Canto 28
Dante hat das irdische Paradies betreten und sieht am Ufer des Flusses Lethe eine schöne junge Frau, die singend Blumen pflückt. Ihren Namen erfahren wir später: Matelda. Sie erklärt den Ursprung der Bewegung von Luft, das Wachstum der Bäume im Paradies und die beiden kleinen Flüsse Lethe und Eunoë. Die geahnte Wahrheit des Goldenen Zeitalters.
1 Schon hatte ich Lust, den göttlichen Wald, sein Inneres und seine Umgebung, zu erkunden; dicht und voll von Leben dämpfte er den Augen das neue Morgenlicht. Ich wartete nicht länger und verließ den Rand; langsam, langsam schlenderte ich durch die Gipfelgegend über den Boden hin, der von allen Seiten duftete. Leichter Lufthauch traf gleichmäßig meine Stirn, fächelte sie als sanfter Wind, durch den die Blätter zitterten, die alle bereit waren, sich zu der Seite zu neigen, auf die der heilige Berg den ersten Schatten wirft. Aber der Wind schüttelte die Bäume nicht zu sehr zur Seite; die Vögel in den Wipfeln hörten darum nicht auf, all ihre Kunst auszuüben; singend begrüßten sie voller Freude den Morgenwind im Laub, das ihren Liedern den Grundton gab, so wie im Pinienwald von Classe ein Rauschen aufsteigt von Ast zu Ast, wenn Aeolus den Scirocco losläßt.[443]
22 Langsame Schritte hatten mich schon so weit in den uralten Wald hineingebracht, daß ich nicht mehr sehen konnte, wo ich hineingekommen war. Und siehe, da hinderte mich am Weitergehen ein Bach, dessen kleine Wellen das Gras an seinem Ufer nach links bogen. Die reinsten Gewässer bei uns wären trüb im Vergleich zu diesem, das nichts verbirgt, obwohl es doch dunkel, dunkel im ewigen Schatten fließt, der dort keinen Strahl der Sonne oder des Mondes einläßt. Mit den Füßen blieb ich stehen, aber mit den Augen überquerte ich das Flüßchen, um die große Vielfalt frischer Blütenzweige zu betrachten. Und da erschien mir – wie etwas, das plötzlich auftaucht, so daß man vor Verwunderung nichts anderes mehr sieht – eine Frau, ganz allein, die singend dahinging und Blumen von Stengeln pflückte, mit denen der Weg übersät war. »Ach du, schöne Frau, du erwärmst dich an den Strahlen der Liebe – wenn ich dem Aussehen glauben darf, das dem Herz Zeuge zu sein pflegt –, würde es dir gefallen, näher herzukommen«, sagte ich zu ihr, »zu diesem Fluß hin, so daß ich verstehen kann, was du singst? Du erinnerst mich an Persephone, daran, wo sie war und wie es ihr erging, als ihre Mutter sie und sie den Frühling verlor.«[444]
52 Wie eine Frau, die allein tanzt, die Sohlen dicht am Boden, sich in sich selber dreht und kaum einen Fuß vor den andren setzt, so wandte sie sich über den kleinen roten und gelben Blumen mir zu, wie ein Mädchen, das seine Augen scheu senkt, und erfüllte meine Bitte. Sie kam so nahe, daß der süße Klang zusammen mit der Wortbedeutung mich erreichte. Sie trat mir dort entgegen, wo schon die Wellen des schönen Flusses die Gräser umspülen, und beschenkte mich, indem sie ihre Augen erhob. Ich glaube, nicht einmal unter den Wimpern der Venus erstrahlte ein solches Licht damals, als der Pfeil ihres Sohnes ganz gegen seinen Willen ihr Herz durchbohrte.[445]
67 Sie stand aufrecht am anderen Ufer und lachte; ihre Hände spielten mit all den Farben, die das hochgelegene Land hervorbringt, ohne daß es Samen braucht. Auf drei Schritte nur trennte uns der Fluß, aber der Hellespont, wo Xerxes übersetzte – heute noch eine Grenze für jeden menschlichen Übermut – wurde von Leander wegen der Strömung zwischen Sestos und Abydos[446] nicht mehr gehaßt als dieser Fluß von mir, weil er jetzt keinen Weg freigab.
76 »Ihr seid neu hier«, begann sie, »und wundert euch vielleicht mit Mißtrauen, warum ich lache an diesem erhabenen Ort, der der menschlichen Natur zum Nest bestimmt ist. Doch Licht gibt euch der Psalm ›Delectasti, Du hast mir Lust geschenkt‹. Er kann den Nebel von Eurem Intellekt verscheuchen.[447] Und du, du stehst da vorne und hast mich hergebeten – sag mir, ob du noch anderes hören willst, denn ich kam, alle deine Fragen zu beantworten, bis es dir genügt.«[448] »Das Fließen des Wassers und das Rauschen des Waldes«, antwortete ich, »widerstreiten einer neuen Überzeugung von mir. Was ich gehört habe, widersprach dem.«[449]
88 Darauf sie: »Ich erkläre dir den Grund für das, was dich erstaunen läßt; ich lichte den Nebel, der dich behindert.
91 Das höchste Gut, das sich allein in sich selbst gefällt, schuf den Menschen gut und zum Guten; es gab ihm diesen Ort hier als Anfang des ewigen Friedens. Wegen seiner Sünde blieb er hier nur kurze Zeit; durch seine Sünde tauschte er ehrbares Lachen und süßes Spiel gegen Weinen und Mühsal.
97 Damit die Ausdünstungen des Wassers und der Erde, die dort unten Störungen erzeugen und die, soweit sie können, mit der Wärme aufsteigen, den Menschen nicht belästigen, erhob dieser Berg sich so hoch gegen den Himmel; von der Stelle an, wo er abgeschlossen ist, ist er von alldem frei. Weil nun die gesamte Luft rings um die Erde sich dreht mit der ersten Drehung,[450] wenn nicht irgendein Hindernis ihren Kreislauf unterbrach, trifft diese Bewegung in dieser Höhe auf, die vollkommen frei in die lebendige Luft ragt, und bringt den Wald, der dicht belaubt ist, zum Rauschen. Die Pflanzen, geschüttelt, vermögen so viel; sie schwängern mit Wirkenskraft und Samen die Luft, und diese streut sie kreisend rings umher. Die Erde unten empfängt und gebiert je nach der Güte ihres Bodens und ihres Himmels verschiedene Gewächse unterschiedlicher Wirkkraft. Für den, der das gehört hat, wäre es kein Wunder, wüchse drunten eine Pflanze ohne sichtbaren Samen auf. Du sollst wissen: Das heilige Land, in dem du jetzt bist, ist voll von jeder Art Samen und bringt Früchte, die man drüben nicht pflückt.
121 Das Wasser, das du siehst, kommt nicht aus einer Ader, die der Dunst, den Kälte verdichtet, auffüllt, wie ein Fluß, der an Stärke zunimmt und abnimmt, sondern es entspringt einer reichen und gleichmäßigen Quelle, die sich nach dem Willen Gottes immer um so viel auffüllt, als sie, nach zwei Seiten offen, ausströmt. Auf dieser Seite kommt es herunter mit der Kraft, in jedem die Erinnerung an die Sünde zu löschen, auf der anderen Seite gibt es sie ihm für jede gute Tat zurück. Auf dieser Seite heißt es Lethe, drüben Eunoë, und es wirkt nur, wenn das eine wie das andere getrunken wird.[451] Jedem anderen Geschmack ist es überlegen.
134 Dein Durst könnte jetzt gestillt sein, und mehr muß ich dir nicht eröffnen, aber ich will dir noch einen Nachtrag schenken, dir zuliebe. Ich denke, mein Reden wird dir nicht minder lieb sein, wenn es über das Versprochene hinausgeht.
139 Die im Altertum vom Goldenen Zeitalter und seinem Glück dichteten, träumten wohl auf ihrem Parnaß von diesem Ort. Hier war die Wurzel der Menschheit unschuldig, hier war immer Frühling und reichliche Frucht. Dieses Wasser ist der Nektar, von dem man dichtet.«
145 Da drehte ich mich ganz um zu meinen Dichtern und sah, daß sie mit Freude die letzte Erklärung gehört hatten. Dann wandte ich das Gesicht der schönen Frau zu.