IV.
Philosophie
1.
Der Weg zur Philosophie
Es ist keine neue Mode, von Dante zu behaupten, er sei Philosoph gewesen. Der Florentiner Chronist Giovanni Villani nannte ihn im Rückblick den größten Dichter und Philosophen, den vollendeten Rhetoriker, somma poeta e filosafo, e retorico perfetto.[864] Er selbst hat sich so genannt. Mancher Dante-Darsteller, der dies aussprach, fügte eilig hinzu, Dante sei kein systematischer Philosoph wie Spinoza oder Kant gewesen. Das ist nicht ganz falsch, verdeckt aber, daß Dante kein Dilettant war, sondern streng argumentierender Philosoph; er hat einen Gesamtbegriff der Welt und des menschlichen Lebens entwickelt. Er war kein Universitätsangestellter, aber diese Außenseiterrolle teilt er mit Boccaccio und Petrarca, mit Raimundus Lullus und Nicolaus Cusanus, mit Leone Battista Alberti und Machiavelli. Er hat sich angeeignet, was in den Hochschulen von Bologna und Paris in der vor-nominalistischen Zeit zu lernen war, und ging dann über alle Schulen hinaus. Das beweist die Commedia; das zeigen auch die sieben Bände der philosophischen Schriften, die seit 1993 zweisprachig bei Meiner in Hamburg unter der Leitung von Ruedi Imbach erschienen sind, besonders der Brief an Cangrande, das Convivio, aber auch De vulgari eloquentia und die Quaestio de aqua et terra. Die naturphilosophische Quaestio gehört in die letzte Lebenszeit Dantes; ebenso seine Sozial- und Reichsphilosophie in der Monarchia, deren Abfassungszeit lange umstritten war, aber in den letzten Jahren weiter nach hinten, gegen 1317, verschoben worden ist. Um diese Zeit dürfte auch seine Monarchia entstanden sein. Dies sind fachlich argumentierende, philosophische Texte. Ihre Themen und Thesen haben die Commedia mitgestaltet.
In einigen Passagen der Commedia redet Beatrice, wie es heißt, beweisend und widerlegend (Par. 3, 3), also in scholastischer Manier. Hätte Dante nur die Monarchia und die Quaestio geschrieben, käme er in unseren Philosophiegeschichten vor. Jetzt aber glauben viele zu wissen, Dante sei Dichter gewesen und gehöre in die Hände der Literaturwissenschaftler. Aber nicht, ob Dante Philosoph war, ist zu bezweifeln, sondern unsere Trennungen von Philosophie und Dichtung. Boccaccios Dante-Biographie gibt dazu den einen Hinweis, Dante habe sich gern zurückgezogen, um einsam über philosophische Fragen nachzudenken. Boccaccio nennt Themen dieser Grübeleien. Es sind allesamt philosophische, und sie betreffen, wie Boccaccio formuliert, die Bewegungsursachen der Sterne und des Lebens der Tiere und überhaupt die Gründe der Dinge.[865] Augustinische oder pseudo-dionysische Themen fehlen ganz. Seine Fragen würden wir heute der Astronomie und der Biologie zuweisen, aber im Einflußbereich der Philosophen Aristoteles, Averroes und Albert waren sie alltäglich.
Dante begann zu philosophieren, um über sich selbst Klarheit zu gewinnen. Beatrice ist 1290 gestorben, in seinem 25. Lebensjahr. Danach, relativ spät also, warf er sich auf die Philosophie. Dabei entdeckte er, wie er selbst erzählt, wichtige Einsichten über das Universum und den Menschen. Er fand Bücher, die Trost stiften – Ciceros Trostschrift für Laelius, dessen Freund Scipio gestorben war, und die Consolatio des Boethius, die man zur Vorbereitung auf Dante auch heute noch lesen sollte. Diese Entdeckungen brachten ihm nicht nur Wissensstoff, nicht nur Meinungen, sondern Durchblick durchs Universum. Sie veränderten sein Selbstverständnis; sie verwiesen ihn auf die Beweger der Sterne und auf das Leben der Tiere; sie verschafften seiner Politikkritik einen verläßlichen Boden. So entstanden seine Ethik und seine Metaphysik, aber auch seine naturphilosophischen Interessen, denen er bis an sein Lebensende nachging. ›Philosophie‹ begann für ihn mit der aristotelisch geprägten Wissenschaft dieses Namens mit ihren Texten und Kommentaren (Averroes, Albert), aber sie beschränkte sich nicht darauf. Sie war Erfassung der Weisheit, die das Weltganze ordnet. Sie war ihm Richtschnur des privaten, des ökonomischen und politischen Lebens; sie half ihm, sein Exil auf den Begriff zu bringen. Ebenso war sie Naturkunde, Theorie des Lebendigen und der Sternbewegungen. Dante folgte so wenig wie Lull oder Eckhart dem engeren Fachbegriff von Philosophie, der sich als Logikunterricht und Aristoteles-Kommentierung herausgebildet hatte. Er ignorierte diese Entwicklung nicht, sondern bezog sie frei in seine Weltorientierung ein. Er wollte die Philosophie als Weltdurchblick und Lebensleitung; er suchte Weisheit. Weisheit war bei Gott, sie war Gott selbst, denn in Gott gibt es keine Zusammensetzung zwischen ihm, seinem Wissen, seinem Willen oder Tun. Die Philosophie, die dies beweist, ist nicht eine der vielen Wissenschaften, sondern das Durchdenken ihrer Resultate. Sie ist der denkende Bezug auf Wahrheit und Seligkeit. Sie ist zugleich strenge Argumentation nach allgemeinmenschlichen Prinzipien und denkende Verbindung mit dem Grund der Welt. Sie sucht Teilhabe an seinem Wissen. Sie beglückt, sie ist das Glück, das der menschliche Intellekt von Natur aus sucht.
Dante philosophiert und dichtet in der ersten Person. Er spricht von sich selbst. Er erzählt, wie sein Interesse an der Philosophie erwacht ist: Es ging ihm wie jemandem, der Silber sucht und Gold findet. Er suchte Trost und entdeckte, daß die Philosophie von höchstem Wert ist, somma cosa (Conv. 1, 12, 5).[866] Er begreift sie als seine edle Herrin, donna gentile, liebenswürdig und nachsichtig. Sie war ihm zugleich die Stellvertreterin Beatrices auf Erden.
2.
Die ›Commedia‹ als Philosophie
Der Verfasser der Commedia brauchte die Philosophie. Sie wurde deren wesentliches Element; der 13. Brief erklärt, die Commedia sei selbst Philosophie, praktische Philosophie. Sie bewirkt Umbruch des Selbstverständnisses; sie leitet an zur Reform des privaten und des öffentlichen Lebens; sie ist keine abstrakte Begriffsbastelei. Sie ist auch Theorie des Wissens, aber vor allem ist sie wie bei Platon, Aristoteles, Plotin und Augustin der Weg zum Glück, zur beatitudo. Sie ist Phänomenologie des sittlichen und unsittlichen Lebens, Kritik der Gesellschaft und Philosophie der Elemente in der Natur: Feuer, Wasser, Luft und Erde.
Der Dichter der Commedia brauchte die Philosophie, auch um es irgend plausibel zu machen, daß er von einer Himmelsreise kommt. Es mußten bestimmte Voraussetzungen zutreffen, wenn es wahr sein sollte, daß er Gott, die Engel, das Universum als Ganzes gesehen hat. In Florenz gab es tausendfach Zweifler, Epikureer wie der Philosoph Guido Cavalcanti und andere. Dante wollte zeigen, daß sein Erkenntnisgang auf Wahrheit beruhte, daß er wirklich das Ziel aller Dinge, die Struktur der Welt, das wahre Glück und das richtige Leben erfaßt hat. Seine Einsichten haben ihn verändert; die Leser der Commedia sollen wissen, daß auch sie sich ändern sollen. Und sie sollen wissen, warum und in welcher Richtung. Der Weg ist hart, führt durch individuelle und politische Höllen und Reinigungen. Er bringt Menschen dazu, den Besitzindividualismus und die Wolfsgier abzulegen – im individuellen Leben, in der Kirche, in der Stadt. Es geht nicht um Glauben; die meisten Einwohner von Florenz hatten keine Einwände gegen das Glaubensbekenntnis; sie lebten falsch. Sie verstanden die Welt und sich selbst nicht richtig. Sie blickten auf die führenden Schichten in Kirche und Stadt; sie sahen, daß es diesen nur um Macht und Geld ging, und ahmten sie nach. Sie sahen nicht: Die sichtbaren Dinge sind im Urgeist erhalten und von ihm gehalten, das Weltsystem ruht und bewegt sich im Empyreum, das keine äußerste Schale ist, wie viele Theologen dachten, sondern Intellekt und Liebe, Liebe zum wahren Gut. Es ist keine räumlich vorstellbare ›Wohnstätte der Geister‹, sondern Geist. Der Kosmos schwebt in einem Meer aus intellektuellem Licht, voll von Liebe: Luce intellettual, piena d’amore (Par. 30, 40).
Menschen sind Geist, nicht nur Naturwesen mit dem biologischen Drang zur Selbsterhaltung und Selbsterweiterung, sie verhalten sich aber so. Dantes Philosophie lehrt nicht nur diese Umwandlung; sie ist diese Umkehr im Medium des Intellekts und der Poesie, nicht des Gefühls oder des Glaubens.
3.
Die Philosophie – Königin über alles
Dante erzählt, er habe nach dem Tod Beatrices sich dorthin gewandt, wo man die Philosophie beweist, nämlich zu den Hochschulen der religiösen Orden und den Diskussionen der Philosophen, le scuole de li religiosi a le disputazioni de li filosofanti (Conv. 2, 12). Unter den scuole de li religiosi dürfen wir die großen Florentiner Ordensstudienhäuser S. Maria Novella und S. Croce verstehen; die Diskussionen der Philosophen lernte er an der Universität von Bologna und wahrscheinlich auch in Paris kennen. Sein Philosophiestudium war eine Art Bekehrung: Er begeisterte sich so sehr für die Philosophie, daß sie im Lauf von 30 Monaten des Studiums alle anderen Gedanken in ihm verdrängte, auch die Trauer über Beatrices Tod und die jugendliche Art, Liebesgedichte zu schreiben, die er mit Liebeslyrikern wie Guido Cavalcanti und in deren Gesellschaft betrieben hatte. Er schreibt jetzt für eine andere donna, für die Weisheit. Sie sei die Tochter Gottes und Königin von allem, figlia di Dio, regina di tutto, nobilissima e bellissima Filosofia (Conv. 2, 12, 9).
Diese Prädikate der Philosophie sind hoch: Tochter Gottes, Königin von allem, die Vornehmste und Edelste, sie ist das naturentsprechende, durch den menschlichen Geist zu erreichende Glück. Im Convivio ist vom jenseitigen Leben der Seele, von Gnade und Erlösung nicht die Rede, erst in der Commedia. Es liegt in der Natur der Geistseele, sich erkennend dem Urgrund zu nähern und darin das Glück zu finden; dieses Streben kann, da es naturgemäß ist, nicht umsonst sein. Natura nihil facit frustra (Conv. 3, 15, 6–10). Dies ist aristotelische Lehre.
4.
Grundlegung durch Aristoteles
Die Philosophie Dantes ist heute gut erforscht.[867] Die ältere Ansicht, der Aristotelismus Dantes sei thomistisch, ist widerlegt. Eher ist an Albert den Großen zu denken als an Thomas, der gleichwohl für Dante wichtig war, vor allem mit seinem Kommentar zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles, den Dante studierte und den Boccaccio sich mit eigener Hand abschrieb. Aber auch Albert dominiert nicht das Feld. Fundamental bleibt Aristoteles; er heißt maestro di color che sanno (Inf. 4, 131). Nur die Bibel, Vergil und Ovid werden in der Commedia häufiger genannt. Die Lastereinteilung in Inferno 11 erfolgt nach der Nikomachischen Ethik, besonders 7, 7; die Lehre von der Entstehung des Embryos in Purgatorio 25 folgt der Schrift De partibus animalium. Die wichtigen Schriften des Aristoteles De anima, die Physik und die Metaphysik waren ohne Kommentar kaum verständlich, und die Kommentartradition hatte längst, schon in der Antike, dann bei den Arabern, platonische und neuplatonische Konzepte mit Aristoteles verbunden. So finden wir bei Dante die Lehre des platonischen Timaios, daß Gott, weil er gut ist, sich neidlos mitteilt. Dies paßte zur Ansicht des Aristoteles, daß Gott den Menschen den Wissensbesitz nicht neidet (Metaphysik 1, 2).
Die Commedia setzt das platonisch-neuplatonische Motiv des Aufstiegs zum Guten fort, das Augustin die Unruhe des Herzens genannt hatte, bis es ruhe in Gott. Dante kannte die Bekenntnisse, die Gottesstadt (De civitate Dei) und das Werk Über die Dreieinigkeit gut. Er nahm von Augustin die Lehre von Gott als dem Guten in allem Guten (bonum omnis boni), die Analyse der drei Funktionen des menschlichen Geistes (mens) als Erinnern, Einsehen und Lieben. Er entwickelte Augustins Metaphysik der Liebe in seinem Sinn weiter; er hat ihm auch in mehr als einer Hinsicht widersprochen. Dionysius Areopagita lehrte die negative Theologie und war zuständig für Engelordnungen; Dante brauchte ihn für die Ausschmückung der astronomisch vorgegebenen Gliederung des Paradiso; darüber hinaus reichte der Einfluß des Dionysius auf Dante wohl nicht.[868] Der gesellschaftliche, politische und intellektuelle Umkreis, in dem Dante stand, war von dem des östlichen Mönchs um 500 zu verschieden. Für ihn war Aristoteles der Meister aller Wissenden; den Averroes als den Aristoteles-Erklärer setzte er zu den großen Denkern im Castello nobile der Hölle; die Monarchia 1, 3, besonders 1, 3, 9, setzt ein mit der averroistischen Intellekttheorie. Thomas von Aquino läßt Dante etwas sagen, was er de facto nicht gesagt hat, was er aber hätte sagen sollen, nämlich das Lob Sigers von Brabant. Dantes Bonaventura lobt dessen Gegenspieler Joachim von Fiore: Nirgendwo strenge Schulbindung, kein Thomismus. Fundamental bleibt Aristoteles. Warum war er so wichtig? Dazu einige knappe Hinweise:
4.1 Ding und Eigenschaft
›Substanz‹ (substantia) ist ein Schlüsselwort bei Aristoteles und im mittelalterlichen Aristotelismus, auch bei Dante. Sie ist wirklich, weil sie wirkt. Wirkzentren sind der Grundbestand der Welt. Sie entfalten sich, zeigen sich, haben ihr Ziel in sich. Sie sind Entelechie, wirken auf Ziele hin und sind in sich ihr Ziel; sie sind als Lebewesen spontan dynamisch; als Intellekt erkennen sie sich selbst durch Welterkenntnis. Als Intellekt sind sie nicht isoliert, sondern leben im gemeinsamen Wahren. Darin liegt ihr Glück. Das ist Eudaimonie.
Das Wort substantia gibt das griechische usia einseitig wieder. Ousia ist das Substantiv, das aus dem griechischen weiblichen Partizip Präsens, usa, von einai, ›Sein‹ abgeleitet ist. Was wir ›Substanz‹ nennen, sollte nach Aristoteles das von Parmenides verfehlte Problem lösen, was das Sein ist. Und die aristotelische Lehre sagt: Es gibt nicht nur das eine Sein, sondern es gibt viele usiai, also viele Fälle von ›Sein‹, also zahlreiche dynamische Seinsinstanzen.[869]
Die usia-Lehre hatte auch eine einfachere Seite: Sie benannte die erste Kategorie, das bleibende Seiende, im Unterschied zur Eigenschaft. Dabei konnte man sich einen Baum vorstellen, der als das Zugrundeliegende bleibt, wenn die Blätter wechseln. Dies war Schulstoff im ganzen Mittelalter, weil die Kategorienschrift des Aristoteles, von Boethius übersetzt, immer zugänglich war.
Die Unterscheidung von Substanz und Akzidens begünstigte eine bestimmte Auffassung des Satzes der europäischen Sprachen. Sie erzeugte die grammatischen Begriffe Subjekt und Prädikat. Das Subjekt schien die Substanz zu bezeichnen, das Prädikat die Eigenschaft. Diese Konzeption verdeckte den verbalen Charakter des Satzes. Der verbale Charakter wird verkannt, wenn man mit Thomas von Aquino lehrt, der Satz:
›Sokrates sitzt‹,
sei gleichbedeutend mit dem Satz:
Sokrates ist sitzend (ist ein Sitzender).[870]
4.2 Stoff und Form
Körperdinge sind bei Aristoteles die Einheit von Materie und Forma. Gestaltet sind sie durch ihre Forma; sie ist der reale Sinngehalt oder der Begriff (logos) der Wesen; sie gibt Sein und Erkennbarkeit. Ein logos in den Dingen – das ist die realisierte Idee. Dieser Restplatonismus machte die aristotelische Ontologie anschlußfähig an neuplatonische und idealistische Philosophien. Die ›Substantia‹ war diesen Ansichten zufolge das Produkt eines Ausflusses aus dem Einen. Sie war eine Verknotung des universalen Strömens. Daher war sie auch umformbar; das erklärt Dantes Liebe zu Metamorphosen, mit denen er Ovid zu übertreffen dachte. Sein Konzept von ›Substanz‹ war nicht starr. Aber es sicherte die Rationalität der Welt, denn sie war selbst ein Logos oder enthielt ihn doch in sich. Daher Dantes Erkenntniszuversicht. Er hielt sie für naturhaft vorgegeben; sie folgte aus der Entsprechung zwischen Logosnatur der Substanzen und Allbezug des menschlichen Intellekts, ohne den auch kein Satz einer göttlichen Offenbarung für uns verständlich wäre. Diese Beziehung selbständig zu entwickeln, war für Dante der Sinn des menschlichen Lebens. Das galt, da in der Menschennatur vorgegeben, für alle Menschen. Daraus folgerte er die Aufgabe der Bildung der Laien: »Alle Menschen wollen von Natur aus wissen.« Unerforschlich ist nicht Gott, wohl aber einzelne göttliche Willensbeschlüsse. Die Zuversicht ist nicht grenzenlos, aber manche Dantologen übersehen oder leugnen sie unter dem Einfluß halb-existenzialistischer Theologen.
Die Dinge sind Substanzen. Sie sind Selbststand und Widerschein. Als Spiegelungen göttlichen Lichts sind sie von betonter Dichte, Eigenständigkeit und Dynamik. Sie können als Abbild des Urgeistes sagen: Ich bin. Ich bin substantiell. Ich subsistiere (Par. 29, 15).
Nach Aristoteles sind die Körperdinge die Einheit von Stoff und Form. Weder das Wort ›Materie‹ noch das Wort ›Form‹ ist mit unserem Terminus gleichbedeutend: Materia bezeichnete das Unbestimmte, Zugrundeliegende, Formlose, das von der Forma geprägt wird. Die Forma gibt dem Ding das Sein und die Erkennbarkeit. Forma ist der realisierte Sinngehalt. Sie ist der Begriff (logos) des Wesens. Es ist demnach ein logos in den Dingen, also reale gedankliche Bestimmtheit. Aristoteles sagt oft eidos (Gestalt, Art) für morphe, forma. Die realisierte Idee Platons, könnte man sagen. Das ist Restplatonismus.[871] Er sichert dem aristotelischen Denken die Anschlußfähigkeit an neuplatonische und idealistische Philosophien.
4.3 Intellekt
Für Dante waren von Aristoteles vor allem folgende Texte grundlegend: Nikomachische Ethik, besonders deren Bücher 1, 1–2 und 10, die Metaphysik, besonders Buch 1 und 12, speziell 12, 7. Besonders folgenreich war Aristoteles, De anima 3, 4 und 5, mit den Kommentaren Alberts und mit dessen De intellectu et intelligibili. Alberts Vorlage war der Kommentar des Averroes: Hier ist von Geist (nous), nicht von Seele die Rede, von animus oder vielmehr intellectus, nicht von anima. Der Intellekt ist das Haben des Allgemeinen, des Bleibenden, des Notwendigen. Er ist unvermischt, ›getrennt‹, hat keine bestimmte Natur, damit er alles sein kann. Er hat mit nichts etwas gemein (3, 4, 429 b 23–24); er ist die bestimmte Negation von allem. Er kehrt zu sich zurück, sé in sé rigira (Purg, 25, 75). Er wird Wissen des Wissens. Er ist anders als das Seelenleben, das individuell und schwankend ist. Er ist auch individuell, aber als Einsicht ist er die Sachen selbst und ist bei anderen, die auch Intellekt sind. Er ist das Göttliche; seine Tätigkeit ist sein Wesen, und Tätigkeit ist Glückseligkeit. Diese wird ihm nicht von außen umgeworfen wie ein Mantel.
Der Begriff des Intellekts bei Aristoteles erlaubte es Dante wie Eckhart, die philosophisch-franziskanische Lehre von der Armut zu vertiefen.[872] Dante (wie Eckhart) nimmt die sokratische, die stoische Armutslehre auf, führt sie fort mit der aristotelischen Lehre, daß der Geist nichts ist von allem. Und die wiederum verbindet er mit der franziskanischen Tradition der Habgierkritik, mit Joachims Zukunftsinteresse und Prophetismus.
4.4 Formen der Erkenntnis
Auch Platon begann den Aufstieg zur Idee des Guten mit der sinnlichen Erkenntnis. Aristoteles hob den Bezug auf Wahrnehmung schärfer hervor und fand folgende Stufen der Erkenntnis: Einzelwahrnehmung – Bündelung von Wahrnehmungen – Phantasiebild, imaginatio – Allgemeinerkenntnis am Einzelnen, ratio particularis – Einsicht in die allgemeine Bestimmung.
Bei dieser Stufenfolge unterschied Dante – wie fast die gesamte ältere Philosophie – zwischen bildhaftem Vorstellen (fantasia, imaginatio) einerseits und der Begriffsbestimmung eines Einzeldings (ratio particularis) andererseits und der darüberhinausgehenden allgemeinen und notwendigen Erkenntnis der universalen Bestimmtheit, die in der wahren Definition zum Ausdruck kommt. Auch die außerordentliche Bedeutung der Definition im Begriff des Wissens bei Aristoteles stammt von Platon.
4.5 Kosmos, Intellekt, Gott. Natur, ›von Natur aus‹
Aristotelisch sind im Werk Dantes nicht nur einzelne Lehrpunkte, sondern die enge Verbindung von Kosmos, Formenmetaphysik, Intellektlehre und Gottesbegriff.[873] Der Kosmos ist gestuft, von der einheitlichen Leitung des ersten Bewegers geeint; die einzelnen Sternschalen oder die Sterne werden von Geistern bewegt und in ihrer Ordnung gehalten. Wir sind Intellekt, zuweilen, Gott ist immer Intellekt, aber wir kennen ihn, und wir sehen den Kosmos als sein Feld.
Diese aristotelischen Grundbestände hat Dante als seine persönliche Einsicht entwickelt. Immer auch als politische Philosophie. Er läßt Karl Martell die aristotelische Lehre vom Menschen darlegen, der von Natur aus ein politisches, ein auf die Polis bezogenes, ein soziales Wesen sei (Par. 8, 96 – 146). Dante mahnt, auch individuelle Naturbedingungen, Anlagen der Menschen und ihre verschiedenen Begabungen zu achten. Das ist aristotelisch inspiriert, aber Dante verbindet aristotelische Anregungen und deren arabisch-astronomisch-medizinische Vertiefungen mit platonisierender Ideenlehre, mit neoplatonisierender Logosphilosophie, mit augustinischen Elementen der Willenstheorie und der Liebe.
Natur, natura, physis hat bei Aristoteles mehrere Nuancen.[874] Physis kommt von ›Wachsen‹; es ist das, woraus etwas wächst, sich entwickelt, wird und vergeht. Physis ist noch nicht wie in der Stoa die streng teleologisch geordnete Allmutter Natur. Sie ist Wachstumsgrund und Wachstumsgesetz. Was ›von Natur‹ (physei) ist, läßt sich nicht umgehen, ist mächtig und vernünftig. Aristoteles hat aber die Einzelformen ethischen Verhaltens in der Nikomachischen Ethik nicht damit begründet, daß sie der Natur entsprächen. Er beschreibt sie mehr phänomenologisch. Die Ableitung ethischer Inhalte aus der Natura gehört erst einer späteren Zeit, besonders der stoischen Schule an, wird aber von Dante beansprucht, zum Beispiel als Regel für die Politik (Par. 8, 143).
4.6 Die philosophische Gottheit bei Aristoteles
Dies alles kommt zusammen in seinem Konzept von Gott, der neidlos gut ist, den Menschen das Wissen nicht neidet (Metaphysik 1, 2), der alles bewegt als das Geliebte (Metaphysik 12, 7). Gott ist das Allgemeinste. Nichts ist außerhalb seiner. Gott ist erste usia, er ist Intellekt (nous) und Ziel aller Bewegung, unendlicher Lichtpunkt. In ihm ist alles. Was in der Welt gut, aber unvollkommen ist, das ist er in vollendeter Form. Hinzu kommt bei Dante das neuplatonische Motiv: Er ist das Gute alles Guten, bonum omnis boni. Er ist das Eine, das Vieles entläßt. In ihm sind wir als Intellekt immer schon, indem wir Allgemeines denken, die Grenzen unserer Individualität überwinden, indem wir bei anderen sind: Das ist Liebe. Aber die Menschen leben verkehrt; sie neiden einander partikuläre Güter und geraten darüber in Streit (Purg. 15, 43–57).
Doch geht Dante über das philosophische Konzept des höchsten Gutes hinaus und schreibt seinem Gott anthropomorphe Eigenschaften zu. Der Gott Dantes sanktioniert ethisch-politische Zustände. Er übt Rache aus.[875] Sein Eifer für die Gerechtigkeit hat für immer die Hölle eingerichtet. Allerdings urteilt er weitherziger als Kirchenleute (Purg, 3, 103–145).
4.7 Intellekt und Glück. Zwei Formen der beatitudo
Für Dante ist wesentlich die Lehre des Aristoteles im ersten und zehnten Buch der Nikomachischen Ethik von der Zuordnung allen menschlichen Handelns auf Glück (eudaimonia). Ebenso wichtig sind die Kapitel De anima 4 und 3, 5 in der Auslegung Alberts und des Averroes: Der Intellekt hat mit nichts etwas gemein. Er ist anders als alle Naturdinge, anders auch als der Mensch, sofern er Naturwesen ist. Er ist die wesenhafte Tätigkeit, sich alles gegenüberzustellen. Er ist anders als alles, um alles in sich zu haben. Er geht nicht auf im Individuum. Er findet die Glückseligkeit in sich, weil er im göttlichen Intellekt ist. Er überwindet die Vorstellung räumlicher Getrenntheit.
Dante modifiziert diese Position in zweifacher Weise: Die von unserem Geist immer gesuchte Wahrheit ist die Totalität der Ideen im Geist Gottes. Dante füllt wie Augustin und Bonaventura vor ihm den Begriff des Ersten Grundes auf mit der Theorie des Logos als der Einheit aller Ideen. Das ist kein purer Aristotelismus mehr, sondern christliche Plotin-Rezeption.
Zweitens arbeitet Dante heraus: Diese Sehnsucht modifiziert sich nach dem Status dessen, der diese Sehnsucht hat und ihr folgt. Im irdischen Leben ist sie unvollkommen. Gesättigt wird der Geist nur, wenn die Gnade hinzukommt (Purg. 21, 1–3). Gnade heißt hier: Neidlose Mitteilung. Menschenfreundlichkeit Gottes, nicht willkürliche Auswahl einzelner aus der Sündenmasse. Die volle Glückseligkeit ist nur im Himmel zu erreichen, für Getaufte und Erwählte, aber die natürliche Weisheit ist wirkliche Seligkeit und Gottesnähe. Daher kennt Dante ein zweifaches Glück. Daher dichtet er in der Commedia ein irdisches und ein himmlisches Paradies.
5.
Glauben und Wissen
Die Doppelung der Seligkeit des menschlichen Geistes in eine naturhafte und eine gnadenabhängige führt zu der Frage, wie Glauben und Wissen sich zueinander verhalten. Sie erzeugt komplizierte, sehr ›scholastische‹ Debatten. Ich gehe ihnen nicht zu weit nach; ich mache dazu nur zwei Bemerkungen:
Dante ist, aristotelisch, überzeugt, daß jede menschliche Vernunft Gott aus seinen Werken erkennen kann. Er denkt vernunftfreudig, spricht aber auch die einschränkenden Formeln Platons und Aristoteles’ nach: Die göttliche Liebe überragt unseren Intellekt wie Sonnenlicht das menschliche Auge. Diese Metapher der Erblindung der Vernunft ist aristotelisch. Die negative Theologie insgesamt entstammt der Philosophie: Neuplatoniker haben sie im Anschluß an Platons Dialog Parmenides entwickelt. Platon erprobt dort, was herauskommt, wenn wir die Struktur unserer Sätze auflösen und ein einzelnes Element derselben isolieren: Dann ist gar nichts mehr zu erkennen. Unser Geist ist nicht für die Betrachtung gänzlich für sich bestehender, insofern isolierter ewiger Wesen, also Gottes und der ersten Materie, geeignet (Conv. 3, 15, 6). Das heißt nicht: Gott sei unerkennbar; unser Geist kann sich nur nicht dabei ausruhen. Die Vernunft erreicht die Wahrheit, und damit erfüllt sich naturhaft der Schöpfungsplan, der an dieser wichtigen Stelle nicht vereitelt werden kann. Die menschliche Vernunft ist dazu bestimmt, naturhaft beseligt zu werden durch Erkenntnis des Grundes der Welt. Die göttliche Herrlichkeit strahlt in der ganzen Welt wider, hier mehr, dort weniger (Par. 1, 1–3). Aber Gott und die erste, die formlos konzipierte, Materie erkennen wir nur durch Weglassen dessen, was wir in der Welt kennen, also nur durch Negation.
Zweitens: Dante lehrt die Notwendigkeit des Glaubens für die jenseitige Beseligung.[876] Vergil erklärt, er wisse nur das, was die Vernunft auf der Erde erkenne, Beatrice werde ihn belehren, was Sache des Glaubens ist (Purg. 18, 46–48). Diese methodische Zweiteilung bedeutet nicht, Beatrice sei Symbol für den Glauben oder die Theologie: Jeder Selige, der aus der Anschauung Gottes zu uns käme, könnte uns nicht nur die Theologie und den Glauben, sondern alles erklären, weil er in seinem göttlichen Grund alles unmittelbar intellektuell erfaßt. So redet Beatrice denn auch.
Dante arbeitet ungelöste Probleme der Glaubenslehre heraus. Er zeigt Wunden, die sie ihm schlägt. Er bezeichnet sie genau. Er lobt den Zweifel (Par. 4, 124–132). Die Defizite sollen den Gläubigen bewußt bleiben. Nicht selten setzt Dante, nachdem er die Demutsformeln über die Schwäche menschlicher Erkenntnis nachgesprochen hat, später noch einmal neu an, die dunklen Seiten Gottes plausibel zu machen, z.B. findet er zunächst keine Theorie der Seelen als Schatten und hält sie für unerklärbar (Purg. 3, 16–45), gibt sie später aber doch (Purg. 25, 36–108). Gott ist Vernunft und vernünftig erreichbar, seine Einzeldekrete bleiben verborgen. Besonders unbegreiflich findet Dante die Ausschließung der nicht-getauften Gerechten vom Himmel. Dante betont das Unrechtmäßige daran so scharf, daß die Unbegreiflichkeit des göttlichen Beschlusses fast als dessen Mangel erscheint. Der humane und weise Vergil bleibt für immer vom Paradies ausgeschlossen, dies erzeugt einen Schmerz, den Dante dem Leser bis zum Ende nicht abnimmt. Er akzeptiert den Mangel an Rationalität und Gerechtigkeit der Erbsünden- und Gnadentheorie, läßt ihn aber bis zum Ende als Kontrast erscheinen zur Überzeugung von der Weisheit als der Tochter Gottes, die weiß, daß Gott ein Gott der vernünftigen und guten Ordnung ist.
6.
Über Aristoteles hinaus
Dante läßt sich vom Apostel Petrus bestätigen, daß er rechtgläubig ist (Par. 24). Gegen den Apostelfürsten konnte kein Christ etwas sagen. Dante hat diese höchste Bezeugung seiner Orthodoxie erfunden, weil er sie brauchte. Nicht weil er Ketzer gewesen wäre, wohl aber, weil er sich an einigen Lehrpunkten, vor allem des späten Augustin, rieb und weil er erbarmungslos die Kirche kritisierte. Es genügt nicht zu sagen, Dante habe die ganze Kirchenlehre anerkannt. Das ist richtig, aber ebenso deutlich ist sein Leiden an ihr. Freimütig entscheidet er selbständig über Ausnahmen von der strengen Gnadenordnung, er versetzt Heinrich VII. in den Himmel. Daß er Trajan ins Paradies aufnimmt, war wenig spektakulär, denn der hatte die Bestätigung durch Papst Gregor den Großen, wohl aber war es die neue Begründung, die Dante dafür gibt: Ein wenig bekannter Heide kommt in seinen Himmel, nur weil Vergil ihn ›gerecht‹ nennt; Vergil selbst allerdings nicht, was den Schmerz über den Verlust unvergeßbar macht. Daß Vergil nicht gerettet wird, hat man ›Tragik‹ mitten in der Komödie genannt. Sein ewiges Unglück zwingt die selige Beatrice, in die Hölle zu kommen und dort Tränen zu vergießen; Dante erinnert mit auffallender Bewegtheit daran. ›Tragik‹ war in Deutschland, nachdem der verlorene Weltkrieg den bürgerlichen Optimismus widerlegt hatte, eine Modekategorie der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts; vielleicht spräche man besser von einem Skandal der göttlichen Heilsordnung: Gerechte, die vom Christentum nichts gehört haben, enden in der Hölle: Ist das gerecht? Dante nimmt das nicht klaglos hin; er hat schon die Verurteilung Francescas mit Bewußtlosigkeit quittiert.
Dante wollte nicht vorhandene Standpunkte wiederholen, weder den der Kirchenlehre noch den des Aristoteles oder des Thomismus. Er hielt es für seine Pflicht, originell zu sein. Er geht, sagt er selbst, einen Weg, den vor ihm noch keiner gegangen ist. Zu Beginn der Monarchia (1, 1, 2–6), erklärt er: Ein Intellektueller, der nichts Neues und nichts Nützliches vorbringt, hat seinen Beruf verfehlt.
Er treibt mit Namensnennungen und Zitaten Ideenpolitik und zeigt an, daß er außerhalb der Schulen steht. Er nimmt die Ideenlehre Platons und die Logostheorie Augustins an; er hat für Platons Seelenlehre – die Rückkehr der Seelen in ihre Sternenheimat – eine Entschuldigung bereit, die Platon vor der Kritik von Aristotelikern bewahrt; im Paradies, dem ›himmlischen Athen‹, herrscht die Konkordanz aller Philosophenschulen, einschließlich wohl der Epikureer: in uno volere concordevolemente concorrono (Conv. 3, 14, 15). Vom Himmel aus gesehen, lösen sich die Widersprüche der Philosophen auf.
Dante geht über die Schule der Peripatetiker hinaus; er spricht als Prophet wie mancher radikale Franziskaner, hält allerdings Abstand von Ubertino da Casale, der ihm wohl zu radikal vorkam (Par. 12, 124–125).[877] Dante zitiert im Convivio mehrmals Albert von Köln, seinen Kommentar zur Meteorologie, seine Schrift über die Elemente und De intellectu et intelligibili. Von ihm nimmt er die methodische Selbständigkeit der Philosophie, die bei Albert verbunden ist mit der Kritik an den Latini insgesamt. Dantes Theorie der Sprache und der Sprachen geht, wie gezeigt, über Aristoteles’ De interpretatione hinaus.
Und doch bleibt die Präsenz des Aristoteles stark. Beatrice zitiert das 12. Buch der Metaphysik: An der Ersten Substanz hängt der Himmel und der ganze Kosmos (Par. 28, 41–42). Die Auslegung des Averroes fügte das Weltschalensystem hinzu und die Intelligenzen als Sternschalenbeweger. Dante zitiert mehrfach De anima Buch 3, auch hier mit der Auslegung des Averroes, den die Commedia (Inf. 4, 144) rühmt für den großen Kommentar. Thomas von Aquino hatte zu Beginn seiner Lehre Averroes und Dionysius Areopagita in einem Atem zitiert (In 1, Sent. 2, 1, 3 arg. 2 und 3); in seiner letzten Phase hat er von Averroes gesagt, er sei nicht der Erklärer, sondern der Verderber der aristotelischen Philosophie. Aus dem dritten Buch Über die Seele, ausgelegt durch Averroes und Albert den Großen, besonders aus dessen Schrift De intellectu et intelligibili, gewann Dante den charakteristischen Begriff des Intellekts: Der Reichtum des intellectus possibilis erschöpft sich nicht in einem Individuum, sondern realisiert seine Möglichkeit in der Menschheit als einem Ganzen. Diese aristotelisch-averroistische Theorie machte Dante zur Grundlage seiner Philosophie des Imperium (Mon. 1, 3; bes. 3, 9). Dantes Grundbegriffe, sein terminologisches Instrumentarium, sind die der peripatetischen Schule: Substanz und Akzidens, Materie und Forma, Seele und Intellekt. Aber sein intellektueller Blick geht über diese aristotelischen Elemente hinaus.
Die Commedia ist konzipiert als ethisch-politische Philosophie, zum Handeln bestimmt, nicht zur Betrachtung. Aristoteles hatte der theoria den Vorrang vor der Praxis eingeräumt. Für ihn war die Metaphysik die ›erste Philosophie‹. Nicht so für den Dichter der Commedia, jedenfalls nicht in jeder Hinsicht. Für uns, auf dieser Erde, wo das Haus Italien brennt, ist neues Handeln das Erste. Für die Seligen im Paradies behält Aristoteles recht, der vom Handeln gesagt hat, es sei gut, aber Theorie sei besser (Conv. 4, 17, 9). Hier unten braucht es Liebe, klare Zielsetzung und Aktion. Das Ziel ist der Friede, auf der Erde, jetzt hier in Italien, wo er fehlt, später in der Kontemplation im Paradies. Augustin hatte die antike Philosophie dahin zusammengefaßt, Philosophie sei Wissen vom Glück, scientia de beatitudine. Dies nimmt Dante genau: Die Philosophie zeigt die naturgemäße Glückseligkeit und bestimmt die Grundlinien der Politik, der Glaube gibt die Zielsetzung auf die ewige Seligkeit. Dichtung zielt mit ihren Fiktionen auf Ethik und Politik, auf Erneuerung des Lebens. Diese Überzeugung teilt der Verfasser des Decameron mit Dante. In der Philosophie der Poesie ging Boccaccio mit Petrarca in Dantes Richtung weiter, vor allem in den Büchern 14 und 15 seiner Genealogie der heidnischen Gottheiten, Genealogia deorum gentilium schrieb er eine Verteidigung der Wahrheit der Poesie, übrigens gegen Thomas von Aquino und fast alle Scholastiker.[878]
7.
›Gott‹
Wie fast alle Philosophen zwischen Heraklit und dem späten Schelling hat Dante über Gott nachgedacht, auch wenn er sagt, das Thema seiner Commedia sei der Mensch. Er hat immer neue Umschreibungen für das Wort ›Gott‹ gesucht. Ich stelle einige davon vor.
Wenn der Jenseitswanderer ans Ziel seiner Reise kommt, wenn er Gott sieht, nicht mit dem körperlichen Auge, sondern mit dem Geist, dann fragt sich wohl jeder Leser: Was sieht er da? Er ist überrascht: Keine der volkstümlichen Vorstellungen kommt am Ende des Paradiso vor. Gott – das ist ein Punkt von unendlicher Lichtfülle, umkreist von Lichtpunkten in größter Geschwindigkeit, von den Chören der Engel (Par. 28, 13–45). Das war Entmythologisierung um 1300, allerdings zugunsten der aristotelisch-averroistischen kosmologisch-geometrischen Mythologie. Die Kosmologie tritt ein: Alle Weltsphären ahmen durch rasch kreisende, ständige Bewegung den ruhenden Gottpunkt nach; sie verharren in ihrer Bewegung und schaffen dadurch allen Naturprozessen eine bleibende, verläßliche Basis. Allerdings hat schon ein Zeitgenosse Dantes bemerkt, er könne nicht einsehen, wieso diese rasende Kreisbewegung Ausdruck der Liebe zu Gott sein solle; wenn ein Mensch aus Liebe zu seiner Stadt ständig um sie herumrennte, würde man ihn doch für verrückt halten. Gott ist bei Dante, wie bei Aristoteles, der erste Beweger; er bewegt auf die Weise der Zielursache, wie das Geliebte, sagte Aristoteles im 12. Buch der Metaphysik. Gott ist, neoplatonisierend, die konzentrierte Fülle der idealen Normen aller Dinge; die Sternschalen drehen sich, um diese Normen sinnlich zu verwirklichen. Intelligenzen sehen das göttliche Musterbuch; sie halten die Sternschalen in geordneter Bewegung und verschaffen den Ideen äußere Wirklichkeit. Das ist die Liebe, die den Himmel bewegt und alle Sterne. Das ist ein kosmologisches Konzept von Theologie und von Liebe. Beides ist spätestens seit der Romantik kulturell ausgemustert.
Doch setzt Dante Gegengewichte zu der engen Verbindung seiner philosophischen Theologie mit der Kosmologie: Zunächst einmal durch seine Ansicht von der Ortslosigkeit Gottes. Sein Gott kennt weder ein Wo noch ein Wann, wie Beatrice im 29. canto des Paradiso erklärt. Gott ist überall und nirgends. Das kommt kosmologisch zum Ausdruck: Die Erde und alle Weltschalen sind umfangen vom ort- und zeitlosen Empyreum. Zweitens dadurch, daß sein Gott sich durch Erschaffen einen Abglanz schafft, der von sich sagen kann: Ich existiere; ich bin ein Wesen; ich habe eine gewisse Stabilität.
Die Geistwesen erschafft er direkt; sie sind ihm ähnlich, und sie finden ihn in sich vor. In ihrer Erkenntnis und Liebe schließt sich der Weltkreis: Sie kommen in sich selbst zu sich zurück, und Gott kommt in ihrer Erkenntnis zu sich zurück. Dies sind unräumliche Vorgänge. Man kann sagen, bei Dante sei das Empyreum das naturgemäße Ziel jedes geistigen Wesens, aber Dante hat dem Empyreum die Anschaulichkeit, die es früher besaß, genommen.
Dantes Gott ist ein geometrischer Punkt, unendliches Licht, das sich über das Weltall differenziert verteilt, Ziel der Weltschalen und Grund ihrer Bewegung, aber er ist auch Weisheit, die alles geordnet hat, und er ist Gerechtigkeit, die freie Taten der Menschen belohnt oder bestraft. Eine weltgeschichtliche Abrechnung, eine Weltgerichtsszene am Jüngsten Tag kennt die Commedia nicht. Die Verteilung der Sünder auf die Höllensphären hat Gott dem Minos überlassen, der jeden Sünder durch seine Schwanzbewegung gerecht plaziert. Er arbeitet im Auftrag Gottes und vollzieht dessen Willen. Die Strafen in der Hölle und im Fegefeuer nennt Dante eine Rache, vendetta, Gottes. Gott hat, wie am Höllentor geschrieben steht, das Inferno mit als erstes eingerichtet. Er ist Lichtpunkt und Ideen-Inbegriff, aber er hat sich auch auf die Menschengeschichte eingelassen – mit Vertreibung aus dem Paradies, mit der Freude an der Hinrichtung seines Sohnes, mit der Annahme dieser Wiedergutmachung der Sünde Adams. Kosmologie und Erlösungstheorie (Soteriologie) bilden zwei Aussagenreihen, die nebeneinander herlaufen. Im letzten canto sieht Dante Gott als drei gleichförmige Ringe von verschiedener Farbe, die Trinität; im mittleren Ring erscheint das Gesicht eines Menschen; Gott ist Fleisch geworden. Diese Bilder haben manchen Leser enttäuscht: Der Gott der Liebe und der Menschennähe schien ihnen in den buntgemalten geometrischen Figuren nicht recht vorzukommen. Es konnte die Meinung aufkommen, Dante habe die Commedia vorzeitig abgebrochen, und die wahre Gottesbegegnung hätte noch kommen sollen. Das zeigt nur, daß moderne Christen andere Konzepte von Gott haben und vielleicht auch vergessen, daß Gott die Menschenbestrafung den Teufeln und die Menschenzuwendung Maria, Lucia und anderen weiblichen Heiligen überläßt, so sehr, daß sie unabänderliche Dekrete abändern können. Gott schweigt in der Commedia. Auch Maria kommt nicht zu Wort.
Gott ist streng und hat die Hölle nicht umsonst eingerichtet. Er rächt die Untaten, aber Dante gefällt es, daß er weitherziger ist als die Kirchenleute (Purg. 3, 103–145). Dante wendet sich dagegen, Gottes Zorn für den eigenen zu instrumentalisieren – aber, offen gesagt, das hat er selbst im Übermaß getan. Nur Krethi und Plethi sollen das nicht dürfen. Er darf das. Seine Sendung ist abgesegnet, und er war in Himmel und Hölle.
Gott ist der Erschaffer der Welt. Aber wie hat er die Welt erschaffen? Die neuplatonischen Texte, die Dante kennen konnte – der Liber de causis und in diesem Fall besonders Avicenna –, lehrten eine vermittelte Erschaffung: Gott erschafft den ersten Geist, und der löst eine Kaskade der erschaffenden Geistwesen aus. Die höhere Stufe begründet die nächst niedere und erweist die Großzügigkeit Gottes, mächtige Zweitursachen zu begründen, die den Rest erledigen, der ohnehin nur der geringste Teil des Universums ist. Diese Lehre hatte der Bischof von Paris 1277 verboten, aber Albert hat sie gelehrt, vor allem in seiner großen Schrift De causis et processu universitatis a prima causa (Opera omnia 17, 2, Münster 1993).[879]
Dante beschreibt die Erschaffung der Welt als unmittelbare Erschaffung der Geistwesen und vermittelte Erschaffung der irdischen Dinge auf dem Weg über die Geistwesen und die von ihnen bewegten Sterne.
Diese Theorie Dantes ist eines der Argumente dafür, daß Dante kein Thomist war. Außer Aristoteles war der Einfluß des Neuplatonismus, Avicennas, des Averroes und Alberts für ihn bestimmend.
8.
Das Universum
Das Universum Dantes ist hierarchisch aufgebaut: Das zeigte schon das Zitat aus Paradiso 7, 67–72: Direkt erschaffen sind die Intelligenzen, die Sterne und die Menschenseelen. Sie bilden die in sich gestufte immaterielle Welt. Diese erzeugt die körperliche Welt unter der Mondsphäre, die sublunarische Welt, in deren Mitte die Erde liegt. Diese ist ptolemäisch gedacht. Ihre eine Hälfte, jene jenseits der Säulen des Herkules, ist vom Weltmeer bedeckt, nur der Läuterungsberg ragt dort hervor.
Die Welt insgesamt ist gut geordnet, wie Beatrice erläutert (Par. 10, 1–5):
Das erste, das unaussprechliche Gute blickte auf seinen Sohn mit der Liebe, die beide ewig hauchen, und schuf alles, was im Geist und im Raum kreist, mit solcher Ordnung, daß niemand dies sehen kann, ohne sich seiner zu freuen.
Aber die Welt ist abgestuft, und wir leben auf der untersten Etage. Von ihr darf man nicht zuviel an Harmonie erwarten. Hier kann es nicht nur Erfreuliches geben; hier spielt der Zufall eine Rolle. Nicht zufällig, sondern mit Notwendigkeit.
Die Natur schaut auf die Ideen, aber sie ist ein Künstler, dessen Hand zittert. In ihr ist der Fortuna Herrschaftsgewalt eingeräumt. Providentia und Fortuna waren zwei gegenläufige Instanzen der stoischen Philosophie; Boethius hat der Fortuna Macht zugestanden und sie damit im theistischen Denken zugelassen. Albert und Thomas kennen und anerkennen sie. Papst Gregor hatte sie ausgeschlossen. Dante legt auf ihre Herrschaft einen besonderen Akzent: Sie verteilt Macht und Reichtum auf die Völker. Sie beherrscht den unübersehbaren Geschichtslauf (Inf. 7, 70ff.), den für die Menschen erträglicher zu machen Aufgabe des Imperiums ist. Alle kosmologischen Überlegungen Dantes zielen auf die Verwirklichung des Guten, und dabei besagt die Lektion der Fortuna: Sieh, wie töricht die Menschen sind, wenn sie nach Reichtum streben. Nichts ist zufälliger als er. Die Kritik am Besitzindividualismus gibt der Figur der Fortuna eine unerwartet große Rolle. Die Sterne zeigen, was Vernunft und Ordnung ist. Sie prägen das irdische Leben; sie schaffen Dispositionen fürs Gute wie fürs Böse, ohne den freien Willen aufzuheben. Sie verteilen den Seinsvorrat des Universums; sie schaffen Vielfalt, aber hier unten überlagern sich ihre einander widerstrebenden Kräfte.
9.
Der Mensch
Der Mensch spielt im Universum eine bevorzugte Rolle. Er ist das Ziel der kreisenden Sternenschalen. Die Menschwerdung Gottes hat die menschliche Natur insgesamt geadelt; sie hat sie mit Gott verbunden. Aber schon von Natur aus hat der Mensch eine hohe Stellung. Er ist Intellekt, fast wie die Intelligenzen. Von diesen unterscheidet er sich dadurch, daß er seine Möglichkeiten noch nicht realisiert hat und daß er sie als Einzelwesen nicht realisieren kann. Die Art seines Intellekts, nicht nur sein biologisches Mängelwesen, bestimmt ihn zur Gemeinschaft. Die Intelligenzen sind ganz das, was sie sind. Sie sind in sich vollendete Gestalten als ständige Aktion. Ihr Erkennen ist ihre Substanz (Mon. 1, 3, 7). Diese Theorie der Intelligenzen als substantieller Erkenntnis ist averroistisch, albertistisch; Thomisten haben sie bekämpft, denn nur Gott sei reiner Akt. Der Mensch muß in der Menschheit seine Aktualität erst hervorbringen. Und dazu muß er sich ethisch, politisch selbst bestimmen. Dazu muß er freien Willen haben, der sich gegenüber der Macht der Sterne durchsetzt und den die göttliche Vorsehung respektiert, also nicht zwingt. Dante sah in der Willensfreiheit die höchste Auszeichnung des Menschen (Par. 5, 19–22). Er dachte, die Willensfreiheit könne dem Menschen niemand nehmen, weder ein allmächtiger Gott noch äußerer Zwang. Radikale Willensfreiheit setzt Bereitschaft zu Tod und Leiden voraus: Cato als Vorbild. Damit der Mensch sich frei entfalten kann, muß Frieden herrschen, und zwar auf der ganzen Erde, dazu braucht es die Universalherrschaft, deswegen ist das Imperium ethisch geboten. Dieser Menschheitszweck ist unabhängig von kirchlichen Sanktionen und Zielsetzungen; er entspringt der Vernunft selbst. Dies festzuhalten und zu erklären ist die politische Aufgabe der Philosophie. Das heutige Elend der Welt kommt daher, daß die Politik philosophielos getrieben wird. Die einfachen Menschen sehen, daß die Führungsfiguren nichts im Sinn haben als Macht und Reichtum; das Volk ahmt sie nach und glaubt ihren Reden nicht, wenn sie das Gemeinwohl oder den Himmel preisen. Die intellektuellen Güter werden größer, wenn sie verteilt werden, Macht und Geld dagegen dulden keine Mitbesitzer. Daher wird alles falsch, sagt Dante (Purg. 15, 40–125). Und im Sinne Dantes ruft Boccaccio aus (Dec. 7, 4, 31): »Nieder mit dem Geld! Es lebe die Liebe!« Philosophie und Dichtung lehren bei beiden, was zu erstreben und was zu vermeiden ist.