommen für das Ding, genug Feyon, um seine Nachkommenschaft zu empfangen, und zu menschlich, um sich dagegen wehren zu können.“
„Wer ist ,T‘?“
„Timothy.“
„Timothy?“
„Das ist ein schöner Name“, sagte sie.
„Aber nicht seiner.“
„Er muß reichen.“
„Timothy ist der dunkelhaarige junge Mann – oder Sí – , dessen nächtliche Präsenz für deinen frühmorgendlichen Glanz verantwortlich war?“ fragte er höhnisch.
„Er hat mich glücklich gemacht.“
„Das war mehr als offensichtlich.“
„Das hingegen war unnötig.“
„Wirklich, Cérise, du weißt nichts über diesen Mann. Deine Sorglosigkeit ist unglaublich. Wie kannst du dich in einen Sí verlieben?“
„Nun“, erwiderte sie und schenkte ihm ihr süßestes Lächeln, „wenigstens stehe ich damit nicht allein, nicht wahr?“
Seine Hände zuckten nach ihr, und sie trat einen Schritt zurück.
„Wage es nicht, mich anzurühren, Delacroix!“ warnte sie.
„Natürlich nicht.“ Er verbeugte sich und lud sie dann mit einer Geste ein, sich zu setzen. „Nimm doch bitte Platz. Mach es dir bequem. Laß uns plaudern.“ Auf seinen Zügen lag ein Lächeln, das Cérise als besonders gefährlich kannte.
Sie setzte sich.
Er holte sich einen Stuhl, und sie sprang wieder auf.
„Mit mir spielst du deine kleinen Machtspielchen nicht. Ich kenne deine Tricks.“
Er antwortete nicht, zwang sie aber auch nicht, sich wieder zu setzen.
„War sie eben bei dir?“ fragte sie und vertauschte die Rollen, ohne es zu merken.
„Ja, ich hatte ein paar Fragen an sie.“
„Ich möchte wissen, wie du es geschafft hast, sie dazu zu bringen, hierherzukommen. Ich hätte sie nicht als Mädchen eingeschätzt, das Männer in ihren Schlafzimmern besucht. Was wolltest du denn wissen?“
„Ich wollte wissen, warum der Auftrag, mich zu töten, mit ihrem Ring gesiegelt war und woher sie Taschenspielertricks kann, die so manchen Beutelschneider vor Neid erblassen lassen würden. Ich wollte außerdem wissen, wo sie gelernt hat, so zielsicher mit einem Messer zu töten.“
Diesmal setzte sich Cérise von allein.
„Mon Dieu“, sagte sie, „was für eine vielseitige junge Dame. Ich verstehe, daß du gerne mehr wissen wolltest. Aber mußtest du sie deshalb mit dem Messer bearbeiten? Soweit ich mich an deine absonderlichen Moralvorstellungen erinnern kann, hast du Folter immer verabscheut.“
Er lief vor ihr auf und ab, die Augen zu schmalen, gelbfeurigen Schlitzen zusammengezogen.
„Ich habe sie nicht angegriffen. Ich habe versucht, sie zu zwingen, es zu nehmen. Eins meiner kleinen Machtspielchen, wie du es so trefflich nanntest. Ich habe ihr die Hand verbrannt, und sie ist mir hier fast erstickt.“ Seine Stimme klang beherrscht und neutral, aber sie kannte ihn zu gut und spürte den Schmerz darin trotzdem.
„Großer Gott.“
„Aber jetzt ist es Zeit, daß du ein paar Fragen beantwortest. Wer ist der Mann, der dich so glücklich macht?“
„Graf Arpad. Ungar, glaube ich. Nicht, daß das wichtig wäre. Er verehrt mich schon länger.“
„Aber du hast dich bisher nicht daran erinnert?“
„Aber er hat sich bisher nicht persönlich vorgestellt.“ Sie öffnete ihren Kragen und zog das Amulett hervor. „Das kannst du wiederhaben.“
Er nahm es und hängte es sich um.
„Ich werde McMullen bitten, dir auch eins zu besprechen“, sagte er und erwartete, daß sie das ablehnte. Doch das tat sie nicht.
„Ja bitte, das wäre sehr nett.“
„Graf Arpad. Wie paßt er in diese Geschichte? Oder wart ihr zu beschäftigt, um miteinander zu reden?“
„Er weiß von dem Manuskript, und er weiß über das Wiatru-Ding Bescheid. Wie auch nicht? Er war ja dabei, als wir es fingen. Er sagt, es ist ein Zerstörer.“
„Böse?“
„Ich weiß nicht, ob er die Welt in Gut und Böse einteilt. Er sagt, er hat keine Vorstellung davon.“
„Bestürzt dich das nicht?“
„Kaum. Er schätzt und erhält Leben.“ Sie fügte nicht hinzu, daß er es auch nahm. „Die Bestie zerstört Leben.“
„Du denkst, er ist auf unserer Seite?“ In Delacroix’ Stimme schwangen Zweifel.
„Nein, er ist auf seiner eigenen Seite. Möglicherweise noch auf meiner.“
„Wirst du ihn heute sehen?“
„Eventuell“, sagte sie und dachte daran, daß er kommen würde, wenn er das Blut einer anderen Frau getrunken hatte. Dann überlegte sie, daß Delacroix vermutlich einen Anfall bekommen würde, wenn er das wüßte. Sie grinste.
„Sag ihm, wir müssen ihn sprechen. Ich schwöre, ich werde ihm nichts tun“, gelobte er.
Sie lachte.
„Mein lieber Delacroix, sei versichert, er hat keine Angst vor dir. Er ist kein Mädchen, mit dem man Machtspielchen spielen kann. Du kämst nicht dazu, auch nur dein Messer zu ziehen.“
„Ist er so gefährlich?“
Diesmal antwortete sie nicht, lächelte nur. Nach einer Weile sprach sie wieder: „Du sagtest, sie hätte mit dem Messer jemanden getötet. Wen?“
„Vonderbrück. Sehr schön und professionell.“
Sie starrte ihn an.
„Du hast sie nicht festnehmen lassen?“
„Nein. Vonderbrück war ein Betrüger, Verräter und gefährlicher Irrer, und er war dabei, mich umzubringen. Sie hat mir das Leben gerettet.“
„Und dafür hast du sie dann fast ermordet. Delacroix, du bist ein Idiot.“
Er sah sie wütend an.
„Du mußt zugeben, daß ich das Recht hatte, ein paar Antworten zu fordern“, verteidigte er sich. „Ich wollte einfach diese glatte Fassade durchbrechen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Vonderbrück hat angedeutet, sie gehöre zu einer kriminellen Bande, die von einem Mann mit dem Beinamen ‚der König‘ geleitet wird. Er hat durchblicken lassen, sie stünde ihm nahe, sei vielleicht seine Mätresse. ,Die Prinzessin‘ nannte er sie.“
„Mätressen kommt ein solcher Titel nicht zu. Er ist Königstöchtern vorbehalten.“
Er stierte sie an und setzte sich aufs Bett.
„Du könntest recht haben“, sagte er. „Aber Vonderbrück sagte, sie sei ... käuflich.“
„Der gleiche Vonderbrück, den du eben als Betrüger, Verräter und gefährlichen Irren bezeichnet hast?“
Delacroix antwortete nicht.
Cérise ließ sich neben ihm nieder.
„Tut es sehr weh?“ fragte sie sanft.
„Was mir weh tut oder nicht hat dich nicht zu interessieren“, zischte er. „Ich tue, was ich tun muß. Genau das und nichts anderes. Ausnahmslos.“
„Ich weiß. Du bist und bleibst ein crétin.“
Sie stand auf und glättete ihren Rock.
„Ich werde Timothy bitten, dich aufzusuchen. Ich kann dir aber nicht versprechen, daß er es tun wird.“
Ein letzter Blick zeigte ihr, daß er das Erlebnis noch nicht verwunden hatte, obgleich die maskengleiche Unbeweglichkeit seiner Züge einem anderen seine Gefühle nicht verraten hätte.
Sie nickte ihm zu, verließ den Raum und schloß die Tür mit einem wohltuenden Knall.
Verdammter Kerl. Er war einfach nicht in der Lage, seine eigene Strenge und Bärbeißigkeit zu besiegen. Armer Delacroix. Sie begann zu lächeln, als ihr klar wurde, was sie da gedacht hatte. Vermutlich würde er ihr den Hals umdrehen, wenn er wüßte, daß sie ihn als „armen Delacroix“ titulierte.
Sie ging grinsend den Flur entlang. Dann dachte sie an das Mädchen. Was mochte sie von alldem halten? Sie war erstaunlich robust. Delacroix hatte sie fast umgebracht, und als Cérise sie gesehen hatte, hatte sie im Gesicht der jungen Frau kein Anzeichen der Begegnung erkennen können. Sehr gefaßt. Ein Gesicht wie Porzellan.
Vielleicht sollte sie sie besuchen und sie trösten? Sie hielt vor Miss Jarrencourts Zimmer an und legte ihr Ohr an die Tür. Sie hörte nichts. Sie hatte erwartet, sie weinen zu hören. Sie war so jung, und Delacroix war ein beängstigender Mann, wenn man ihn nicht kannte und seine Bluffs nicht durchschaute.
Doch es war kein Weinen zu hören. Sie ging weiter. Es ging sie schließlich nichts an. Delacroix war alt genug zu entscheiden, was ihm im Leben wichtig war und wie er damit umging, und so, wie er mit der Kleinen umgegangen war, würde sie wohl kaum noch etwas mit ihm zu tun haben wollen. Wer wollte schließlich von jemandem geliebt werden, dessen Launen und Leidenschaft so intensiv waren, daß er von einer Sekunde zur nächsten zur lebensbedrohlichen Gefahr werden konnte?
Sie öffnete ihre Tür und trat ins Zimmer. Hinter ihr schloß sich die Tür, der Türgriff glitt ihr aus der Hand. Sie drehte sich überrascht um, und da war er, zog sie in die Arme, glitt mit seinem Mund zu ihrem Hals.
Sie hatte den Anhänger zurückgegeben, erinnerte sie sich. Sie war sich sicher gewesen, ihn nicht zu brauchen.
Seine Gedanken liebkosten ihre, und schon legte sie den Kopf zur Seite und zurück, bot ihm leichten Zugriff auf ihr Blut. Sie merkte, was sie tat, konnte es jedoch nicht verhindern. Er befehligte ihren Leib. Sie wollte schreien, aber auch das war ihr nicht möglich. Er zeigte ihr ein langzahniges Lächeln, beugte sich dann wieder über ihren Hals und küßte ihn sanft.
„Habe ich dir Angst gemacht?“ flüsterte er, während er sie fest an sich preßte. Seine Zähne waren wieder klein, und ein Lächeln spielte um seine Lippen.
„Ja“, gab sie zu und versuchte, sich wieder zu fangen. Der plötzliche Schreck war ihr in die Glieder gefahren und ließ ihre Nervenenden schrillen. Ihr Körper zitterte vor Spannung. „Ich dachte, du wolltest nicht, daß ich Angst vor dir habe?“
„Stimmt“, sagte er. „Wenn ich satt bin, kannst du mir trauen. Wenn ich bin wie jetzt, mußt du vorsichtig sein. Sehr vorsichtig.“
„Was kann ich tun, um dich dann abzuwehren?“
„Nichts. Absolut nichts.“
„Das ist nicht sehr hilfreich.“
Er gluckste amüsiert.
„Bis bald, meine Schöne“, sagte er. „Ich gehe jagen.“
Plötzlich nahm er ihre rechte Hand in seine Linke, streckte sie seitlich aus, während sein rechter Arm sich um ihre Taille schlang und sie in Walzerposition zog. Er wirbelte sie im Dreivierteltakt durch den Raum und drehte sie mit einer Pirouette in den Sessel.
Er küßte ihr die Hand, drehte die Hand dann um, mit dem Puls nach oben. Und wieder biß er nicht zu, küßte nur die feinen Adern ihrer weißen Haut.
Einen Moment später war er zur Balkontür hinaus.
„Warte“, rief sie ihm nach, ehe er vollends im düsteren Abendlicht verschwand. „Delacroix will mit dir reden. Bitte geh zu ihm. Oder zu ihnen. Ich nehme an, du weißt, wo sie zu finden sind.“
„Ja. Aber ich muß erst jagen. Ich möchte nicht den falschen Eindruck bei deinen Freunden hinterlassen. Ich werde nach dem Dîner viel zivilisierter sein.“
Dann war er verschwunden.