Kapitel 5
Der furchterregende Fremde trat ins Zimmer, als sei es sein eigenes. Er sah sich um, suchte mit den Augen die Wände ab. Erst dann ließ er die Waffe sinken.
„Bitte beunruhigen Sie sich nicht, Madam“, sagte Asko und klang ein wenig peinlich berührt und entschuldigend. „Das ist ein Freund. Mrs. Parslow, darf ich Ihnen Colonel Delacroix vorstellen. Er sucht wie wir den Mörder ...“
Der Colonel sah ihn ungehalten an und war augenscheinlich nicht erbaut von Askos freizügigem Umgang mit vertraulichen Informationen. Asko stockte. Betretenes Schweigen senkte sich über den Raum.
„Haben Sie es gesehen?“ fragte Udolf in die Stille. Er klang fast ein wenig begeistert.
„Es kam früher als erwartet“, antwortete der Colonel, und Mrs. Parslow meinte, einen winzigen harten Akzent in seinem sonst perfekten Englisch auszumachen, den sie aber nicht zuordnen konnte. „Vonderbrücks Berechnungen waren falsch. Ich war im Weinkeller. Es ist genau vor mir aufgetaucht und sofort durch die Decke geschossen. Ich bin die Treppen hochgerannt in der Hoffnung, noch eine Spur zu finden.“
„Es kam durch den Boden in mein Zimmer“, antwortete von Görenczy. „Asko war auf ein Gläschen Bordeaux gekommen. Wir wollten dann gemeinsam zu Ihnen. Es kam direkt aus dem Teppich, drehte sich wie eine Spirale und schoß durch die Wand in die benachbarten Räume. Wir mußten nur dem Kreischen folgen.“
„Es hat gekreischt?“ fragte Delacroix, während er versuchte, seine Pistole unter seinem Gehrock zu verstecken.
„Ah ... nein ... es ist in die Gemächer der Damen gekommen, und sie ...“
„... sie waren verständlicherweise beunruhigt“, beendete von Orven den Satz seines Freundes, wie immer bemüht, das unüberlegte Benehmen seines Kameraden eben noch rechtzeitig geradezubiegen. Von Görenczy besaß ein besonderes Talent für Fettnäpfchen jeder Couleur.
An dieser Stelle fand Mrs. Parslow ihre Fassung wieder, wenn auch in angeschlagenem Zustand. Sie holte tief Luft, fast starr vor Empörung.
„Meine Herren!“ verkündete sie frostig. „Es ist spät. Ich danke Ihnen aufrichtig für Ihre Hilfe, doch es ist schon nach Mitternacht, und ich muß Sie bitten, Ihren Spuk jetzt andernorts zu suchen. Sie werden sicher verstehen, daß wir als Damen allein nicht gut einer Gruppe Herren, die uns gänzlich unbekannt sind, mitten in der Nacht Gastfreundschaft in unserem Zimmer gewähren können. Dafür hätte niemand Verständnis. Wir werden uns an Sie wenden, wenn wir Hilfe benötigen. Sie werden begreifen, daß im Moment meine erste Priorität ist, meiner Nichte zu helfen. Sollte sie erwachen, während unser Zimmer voller fremder und zudem auch noch bewaffneter Männer ist, so fürchte ich, hätte sie jedes Recht, gleich wieder in Ohnmacht zu sinken.“
Ohne eine Reaktion abzuwarten, setzte sie sich demonstrativ neben das ohnmächtige Mädchen, träufelte etwas Flüssigkeit aus ihrem Riechfläschchen auf ein Tüchlein und hielt es der Bewußtlosen unter die Nase.
„Corrisande! Wach auf. Du bist in Sicherheit“, befahl sie und klang dabei eher ärgerlich denn besorgt.
Corrisande jedoch lag weiterhin reglos und weiß wie die Wand auf der Couch.
Asko von Orven wandte sich höflich zur Tür, um zu gehen, der Colonel jedoch schlug den entgegengesetzten Weg ein und kniete sich gänzlich unaufgefordert neben die Couch. Er nahm Corrisandes Handgelenk in seine Pranke, um ihren Puls zu fühlen, und ignorierte Mrs. Parslows entrüstete Kommentare zur Gänze. Dann legte er Corrisande die Hand auf die Stirn.
„Sie ist eiskalt. Ihr Riechfläschchen wird hier nichts ausrichten.“ Er gab Marie-Jeannette, die auf wundersame Weise wieder in die Arme des Chevaulegers gefunden hatte, ein Zeichen. „Du! Hol eine Decke. Görenczy! Ich weiß, Sie haben stets ein gewisses Fläschchen bei sich. Das brauche ich jetzt.“
„Es ist in meinem Zimmer.“ Udolf war nicht erbaut darüber, seinen privaten Notvorrat an Cognac an andere vergeudet zu sehen. Man wußte nie, wann man ihn brauchte.
„Holen Sie ihn. Jetzt. Sofort.“ Er wandte sich an Mrs. Parslow. „Es tut mir leid, daß wir Ihnen Ungelegenheiten machen, aber das hier ist wichtig. Hat der Schatten sie berührt, als er das Zimmer durchquerte? Oder ist sie aus Angst ohnmächtig geworden, als sie das Phänomen sah?“
Mrs. Parslow starrte ihn empört an und wußte offenbar nicht, ob sie ihn gleich aus dem Zimmer werfen oder ihm vorher noch eine Lektion in gutem Benehmen erteilen sollte. Doch sie räumte in einer Art widerwilligem Rückzug den Platz neben Corrisande. Auf der einen Seite wollte sie dem Mädchen nicht von der Seite weichen, auf der anderen nahm der Fremde so viel Raum neben dem Sofa ein, daß seine rein physische Präsenz sie verdrängte, bevor sie noch groß darüber nachdenken konnte. Das machte sie keineswegs glücklicher, und so antwortete sie ihm zunächst gar nicht, sondern zerbrach sich lediglich den Kopf darüber, wie sie endlich die ungewollten nächtlichen Besucher wieder loswerden konnte.
Marie-Jeannette, die mit der Decke aus dem Nebenzimmer zurückkam, antwortete für sie.
„Bitte, Sir. Sie hat das Ding nicht gesehen. Sie sprang auf und wurde ohnmächtig, da war es noch gar nicht da. Als es durch die Wand kam, lag sie schon auf dem Boden. Es hat sie nicht berührt.“ Sie knickste vor dem Colonel, der ihr die Decke abnahm und sie über Corrisande breitete.
„Aber“, begann Leutnant von Orven, der nun endlich die Tür zum Korridor geschlossen hatte, „das würde ja bedeuten, daß sie das Wesen kommen spürte ...“
„... bevor es überhaupt da war“, ergänzte von Görenczy, der gerade wieder eingetreten war und eine kleine, silberne Reiseflasche in der Hand hielt. „Das würde bedeuten ...“
„Das würde bedeuten, Miss Corrisande hat ein Talent, das außer ihr hier niemand besitzt“, bestätigte Delacroix. „Vielleicht können wir das ja ausnutzen.“
„Colonel!“ Mrs. Parslow richtete sich zu ihrer ganzen Würde auf. „Darf ich Sie daran erinnern, daß Sie sich hier im Zimmer einer Dame befinden? Uneingeladen, füge ich hinzu. Sie werden meine Nichte in keiner Weise ‚ausnutzen‘. Sie ist ein zartes junges Mädchen und nicht an Herrengesellschaft gewöhnt, ganz egal, ob die ‚Herren‘ Mördern nachjagen, Gespenstern oder Abenteuern. Ich muß Sie jetzt dringend ersuchen, uns zu verlassen, sonst sehe ich mich gezwungen, in der Sache die Leitung des Hotels um Hilfe zu bitten!“
Der Colonel nickte ihr zu und signalisierte dann Leutnant von Orven mit einer Kopfbewegung, sich der diplomatischen Aufgabe zu widmen, die aufgebrachte Anstandsdame zu beruhigen.
Mit leicht geröteten Wangen trat Asko vor Mrs. Parslow, als wolle er vor ihr salutieren.
„Mrs. Parslow. Wir bitten in aller Form um Nachsicht für unser unglaubliches Verhalten. Doch diese Angelegenheit ist von höchster Bedeutung, und zwar für sehr viele Menschen. Bitte seien Sie versichert, daß wir Ihrer Nichte keinesfalls zu nahe treten oder sie gefährden werden. Mein persönliches Ehrenwort darauf. Colonel Delacroix mag Ihnen ungewöhnlich erscheinen, aber ich bitte Sie inständig, mir zu glauben, daß er ein Mann von großer Integrität und Erfahrung ist und mit Sicherheit immer ganz genau weiß, was er tut. Großer Gott, Delacroix! Sie können doch dem Mädchen nicht den ganzen Weinbrand einflößen. Sie wird ersticken!“
Die letzte Äußerung war nicht dazu angetan, Mrs. Parslows Bedenken zu zerstreuen. Sie trat vor, fand jedoch ihren Weg durch den weniger diplomatischen Udolf blockiert, der schelmisch lächelte und fragte, ob sie nicht solange Platz nehmen wolle. Es gäbe keinen Grund, sich aufzuregen.
Mrs. Parslow teilte diese Meinung nicht. Sie holte tief Luft für eine längere Rede, als es an der Tür klopfte. Für eine Sekunde rührte sich niemand. Ehe jedoch noch einer der Anwesenden etwas sagen konnte, hatte Marie-Jeannette die Tür bereits geöffnet, in der Hoffnung – wie sie später der erbosten Mrs. Parslow erklärte – dort einen Angestellten des Hotels vorzufinden, der ihr helfen würde, ihren Salon von unerwünschten Männern zu befreien.
Allerdings erfüllte sich diese Hoffnung, sollte sie sie tatsächlich gehegt haben, nicht. Eine junge, außergewöhnlich schöne Frau stand in der Tür, gekleidet in einen exquisiten, mit Paradiesvögeln gemusterten Brokatmorgenmantel. Langes, goldblondes Haar fiel ihr über die Schultern bis zur Taille, bedeckt von einem zauberhaften Hauch von Nachthäubchen aus Brüsseler Spitze.
Mrs. Parslow benötigte einige Sekunden, um das klassisch geschnittene, ausnehmend schöne Gesicht einzuordnen. Sie hatte diese Frau schon auf der Bühne gesehen. Dies war Cérise Denglot, die Opernsängerin.
„Guten Abend“, wünschte die schöne blonde Frau mit melodiöser Stimme und einem winzigen französischen Akzent. „Ich will Sie gewiß nicht stören, aber ich habe Stimmen gehört und dachte ...“
„Das fehlte noch“, murmelte Mrs. Parslow, sank in einen Sessel und hob die Hände in einer ungewollt dramatischen Geste an ihr Gesicht. Eine Strähne ergrauten Haars war dem strikten Dutt entkommen, den sie als Frisur bevorzugte. Sie schob sie ärgerlich zurück, ungehalten darüber, daß das Chaos um sie herum nun auch ihre Person erreicht hatte.
Udolf drehte ihr unverhohlen den Rücken zu und ging auf die Sängerin zu. Dabei lächelte er spöttisch.
„Hübscher Morgenrock“, kommentierte er, „aber völlig überflüssig, meine Liebe. Die Aufregung ist vorbei, und Sie haben sie schon wieder verpaßt. Sie hätten sich nicht so viel Zeit nehmen sollen, Ihren Auftritt vorzubereiten. Am besten gehen Sie einfach wieder ins Bett.“
„Darf ich Sie daran erinnern, Görenczy, daß ich nicht ‚Ihre Liebe‘ bin, daß ich ins Bett gehe, wann ich es für richtig halte und daß es bei dem Lärm, den Sie hier alle machen, wirklich miraculeux ist, daß Sie nicht das gesamte Hotel aufgeweckt haben? Ich meine mich zu erinnern, daß man uns gebeten hat, diskret vorzugehen. Aber ‚diskret‘ war nie Ihre persönliche Stärke, n’est-ce pas?“
„Nun, das Diskreteste, was Sie im Moment tun können, wäre, zurück in Ihr Zimmer zu gehen. Statt dessen posaunen Sie Ihre charmante Entrüstung mit Ihrer geschulten Sopranstimme lauthals durch die offene Tür. Wir haben alles unter Kontrolle. In jeder Beziehung.“
Die Diskussion hörte sich so sehr nach einem Streit unter Liebenden an, daß Marie-Jeannette, die einen ausgesprochenen Sinn für die kleinen Boshaftigkeiten des Lebens hatte, diesen Augenblick wählte, um sich zurück in die starken und schützenden Arme des Leutnants zu begeben. Es tat gut, von einem feschen, kühnen Chevauleger beschützt zu werden, und es tat auch gut, eine von allen Zeitungen gepriesene Schönheit wie Mlle. Cérise Denglot auszustechen, die Göttin, wie das opernverrückte Publikum sie nannte.
„In der Tat“, bemerkte die Göttin frostig und drehte auf dem Absatz um. „Da bin ich wohl de trop. Je suis désolée. Ich wollte nur helfen.“
Mit einem Knall schloß sie die Tür hinter sich.
„Mußte das sein?“ flüsterte Asko Udolf zu, in der Hoffnung, daß ihn Mrs. Parslow nicht hörte. „Mußt du immerzu mit ihr streiten? Jetzt wird sie bestimmt beleidigt sein.“
Von Görenczy zuckte die Achseln und kniff Marie-Jeannette zart in die Wange.
„Laß sie doch“, antwortete er nur. In seiner Stimme schwang eine gewisse Befriedigung mit.
Das Intermezzo hatte Mrs. Parslow kurzfristig von Corrisande abgelenkt. Sie hatte somit völlig versäumt, was der Colonel gerade mit ihrer ‚Nichte‘ anstellte.
Er saß neben ihr auf dem Diwan, ihr zugewandt, hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt, sie aufgerichtet und an sich gezogen. Ihren Kopf stützte er mit seiner großen, sehnigen Hand. Mit der anderen Hand hatte er ihr den gesamten Inhalt der Vorratsflasche von Görenczys in den Mund geschüttet.
Ihr Körper zuckte, und sie begann zu husten und nach Luft zu ringen. Delacroix hielt sie fest im Arm.