V.

Politik

1.

Vor der ›Commedia‹: ›Convivio‹

Dantes frühe Schrift, die Vita nova mit ihren Liebesgedichten, geschrieben etwa 1293/1294, enthielt schon philosophische, aber noch keine politischen Motive. Die philosophischen Themen ergaben sich allein schon aus dem Umgang Dantes mit seinem ersten Freund, mit Guido Cavalcanti, dem Dante die Schrift gewidmet hat und der als unabhängiger Philosoph in dem Ruf stand, Epikureer oder Averroist zu sein, also nicht an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, vielleicht auch Atheist zu sein. Aber die Vita nova sprach von Liebe und Kosmologie, noch nicht über Politisches. Das ändert sich in Dantes Convivio, geschrieben im Exil, wohl zwischen 1304 und etwa 1308.[880]   Er beginnt in diesen Jahren, wohl 1304 oder wenig später, das große Werk des Convivio, einer überdimensionalen Einführung in die Philosophie; er schrieb es italienisch, in Volgare, wie die Volkssprache heißt. Auf dieses umfangreiche Werk muß ich öfter noch zurückkommen und sage hier nur zusammenfassend:

Dante verteidigt den Wert der italienischen Sprache auch für hohe Themen.

Er zeigt Vernunftvertrauen, auch bezüglich der Offenbarung, nennt aber auch Grenzen von deren rationaler Erfaßbarkeit.

Er entdeckt die Idee des fortdauernden Reichs, also des Imperium Romanum.[881]  

Wohl etwas später, fast gleichzeitig, beginnt er seine lateinische Sprachabhandlung: De vulgari eloquentia. Beide Bücher schließt er nicht ab, sondern beginnt um 1306, eher 1308, mit dem Inferno, das um 1310 vollendet und 1314 publiziert wird.


Im Convivio macht Dante die Ergebnisse der Philosophie dem nicht-lateinlesenden Publikum zugänglich. Er serviert sie für alle. Wenige Jahre nach seiner Vertreibung konzipierte er diese erste große volkssprachliche Einführung in die Philosophie. Er nannte das Werk Convivio, Gastmahl, wahrscheinlich nicht in Anlehnung an Platons gleichnamiges Kunstwerk, sondern in Anspielung auf das Gastmahl, das freigiebige Fürsten zu geben pflegten. Er, der Arme, der Emigrant, gibt sich fürstlich-großzügig und lädt alle ein an den Tisch der Philosophie. Er zitiert Aristoteles, der seine Metaphysik mit dem Satz begonnen hatte: »Alle Menschen verlangen von Natur aus nach Wissen.« Dante legte in diesem berühmten Satz den Ton auf das Wort ›alle‹, er wollte die wirkliche Universalität des Wissensanspruchs: Nicht nur die Studierten, nicht nur Universitätsleute und Kleriker, sondern Hofleute und Kaufmänner, Laien und Frauen sollten mit Hilfe der Philosophie ein neues Selbstbewußtsein fassen. Sie sollten im Sinne der antiken Philosophie ihr Leben selbst gestalten; sie sollten die Bestimmung des Menschen zum Glück selbständig realisieren. Deswegen schrieb er italienisch, nicht mehr lateinisch. Er sprach zu Nichtstudierten von Philosophie, aber nicht rein ›objektiv‹, wie die Universitätsgelehrten, sondern er sprach dabei von sich selbst, von seinem doppelten Unglück und von seiner Bekehrung – weg von der Liebeslyrik, hin zur Philosophie. Im ersten Buch behandelte er die neue Erfahrung des Aufstiegs der Volkssprache und des Rückgangs des Lateinischen. Im vierten Buch diskutierte er, worin der Adel bestehe. Diese Frage war in Florenz von besonderer Aktualität: Die Kommune hatte in den sog. Ordinamenti di giustizia beschlossen, Adlige könnten sich nur dann an der Stadtpolitik beteiligen, wenn sie sich einer der Zünfte einschreiben. Dante ließ sich bei den Ärzten und Apothekern eintragen. Die kaiserlich garantierten Adelsprivilegien waren außer Kraft gesetzt. Die Vorstellung vom Adel als einer besseren Sorte von Menschen nannte Dante den schlimmsten Irrtum der Welt, pessima confusione del mondo (Conv. 4, 1, 7).

Im Convivio gab er seiner Darstellung der Wahrheit und damit seiner Ethik und Gesellschaftskritik eine eigenwillige Form: Er kommentierte seine eigenen früheren Gedichte. Kommentare zu verfassen, das war eine anerkannte literarische Form; aber sich selbst zu kommentieren, das war neu und anmaßend.[882]   Dante hatte zwar Philosophie studiert, aber er war kein Professor; er hatte kein Amt; er war keine Autorität; er mußte sich an Höfen und in Städten sein Publikum erst schaffen. Deshalb entwarf er das Riesenprojekt seines Convivio: Das einleitende Buch erklärt seinen Plan und wirbt für das Ungewöhnliche seiner Schriftstellerei, die übrigen Bücher kommentieren jeweils ein eigenes früheres Liebesgedicht Dantes. Insgesamt sollten es 14 Bücher werden: eine subjektiv gewendete und individuell anwendbare Enzyklopädie des philosophischen Wissens. Astronomie und Ethik, Physik, Metaphysik und Politik fließen in ihr zusammen. Das Projekt blieb unvollendet. Es war zu groß und zu originell; es war wohl auch für eine Einführung zu kompliziert; Dante brach es ab.

Warum ließ er es unfertig liegen? Hatte er begriffen, daß ein Buch für Laien sich noch viel weiter von den scholastischen Kommentarformen entfernen mußte? Mußte er es für Frauen und Laien nicht noch ›subjektiver‹, freier und anschaulicher schreiben? Vermutlich entschloß er sich deswegen zur Göttlichen Komödie.

Mit dem Convivio versprach der Emigrant, auch Laien und Frauen die Philosophie zugänglich zu machen. Denen, die im Finstern sitzen, soll ein Licht aufgehen (Conv. 1, 13, 12). Er mischt autobiographische Elemente ein; er schlägt einen persönlichen Ton an. Er schreibt keine gewöhnliche Enzyklopädie, sondern gibt eine auch persönliche Rechenschaft und Selbstverteidigung. Er verteidigt seinen Gebrauch des Italienischen. Manches klingt, als wolle er sich gegen den Vorwurf wehren, er sei Beatrice nach ihrem Tod untreu geworden (1, 2, 15–16). Das war so gut wie sicher der Fall. Er will klarstellen, wer die donna gentile, die vornehme Dame, war, der er sich zugewandt hatte und von der am Ende der Vita nova die Rede war. Es sei die Dame Philosophie, die er in überschwenglichen Reden preist, in der Tonart, in der er das Lob Beatrices singt. Er erzählt, daß er mit der theoretischen Frage, ob Gott die erste, die formlose Materie intendiert habe, nicht weitergekommen sei (4, 1, 8), und da habe er sich ethischen Fragen zugewandt. Vor allem der Frage, was ›vornehm‹, ›edel‹ oder ›adlig‹ sei. Hierüber fand er die Ansicht fast aller falsch; hier herrsche schreckliche Verwirrung (4, 1, 7).

Damit betritt Dante das gesellschaftlich-politische Feld. Aber er tut es als Philosoph. Für das intellektuelle Profil Dantes ist bezeichnend: Zwei seiner ausdrücklich philosophisch-politischen Bücher, nämlich das Convivio und die Monarchia, also seine beiden philosophischen Hauptwerke, beginnen mit dem aristotelischen Grundsatz, der Mensch verlange von Natur aus nach Wissen. Das steht im Convivio 1, 1, 1 und in der Monarchia 1, 3–4, auch im Purgatorio 21, 1–3. Dante nennt damit die Grundlage oder das Prinzip sowohl seiner theoretischen wie der politischen Philosophie: Das Wissenwollen ist unsere Natur; es beruht nicht auf dem willkürlichen Beschluß Einzelner, ein intellektuelles Leben zu führen. Wissen ist die äußerste Vollkommenheit unserer Seele, ist unser letztes Glück, la nostra ultima felicitade. Aber, fährt Dante im Convivio fort, wir sehen, daß viele Menschen dieses Ziel nicht erreichen. Was hindert viele Menschen daran, ihre eigentliche Natur zu verwirklichen? Die Ursachen seien verschieden: teils sei es körperlicher Mangel, wie z.B. Blindheit, teils ein seelischer, wenn z.B. die Seele so verkehrt ist, daß sie sich auf die falschen Freuden wirft und die Erkenntnis für so gering hält, daß sie nicht danach verlangt.

Es gibt auch Gründe, die mehr von außen kommen: Viele Menschen müssen sich um ihre Familie und ihre Stadt kümmern; ihnen fehlt zum Studium die Muße. Andere Menschen wohnen so fern von den Stätten gelehrter Studien und finden niemanden, der ihre Erkenntnisanstrengung fördert. Andere Menschen sind zu träge. Sie sind zu tadeln, aber mit den von Notwendigkeit Bedrängten muß man Mitleid haben. Dante will etwas für sie tun. O, wie glücklich sind die Wenigen, die an dem Tisch sitzen, wo man das Brot der Engel ißt! Und wie unglücklich die, die von derselben Nahrung leben wie die Tiere! Und deswegen bietet er sein ›Gastmahl‹ (Convivio) an. Es ist für Laien und Frauen bestimmt, um ihnen das Brot der Engel anzubieten, worunter Dante hier nicht – wie es zeitgenössischem Sprachgebrauch entspräche – die Eucharistie, sondern die Philosophie versteht. Die ›Philosophie‹, das bedeutete bei Dante, wie beschrieben, zwar nicht ausschließlich, aber doch vor allem: Aristoteles, kommentiert von Averroes, Albert und Thomas. Besonderes Interesse galt der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Denn entgegen der korrekt-aristotelischen Schulphilosophie erklärt Dante die praktische Philosophie, also Ethik und Politik, in dem Sinne zur ›Ersten Philosophie‹, daß nur Menschen mit guten ethischen Dispositionen höhere Einsichten schätzen und erstreben. Außerdem fordert das Elend Italiens Handeln, nicht Kontemplation. Zu Dantes Aufwertung der philosophischen Ethik paßt, daß er unter den philosophischen Schriftstellern Cicero, Seneca und Boethius besonders häufig zitiert.

Die Frage, was edel oder adlig sei, führt zur Theorie der Politik und des Kaisertums. Sie füllen das vierte Buch des Convivio. Dante fragt, worin wahrer Adel (nobilitade) bestehe, und setzt den Begriff der ›wahren‹ Vornehmheit ab gegen feudale und populäre Vorstellungen vom Adel als Blutadel mit altererbtem Besitz. Er zitiert dazu die Definition, die Kaiser Friedrich II. vom Adel gegeben haben soll: Adel sei Alter Reichtum und schöne Sitten. Antica richezza e belli costumi (Conv. 4, 3, 6). Diese Definition setzte den Adel ab gegen den Neureichtum der Kaufleute; sie verband ›Adel‹ mit ererbtem Grundbesitz und höfisch-korrektem Benehmen. Dante kritisiert lange diese falsche Ansicht (4, 3–15), um dann zu sagen, was wirkliche Vornehmheit sei (4, 16–29). ›Edel‹ ist die gut disponierte Seele. Adel muß in der intellektuellen Natur des Menschen selbst liegen; er kommt nicht von außen. Er ist das Glück, das der Seele eigen ist, wenn sie richtig lebt. Die Untersuchung endet damit, daß sie erörtert, wie sich diese Glückseligkeit in den vier Lebensabschnitten verschieden darstellt.

Aber zuvor nutzt Dante die Tatsache, daß die falsche Definition des Adels von Kaiser Friedrich II. stammte, zu der Frage aus, ob es einem Kaiser überhaupt zukomme, solche Definitionen festzusetzen. Und wie soll sich verhalten, wer eine andere Definition für besser hält? Dante kämpft sonst dafür, dem Kaiser zu gehorchen, aber müssen wir ihm in theoretischen Fragen Gehorsam leisten? Was ist die Aufgabe eines Kaisers? Dante erörtert diese Frage der politischen Philosophie in den Kapiteln 4 und 5 des vierten Buchs und trägt seine These vor, die Menschheit als ganze brauche einen einzigen Kaiser, einen Weltmonarchen. Nur er könne den Frieden sichern. Das Wort ›Monarch‹ hat bei Dante universalen Charakter; ein bloß nationaler oder regionaler Herrscher ist in Dantes Sinn kein Monarch. Bei ihm ist Monarch nur, wer als Herr über alles für sich selbst nichts erstrebt und den Weltfrieden sichert. Dante denkt ihn als uneigennützigen Schiedsrichter aller Konflikte. Der Weltkaiser gibt die Gesetze, und alle einzelnen Gesetze und politischen Regeln erhalten von ihm die Autorität.

In der geschichtlichen Welt von 1300 gab es ein solches Kaisertum nicht. Damit seine Kaiseridee nicht bloße Abstraktion blieb, mußte Dante zumindest zwei Schritte tun. Er mußte sie erstens geographisch verorten, und zwar nach Rom. Die friedenstiftende Weltregierung gehört nach Rom. Dante hat inzwischen das Römische Imperium als providentielle Idee entdeckt, wahrscheinlich bei der Lektüre Vergils. Gott hat das Römische Reich als Friedensreich gewollt. Er wollte das Kaisertum des Augustus als die beste Vorbereitung für die Menschwerdung Gottes. Zweitens mußte Dante das Römische Imperium gegen die Herabsetzung verteidigen, die es in einigen Texten Augustins erfuhr und die Aegidius Romanus 1301/1302 als Zuarbeit für Bonifaz VIII. erneuert hatte.[883]   Augustin behauptete, das Römische Reich verdiene nicht einmal den Titel ›civitas‹, denn diesem ›Staat‹ habe die Gerechtigkeit gefehlt, die nach Cicero Bedingung jeder civitas sei. Und die Gerechtigkeit habe Rom gefehlt, weil in ihm nicht der wahre Gott verehrt worden sei. Das Römische Reich beruhte nicht auf dem wahren Kult des einzig wahren Gottes. Dante setzt Augustins ethischer Entleerung des Imperiums dessen Friedensaufgabe entgegen. Vor allem braucht das zerrissene Italien einen starken Kaiser; er soll als Reiter das wilde Pferd Italia bändigen. Das Elend Italiens, die eigene Erfahrung der misera Italia (4, 9, 10), ist der konkrete Ausgangspunkt der politischen Theorie Dantes.

Aristoteles hatte ihn belehrt, der Mensch sei von Natur aus ein polisbezogenes, ein politisches Wesen, (4, 4, 5–6). Der Mensch könne sein Ziel nicht allein organisieren. Er brauche eine funktionierende, gegliederte Gemeinschaft. Diese ist nicht nur Mittel zum Zweck, sondern sie hat, da in der Natur begründet, ihr eigenes Recht. Im vierten Buch des Convivio kommen zusammen: Die Verteidigung des naturhaften, also auch göttlichen Charakters des Gemeinwesens, die Theorie der Universalmonarchie, deren Bindung an Rom, deren göttliche Bestimmung, wie sie die Aeneis des Vergil beschreibt. Nach Dantes geschichtstheoretischem Entwurf wollte Gott das Friedensreich des Augustus, weil er das Christentum wollte; daher will er, daß Kaiser und aristotelische Philosophie zusammenstimmen. Dies läßt sich aus Vergil entnehmen, aber, klagt Dante, das wurde über 1000 Jahre lang nicht gehört (Inf. 1, 63).

Der Kaiser braucht die Philosophie. Konkret: er braucht Aristoteles. Dabei ist in erster Linie an die Ethik des Aristoteles zu denken. Aristoteles, der Meister der Vernunft (4,6, 8), hat die praktische Philosophie vollendet (4, 6, 16). Er ist die höchste intellektuelle Autorität, wie der Kaiser die höchste politische ist. Beide gehören zusammen, nicht als Philosophenkönigtum, sondern indem die Ethik des Aristoteles dem Kaiser erklärt, was das richtige Leben ist, zu dem er die Menschen führen soll. Dantes ›Staat‹ ist ein ›ethischer Staat‹.

Dante hat das vierte Buch des Convivio, also seinen ersten politischen Traktat, besonders hervorgehoben. Für uns ist er so etwas wie die Einleitung Dantes zum ersten Teil der Commedia. Mit Buch 4 brach er das Werk ab und ging zur Commedia über. Jetzt hatte er wichtige Elemente des Inferno zusammen: Die Rettungsbedürftigkeit Italiens, die auf Rom konzentrierte Kaiseridee, die Führung durch Vergil, die Verbindung der Kaiserfunktion mit der Philosophie, vor allem mit Aristoteles, Cicero, Seneca, Boethius. Nicht als baue die Commedia nur aus, was in Convivio 4 erreicht war. Sie trieb weiter vor, zum Beispiel in der Frage des Glücks. Sie kritisierte auch die Position von Convivio 4; sie ließ sie hinter sich.

Auch von seinen früheren Werken setzte Dante das vierte Buch deutlich ab, indem er eingangs erklärte, jetzt sei nicht mehr der süße Ton von Liebesgedichten gefragt, sondern ernste und subtile Argumentation. Das vierte Buch nimmt eine Sonderstellung ein; es ist auch deutlich umfangreicher als die drei ersten. Die politiktheoretische Position Dantes in Convivio 4 ist neu, aber die theoretische Position Dantes, also seine Metaphysik des vierten Buchs, sollte man nicht zu scharf absetzen vom dritten Buch und seinem Lob der Philosophie, vor allem in 3, 8. Ich sehe in dieser Hinsicht keinen auffälligen Wandel zwischen Convivio 3, 15 und 4, 22.[884]   An beiden Stellen zieht Dante Folgerungen aus seinem Grundsatz, der Mensch verlange von Natur aus nach Wissen. Er zieht unterschiedliche Folgerungen. Dabei geht es um Grundlinien seiner Philosophie. Teilweise steht die theoretische Position Dantes in der Commedia in Frage. Daher gehe ich auf diese Texte ein wenig näher ein:

Im ersten dieser Texte (3, 15, 6–10) erklärt Dante: Was das naturhafte Verlangen konkret, also im einzelnen Menschen, zu wissen anstrebt, hängt von dem Menschen ab, der erstrebt. Man darf dabei nicht nur an die Gegenstände denken, die zu wissen Menschen verlangen. Sondern individuelle Fassungskraft, Zustände und Interessen geben individuelle Grenzen vor. Es gibt auch objektive Schranken: Gott und die ewigen Dinge, auch die erste Materie überragen unsere Fassungskraft. Nicht, als könnten wir uns ihrer Erkenntnis gar nicht nähern. Dante bestreitet nicht die philosophische Erkennbarkeit Gottes und der ersten Materie. Negierend können wir etwas über sie sagen, negando (4, 15, 6). Wir erfassen diese schwierigen Inhalte aus dem, was sie bewirken, nicht in dem, was sie an sich sind. Naturhaftes Verlangen kann nicht umsonst sein, sonst wäre die Welt nicht vernünftig geordnet. Aber das ›naturhafte Verlangen‹ zum Wissen stößt an Grenzen sowohl durch die Besonderheit einiger Inhalte (Gott, prima materia) als auch durch individuelle Bedingungen. Das naturhafte Wissensbegehren ist nicht in allen Personen dasselbe und muß sich bei bestimmten Inhalten mit negativem Vorgehen begnügen. Dante sagt nicht, wir sollten unsere Erkenntnis auf Sichtbares beschränken. Er sagt, auch begrenzte Erkenntnis könne das naturhafte Glück des Menschen sein. Ihm fehle nichts an Vollkommenheit, wenn wir ›Vollkommenheit‹ nach seiner menschlichen Natur und seinen individuellen Bedingungen bemessen (4, 15, 8).

Das 22. Kapitel des vierten Buches erklärt, was die wahre Ansicht des Aristoteles und der Peripatetiker über unser endgültiges Glück ist. Glück sei das Zur-Ruhe-Kommen an unserem Ziel (4, 22, 4). Es geht um Philosophie, nicht um Theologie, wenn auch hier die Philosophie unserem Glauben hilft, wie es schon 3, 8, 20 hieß. Zuvor hatte Dante die Lehre Epikurs erwähnt, aber sie trage hier nichts zur Sache bei. Die peripatetische Lehre sei: Die menschliche Natur ist vielfältig; der Mensch verändert durch freie Selbstgestaltung das, was für ihn das naturhaft Erstrebte ist. Mit fortschreitender Entwicklung treten immer mehr Unterschiede hervor. Was wir am meisten lieben und was uns am meisten freut, das ist unsere Seligkeit (4, 22, 9). Menschen machen von ihrer Seele einen je verschiedenen Gebrauch. Sie setzen ihr Ziele und verändern sie dadurch. Wählen sie das ethisch-praktische Leben, üben sie sich in den klassischen Tugenden der Klugheit, Maßhaltung, Tapferkeit und Gerechtigkeit. Wählen sie das theoretische Leben, zielen sie nicht auf äußeres Wirken ab, sondern auf die Betrachtung der Werke Gottes und der Natur, considerare l’opere di Dio e de la natura (4, 22, 11). Dann ist das Ziel die philosophische Erkenntnis der Werke Gottes, nicht Gottes, wie er in sich selbst ist, sondern wie er in der Natur und mit der Natur wirkt. Und das ist unsere höchste Bestimmung hier auf der Erde, nostra beatitudine e nostra felicitade (4, 22, 11). In beiden Lebensformen geht es um Glück, um das unvollkommene Glück im aktiven Leben gemäß den ethischen Tugenden und im kontemplativen Leben um das quasi-perfekte Glück gemäß den intellektuellen Tugenden. Und beide Formen menschlicher Tätigkeit sind Wege, und zwar sehr direkte Wege, zu jener höchsten Seligkeit, die es auf Erden nicht gibt (4, 22, 18).

Unser naturhaftes Wissensverlangen ist gestaltbar. Wir formen es im aktiven wie im kontemplativen Leben. Beides sind menschliche Operationen. Sie haben in sich Zielcharakter und sind gleichwohl Wege zur vollkommensten, zur jenseitigen Seligkeit.

2.

Politisches in der ›Commedia‹. Überblick

Die Commedia ist von der ersten Zeile an bis zum Schluß ein politisches Buch.[885]   Da ich darauf ständig hingewiesen habe – möglichst ohne darüber den theoretischen, den philosophisch-theologischen und vor allem den poetischen Charakter der Dichtung zu verdecken –, wiederhole ich das hier nicht, sondern beschränke mich darauf, die wichtigen Stellen zu verzeichnen und ihren Inhalt stichwortartig zu nennen. Die folgenden Zeilen haben nur den Charakter einer Studienhilfe. Sie widerlegen wie nebenbei die Tendenz, die Commedia zu entpolitisieren.

Inferno

1 Die Lebenskrise Dantes ist auch die Krise Italiens. Alles menschliche Leben wird bedroht durch drei Tiere, Allegorien der Gier in dreifacher Form. Aber Vergil tritt als Retter auf (1, 61). Er beschreibt die Maßlosigkeit des Habenwollens: die Wölfin hat nach dem Fressen mehr Hunger als vorher. Er sagt Rettung für Italien voraus (1, 101). Der Jagdhund kommt, veltro verrà.
4  Erste Unterredung über die Gründe der Dekadenz von Florenz.
7  Hier wird Habgier bestraft. Die Macht der Fortuna im öffentlichen wie im Privatleben. Menschen sind gegen sie ohnmächtig. Sie verteilt unvorsehbar Macht und Reichtum über die Völker. Sie wechselt die mächtigen Familien aus (7, 61–97).
10  Der Politiker und Heerführer Farinata bespricht die Bürgerkriege in Florenz. Ihm ist die politische Lage von Florenz wichtiger als seine Leiden im glühenden Steinsarg.
11  Vergil erklärt die Kriterien der Bestrafung, auch die der politischen Verbrechen nach der Nikomachischen Ethik des Aristoteles.
12, 22–129  Die Rolle des Neids im politischen Leben. Das Beispiel des Petrus de Vinea, des Kanzlers Friedrichs  II.
26, 1–12  Dante kritisiert Florenz und sagt der Stadt Unglück voraus.
32, 124 33, 84  Ugolino zeigt, wie Menschen einander auffressen. Er, der ewig bestrafte Verräter, bewahrt seine Rolle als Vater.
34  In der tiefsten Hölle die großen Verräter an Jesus und Caesar: Judas und Brutus.

Purgatorio

1 und 2 virtus und Freiheit: Der Heide und Selbstmörder Cato hat die Aufsicht im Purgatorio. Er ist das Bild römischer Rechtlichkeit und anerkannter heidnischer Tugend. Vergil stellt ihm Dante vor als einen, der Freiheit sucht: libertà va cercando(2, 71).
6, 58–114  Der Mantovaner Sordello. Kritik am Unfrieden Italiens. Appell an den Kaiser, Italien zu befrieden.
7  Im Tal der Fürsten. Kritik an der Politik in Europa.
11  Drei hochmütige alte Bekannte: Ein Adliger, ein Künstler, ein Politiker.
14, 1–66  Geographisch-politische Heimatkunde: Der ethisch-politische Verfall im Arnotal.
15, 40–81  Das wahre Gute und der irdische Streit um partikulare Güter.
16, 52–114  Der freie Wille, der Einfluß der Sterne. Der Grund der irdischen Unordnung liegt in der Korruption der politischen Führung. Das Gesetz als Zügel notwendig. Es braucht einen König, der wenigstens von weitem auf die wahre Stadt blickt.
17, 88–139  Das Wesen der Liebe. Die Struktur des Purgatorio.
18, 13–75  Theorie der Liebe und des freien Willens.
27, 20–142  Vergil verläßt Dante. Er verleiht ihm Krone und Mitra, spricht ihn frei von jeder Autorität (27, 142).
32  Kritik an der Korruption der Kirche: Der Wagen der Kirche von Christus verlassen, vom Monster okkupiert.
33  Beatrice sagt Rettung voraus. Sie prophezeit einen DVX (27, 43).

Paradiso

1  Gott ist sichtbar in der Welt. In allem, mehr oder weniger. Daher die Teleologie des Universums. – Dante erklärt seine Theologie. Sie ist nicht die Suche nach Verfehlungen, sondern das poetisch-philosophische Übersteigen des Moralismus. Sie ist Poesie, die ihre Objektivität gewinnt, indem sie die Präsenz des Ersten Guten überall, auch in den verworfensten Untätern der Politik, zeigt.
5, 1–25 , bes. 19–24  Willensfreiheit als höchste menschliche Auszeichnung. Freiheit ist möglich durch Todesbereitschaft, selbst bei äußerem Zwang.
6  Die historische und bleibende politische Bedeutung des Römischen Reichs. Justinian erklärt die römische Rechtsidee und Geschichte.
8  Der Freund Carlo Martello (Napoli) erörtert die Sozialität der menschlichen Natur und den Einfluß der Sterne.
9, 11–66  Cunizza im Venushimmel. Sie hatte viele Männer und bereut nichts. Sie ist die Schwester eines Tyrannen der östlichen Poebene und beschreibt das dortige Elend. Der Kaiser fehlt.
9, 112–142 Die Prostituierte Rahab im Himmel. Verfluchung von Florenz. Geldgier des Klerus.
13 Thomas von Aquino erklärt die Weisheit Salomos als die eines Regenten im Unterschied zum Wissen Adams und Christi. Politik bildet eine eigene Sphäre, auch der Einsicht.
15, 97  Dante trifft seinen Ahnherrn Cacciaguida. Dieser beschreibt das maßhaltende alte Florenz: Fiorenza dentro della cerchia antiqua. Er schildert den Verfall durch Habgier und Geldwirtschaft.
17  Cacciaguida sagt Dantes Schicksal voraus, das bleibende Exil. Er bestärkt ihn, die Commedia zu schreiben und den Verfall schonungslos auszusprechen.
19 und 20  Die als Adler geformte Gruppe der Seligen verdammt ungerechte Herrscher. Einzelne gute heidnische Herrscher werden gerettet. Zum Beispiel Trajan.
22 Der Kosmonautenblick zeigt die Kleinheit der umstrittenen irdischen Güter, also die Unvernünftigkeit der Kriege.
25, 1–13  Dantes Hoffnung, mit dem sacro poema nach Florenz zurückzukehren.
27, 1–135  Petrus kritisiert Päpste.
33 Finale Dante im Empyreum, sieht den Gottespunkt, muß aber zurück, um die Commedia zu schreiben.

Diese schematische Übersicht zeigt, wie politische Philosophie seine Dichtung durchdringt. Sie macht plausibel, daß er seine Commedia als Werk der praktischen Philosophie bezeichnen konnte. Diese Zuordnung nimmt er am ausdrücklichsten in seinem 13. Brief vor. Dessen Authentizität ist umstritten. Deswegen und wegen seiner Bedeutung für den Zusammenfall von Philosophie, Poesie und Politik gehe ich jetzt auf dieses Dokument näher ein.

3.

Der Brief an Cangrande von Verona

Cangrande, der Herr von Verona, war Vikar des Kaisers. Dante lebte von 1312 bis 1318 an seinem Hof. Er hat dort 1314 mit dem Paradiso begonnen. Er schickte die ersten canti an den Freund und erklärte bei dieser Gelegenheit die Intention der Commedia und insbesondere des Paradiso. Er zählt die Commedia zur Philosophie, und zwar zur praktischen Philosophie, zur Ethik-Politik. Sie führt zur actio, nicht zur contemplatio. Der Brief dürfte 1315 geschrieben sein, eventuell ein paar Jahre später. Er legt die Commedia aus im Hinblick auf den Vorrang der praktischen Philosophie vor Metaphysik und Kosmologie. Die werden deswegen nicht unwichtig, sondern behalten einen Primat anderer Ordnung. Der Bericht von der Jenseitsreise Dantes ist eine ›wahre Lüge‹; er ist die auf Verbesserung des irdischen Lebens angelegte Analyse der irdischen Welt. Ihr Buchstabe sagt etwas anderes. Er redet vom Schicksal der Seelen im Jenseits nach dem Tod. Aber er intendiert etwas anderes (allo), nämlich die Praxis ethisch-politischer Neuordnung. Um das verständlich zu machen, erörtert Dante die Unterscheidung von Literalsinn und Allegorie. Es gibt die wörtliche Auslegung eines Textes, und es gibt den dreifachen allegorischen Sinn, der das andere (allo) aufdeckt, das gemeint ist. Dante zeigt sich wenig an Einzelformen der Allegorie interessiert. Die Hauptsache ist ihm: Die allegorische Rede sagt etwas anderes, als was sie meint.[886]   Sie sagt Hölle, Reinigungsberg und Himmel, aber sie meint Politik. Ich habe mich auf diese ausführliche Selbstauslegung Dantes im Vorausgehenden mehrfach gestützt, möchte aber nicht verschweigen, daß große Dante-Forscher diesen Brief für teilweise oder ganz unecht halten. Dann verlöre er nicht jeden Wert; er bliebe ein Dokument früher politischer Dante-Deutung, aber damit fiele eine wichtige, nicht die einzige Stütze der politischen Interpretation der Commedia weg. Ich selbst neige nach langen Diskussionen dazu, ihn vollständig für das Werk Dantes zu halten, aber jemand könnte einwenden, diese Ansicht sei nur die Folge meiner Herkunft aus der Schule der großen florentinischen Dante-Forscher: Francesco Mazzoni, Eugenio Garin und Cesare Vasoli. Daher möchte ich auf die Frage etwas näher argumentierend eingehen.[887]  


Der Brief an Cangrande hat eine auffällige Form: Er ist der längste von allen Dante-Briefen und zeigt eine ungewöhnliche Gliederung:

Die §§ 1–13 sind in kunstvoller Briefform nach dem mittelalterlichen Regelsystem, dem sog. cursus verfaßt,

die §§ 14–90 ohne die gehobene Briefform, ohne cursus, sind ein Einleitungsschreiben im eher akademischen Stil.

Die inhaltliche Gliederung sieht so aus:

§§ 1–4: Widmung an Cangrande. Dante kommentiert den Brief.

§§ 5–16: erklären die Commedia nach Gegenstand (subiectum), Form, Titel, Autor, Zweck. Sie heben hervor, die Commedia sei ein Werk der praktischen Philosophie.

Die §§ 17–33 erklären das Paradiso.[888]  


Der Brief hebt hervor: Das Werk ist vielsinnig. Man muß bei ihm wörtliche Bedeutung, den Literalsinn, unterscheiden von Allegorie. ›Allegorie‹ heißt: Es wird etwas anderes gesagt, als gemeint ist. Allegorie ist sensus moralis, also der ethisch-politische Sinn (§ 20).

Das heißt für die Commedia:

Ihr wörtlicher Sinn ist die Jenseitsszenerie. Sie handelt, wörtlich genommen, vom Zustand der Seelen nach dem Tod. Aber was damit gemeint ist, ist die Lebensordnung des Menschen, die er mit seinem freien Willen erreicht oder verfehlt, wodurch er Strafe und Lohn verdient.[889]   Die Commedia handelt nicht von der Person Dantes allein. Das Subjekt der Commedia ist der Mensch, jeder Mensch, ganz allgemein. Der Mensch, sofern er frei ist.

Dante nimmt hier ›allegorisch‹ für ›ethisch‹, im Sinn der Nikomachischen Ethik. Die angezielte Realität ist das irdische Leben. Es soll verbessert werden.[890]   Das Ziel der Commedia ist ethisch-praktisch: Sie leitet an, die Menschen in diesem Leben (in hac vita) aus dem Zustand des Elends heraus zur Glückseligkeit zu führen.

Dante erklärt sodann, warum sein Werk comedia heißt: Er nennt dafür § 28; §§ 30–31 zwei Gründe. Zunächst sei es ihr Inhalt: Sie habe einen traurigen Anfang, aber ein glückliches Ende. Zweitens sei es ihr schlichter Sprachstil. Sie ist nicht in lateinischer Sprache geschrieben. Sie tritt in ihrer Diktion zurückhaltend und demütig auf, remisse et humiliter (§§ 30–31).

Speziell zum Paradiso geht Dante auf folgende Punkte ein:

  1. Er erklärt die Anrufung des heidnischen Gottes, die invocatio Apollos am Anfang (Par. 1, 13–33): Sie sei Dank für die Gabe der Poesie, deren Sprechweise dem gewöhnlichen Reden der Menschen entgegengesetzt sei, contra communem modum hominum (§ 47). Sie ist Gabe höherer Geistwesen, der substantiae superiores. Dante deutet die antiken Götter als Intelligenzen im Sinn der arabischen Philosophie.
  2. Dante verteidigt seine Sätze über das Versagen der Erinnerung an das im Himmel Gesehene, auch durch Verweis auf mystische Texte: § 51; §§ 77–84.
  3. Grundlegend für die Konzeption sei die abgestufte Anwesenheit Gottes. Gottes Licht strahlt in allem, mehr oder weniger, denn alles Sein fließt aus dem Einen. Dafür verweist Dante auf das zweite Buch der Metaphysik des Aristoteles und auf den Liber de causis: §§ 53–57. Er will beweisen, daß alles aus dem Intellekt Gottes stammt: §§ 58–62. Auch im Inferno ist ER: § 62.
  4. Dante bestätigt seine Erklärung des Empyreum. Es ist kein materieller Weltmantel, sondern geistige Glut, also Liebe (§ 68): non quod in eo sit ignis vel ardor materialis, sed spiritualis, quod est amor sanctus et caritas.

Der Brief weist Ungleichmäßigkeiten auf. Er besteht aus drei verschiedenen Teilen. Hat Dante oder hat ein anderer etwas angehängt? Dies hat Zweifel an der Echtheit genährt. Francesco Mazzoni und andere haben die Echtheit plausibel gemacht, auch Thomas Ricklin. Heute gilt er weithin als echt. Seit 2003 steht fest, daß er bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zitiert worden ist.[891]   Damit könnte die Echtheitsdebatte entschieden sein. Dann ist der Brief das wichtigste Dokument der Selbstinterpretation Dantes: Es gehe nicht um Kontemplation, sondern um Aktion zur Rettung der Menschheit. Vom individuellen Zustand Dantes ist nicht die Rede, auch nicht vom Elend Italiens. Im vorliegenden Buch habe ich den 13. Brief mit einer gewissen Vorsicht benutzt, nie als einzige Begründung einer Interpretation, sondern nur zur weiteren Stütze einer durch andere Texte bewiesenen Auslegung. Ich wollte damit laufende Diskussionen respektieren.

4.

Dantes ›Monarchia‹

Die Datierung ist bei jedem Text wichtig, aber hier hat sie außergewöhnliche inhaltliche Folgen. Bruno Nardi war überzeugt, die Monarchia sei 1306 geschrieben, nach dem Abbruch des Convivio. Er betrachtete sie als den Höhepunkt von Dantes philosophischer Orientierung; sie stehe noch eng bei Aristoteles–Averroes–Albert. Diese Nähe zur antiken und arabischen professionellen Philosophie habe Dante aber ab etwa 1307 verlassen zugunsten mehr theologischer Themen und Ansichten. Nardi betonte den Kontrast zwischen der profanen politischen Philosophie der Monarchia und der theologisierenden Commedia.[892]  

Neuere Forscher datieren nun aber die Monarchia um 10 Jahre später, etwa auf 1317. Dann hätte Dante ihretwegen die Arbeit am Paradiso unterbrochen. Dann bliebe er bis zuletzt strenger Aristoteliker. Dann bestimmte er bis zuletzt die Rolle des Reichs und sein Verhältnis zur Papstkirche nach philosophisch-rationalen Prinzipien. Dann intervenierte Dante auch nach dem Tod Heinrichs VII. († 1313) für eine philosophisch beratene Weltmonarchie.

Ein weiterer Vorschlag datiert auf 1312. Dann wäre das Buch wohl geschrieben zur Unterstützung der Italienfahrt von Kaiser Heinrich VII. Dann verteidigt er den Kaiser gegen Kritik, was er zu Beginn des zweiten Buchs tatsächlich tut.

Wer die Monarchia auf etwa 1317 datiert, begründet das damit, daß Dante in der Monarchia zurückverweist auf canto 5 des Paradiso. Wer früh datiert – sei’s 1306/07, sei’s 1311/12 –, muß Dantes Rückverweis in Monarchia 1, 12, 6 für einen späteren Zusatz im Text erklären. Die Manuskripte bestätigen diese Hypothese nicht. Da das Paradiso nicht vor 1314 begonnen ist, datiert heute die Mehrheit der Dante-Forscher die Monarchia auf die Zeit um 1317. Das hat Folgen für die Ansicht vom Entwicklungsgang Dantes. Dann ist die Commedia nicht die ›theologische‹ Überwindung des moralphilosophischen und politisch-praktischen Ansatzes. Die Monarchia erhält dadurch erhöhtes Interesse. Sie ist keine von ihrem Erbauer verlassene Ruine, sondern zusammen mit dem Paradiso Dantes letztes Wort zur Theorie der Politik. Sie ist ein lateinisch geschriebenes Werk mit hohem argumentativen Anspruch; sie betont mehrfach, politische Theoreme seien nicht aufzuklauben, sondern aus Axiomen zu gewinnen (Mon. 1, 2, 2–15). Das gelte auch für seine Intervention im politischen Kampf zwischen Kaiser und Papst. Dante greift die Kirchenrechtler scharf an, die dem Papst plena potestas, Vollmacht auch in zeitlichen Dingen, zuschreiben, aber von Philosophie und selbst von Theologie nichts verstehen. Er zeigt sich nicht zögernd, wie manchmal im Convivio, sondern selbstbewußt, mit sorgfältiger, formaler Argumentation; er wagt es, Petrus Lombardus anzugreifen (Mon. 3, 7, 6).

Die Monarchia ist Dantes philosophisches Hauptwerk. Sie argumentiert für die Notwendigkeit eines Weltmonarchen; sie entwirft ein neues Verhältnis von Kaiser und Papst. Sie begründet ihre Thesen philosophisch, teilweise auch historisch, nicht wie die meisten zeitgenössischen Traktate kirchenrechtlich. Sie behandelt in

  • Buch 1:
    Ein Weltmonarch ist notwendig für das Beste der Welt. Philosophische Grundlage.
  • Buch 2:
    Die Weltautorität gehört rechtens dem Römischen Volk. Historische Betrachtung.
  • Buch 3:
    Die Kaiserliche Autorität stammt von Gott, bekommt ihre Legitimität nicht vom Papst. Die Macht des Papstes ist geistlich, nicht politisch in zeitlichen Dingen. Dante interveniert gegen päpstliche Weltmachtkonzepte.

Dante aktualisiert aristotelische Motive. Für das Hauptproblem der Zeit, die Störung des Friedens Italiens durch päpstliche Machtansprüche, fand er bei Aristoteles oder seinem Kommentator nichts. Wohl aber fand er die These, daß der Mensch von Natur aus ein Polis-Wesen ist. Wenn dies von Natur aus so ist, dann hat weltliche Politik eine eigene Würde, Selbständigkeit, Gottgewolltheit. Das Interesse Dantes geht über jeden stadtpolitischen Rahmen hinaus, umfaßt nicht nur ganz Italien, sondern die politische Verfassung der Welt. Die Menschheit, nicht nur der einzelne Mensch und seine Stadt, ist politisch. Sie hat als ganze ein politisches Natur-Recht.

Dante setzt mit Aristoteles ein, aber nicht direkt mit dem ersten Buch der Politik des Aristoteles, wo es heißt, der Mensch sei von Natur aus Polis-Wesen. Das braucht Dante zwar auch, er bringt aber diese Art der Grundlegung politischer Wissenschaft mit einem Nebenargument in Gefahr, indem er Macht und Herrschaft auch auf die Sünde zurückführt und ihr die Aufgabe zuschreibt, die wilden Begierden zu zähmen, das unruhige, aufsässige Pferd zu reiten. Aber Dante geht über diese Betrachtungsweise weit hinaus, schwenkt auf seine Hauptlinie ein und nimmt seinen philosophischen Ausgangspunkt aus dem dritten Buch des Aristoteles De anima, Kapitel 4 und 5. Seine Grundlegung der Politik argumentiert aus der Natur des Menschen, genauer: aus der Eigenart des Intellekts. Dante fundiert seine Politiktheorie in erster Linie intellekttheoretisch. Er entnimmt der philosophischen Seelenlehre des Aristoteles den Begriff des ›möglichen‹ Intellekts. Dieser ist potentiell; er hat seine Möglichkeit, alle Dinge zu werden, noch nicht voll realisiert. Aber es ist seine Natur, dies zu tun. Seine Dynamik übersteigt die einzelnen Individuen. Der mögliche Intellekt kann sich nur dann immer verwirklichen, wenn er es in verschiedenen Individuen immer wieder tut. Er ist seiner Natur nach ein Menschheitsunternehmen. Um sich selbst zu realisieren, braucht er Ruhe und fordert er die produktive Selbstverwirklichung der einzelnen. Die Menschheit braucht Frieden, um den möglichen Intellekt wirken zu lassen, zuerst als Erkenntnis, dann in Anwendung auf die Praxis. Daher geht es Dante nicht wie bei Aristoteles um eine Stadt oder ein Land, sondern um das umfassende Imperium, unicus principatus et super omnes in tempore vel in hiis et super hiis que tempore mensurantur (Mon. 1, 2, 3–5).[893]   Diese Weltherrschaft betrifft alles Zeitliche, aber auch nur das Zeitliche, nicht das Ewige.

Damit hat Dante (Mon. 1, 3) die Grundlage seiner Politik gesichert: Politik entstammt der Natur, welche die Kunst Gottes ist, vor allem der Natur des Intellekts. Sie verlangt verbindlich eine gesamtmenschliche Tätigkeit, und diese ist ohne Frieden nicht möglich. Daher braucht es einen Weltkaiser, der nichts für sich sucht, weil er schon alles beherrscht und daher souverän Frieden sichern kann.

Dante entwickelt hier keine neue Intellekttheorie; jetzt ist seine Theorie auf das Handeln, nicht auf Kontemplation hingeordnet: ad operationem ordinatur (1, 2, 24). Sie zeigt: Ein Weltkaiser ist nötig; die Natur des Menschen fordert ihn; er gehört nach Rom, und seine Autorität ist direkt von Gott.

Dantes Monarchia ist, wenn um 1317 verfaßt, ein rückblickender Kommentar zum Projekt der Commedia. In beiden Texten dient Dantes Denken der Berichtigung des Lebens. Ziel ist das Wirken der gesamten Menschheit. Globale Politik ist nötig, wenn umfassend Friede sein soll, und Friede soll sein, weil die menschliche Natur eine ist und ihr gemeinsamer Intellekt nichts anderes ist als die Tendenz zu fortwährender Realisierung.

Dante beschreibt seinen Aufstieg zum himmlischen Paradies mit den einfachen Worten: Ich kam aus Florenz zu gerechten Menschen. In Florenz herrscht die Gier, cupiditas, und das Habenwollen steht im schärfsten Gegensatz zur Gerechtigkeit (1, 11, 40–43). Das Recht schafft Einheit, die Gier mißachtet die Einheit und zerfließt ins Viele. Diesen Gegensatz zu beseitigen, ist das Ziel der Weltmonarchie. Das ist die praktisch-politische Botschaft der Commedia. Dabei hebt Dante hervor, die Einheit der Weltmonarchie greife nicht störend ein in die Rechte der kleineren Gemeinwesen. Er versteht die Einheit nicht als Super-Organisation, sondern als gewußte und gewollte Eintracht. Der Weltkaiser ist der Diener aller. Die Menschen sind nicht für ihn da, sondern er für die Menschen. Seine Aufgabe ist die Begünstigung von Freiheit, denn Menschen sind Selbstzweck. Vielleicht hat Dante den Weltmonarchen zu sehr idealisiert. In ihm sei keine oder fast keine Gier. Dante dachte noch optimistisch über Machtzusammenballungen.

Die Monarchia ist, wenn um 1317 geschrieben, nicht das Dokument eines von Dante selbst überholten früheren Entwicklungsstadiums. Sie erklärt den für die theologischen Implikationen der Commedia und für die Theorie der Politik entscheidenden Punkt: Der Mensch hat ein doppeltes Wesensziel, und das sagt Dante im Rückblick auf den Anfang seines Paradiso: Das größte Geschenk, das Gott dem Menschen gemacht hat, ist seine Freiheit. Durch sie bewirken wir unser Leben: Hier, auf der Erde, sollen wir glücklich werden als Menschen, woanders (alibi) sollen wir glücklich werden als Götter (Mon. 1, 11, 22–26). Jede Natur hat ein äußerstes Ziel, eine letzte Bestimmung ihres Tuns; der Mensch als körperlich-geistiges Wesen hat zwei äußerste Ziele, duo ultima (3, 16). Daher, schreibt Dante, gibt es in der Commedia ein irdisches und ein himmlisches Paradies.

Dantes Lob der Freiheit ist in der Commedia wie in der Monarchia verbunden mit der Hochschätzung Catos, der Rechtfertigung des Römischen Imperiums als Rechtsmacht und mit der Liebe zu Vergil, divinus noster poeta Virgilius (2, 3, 17). Die Aeneis braucht Dante, um gegen Augustins Kritik an Rom und überhaupt an Großreichen, die nichts seien als große Räuberbanden, magna latrocinia (De civitate Dei 4, 4), die Legitimität der Weltherrschaft zeigen zu können: Rom hatte eine von Gottes Vorsehung bestimmte Friedensaufgabe, und der Römische Kaiser hat sie heute noch. Sie liegt begründet in der Intellektnatur des Menschen, sie erhält ihr Anrecht nicht von der Kirche, nicht vom Papst. Die Beschränkung der Rolle des Papstes auf seine geistliche Vaterrolle haben Monarchia und Commedia gemeinsam. Im Kampf gegen das Allegorisieren papalistischer Schriftsteller fordert Dante das Einhalten methodischer Grenzen: Das Allegorisieren ist nur dort angebracht, wo der Autor, um dessen Auslegung es gehen soll, selbst den allegorischen Charakter einer Passage ausspricht. Dante warnt die Papalisten vor der Überschätzung der ›Tradition‹: Es gab christliches Leben und Denken vor ihrer ›Tradition‹.

Dante bemüht sich ausführlich um die Anerkennung des Römischen Imperiums. Er führt einen harten Kampf gegen Augustins Verurteilung, die sich darauf berief, daß das Alte Rom die falschen Götter, also Dämonen, verehrt und sich mit Gewalt ausgebreitet hat. Er erzählt, daß auch er anfangs Rom als Gewaltstaat angesehen und erst mit der Zeit die Rechts- und Friedensmission Roms begriffen habe (Mon. 2, 1). Dante nennt hier nicht Augustins’ Namen. Aber das war lesenden Zeitgenossen klar: Dante kämpfte gegen Augustins am Götterkult orientierte Verwerfung der Imperien und forderte, die Natur der Dinge zum Maßstab zu machen und den Gegensatz von Recht und Gier im Blick auf die Vernunftbestimmung des Menschen vernünftig zu regulieren. Gottes Wille ist das Recht; das Recht ist in Gott (2, 5).

5.

Dantes Gegner. Guido Vernani als Kritiker der politischen Philosophie Dantes

Das Jahr 1329 ist in der europäischen Geschichte des Denkens ein markantes Datum: Am 27. März 1329 verurteilte Papst Johannes XXII. Meister Eckhart. Im selben Jahr ließ der Legat dieses Papstes in Bologna Dantes Monarchia öffentlich verbrennen, und im selben Jahr schrieb der Dominikaner Guido Vernani aus Rimini seine Streitschrift gegen Dantes politische Philosophie. Vernani verwirft nicht nur Dantes politisch falsche Ansichten; er greift das Denken Dantes als Ganzes an. Er bringt den Augustinismus mit dessen pessimistischer Mißachtung menschlicher Gestaltungsmöglichkeiten und der Abwertung der Weltherrschaft Roms gegen den Denker der Weltmonarchie in Stellung. Es gebe nur einen einzigen Monarchen, der die guten Qualitäten habe, die Dante ihm abverlange; dies sei allein Jesus Christus und der Papst als sein irdischer Vertreter: Monarchia igitur mundi est summus pontifex christianorum.[894]   Was Dante dagegen vorgebracht habe, sei falsch und verächtlich. Vernani spricht abfällig: Die Theorien dieses Menschen sind eine Schande, ille homo turpiter erravit (1, S. 96, 19). Dieser Mann hat massenweise geirrt, iste homo copiosissime erravit (2, S. 108, 11). Dante hat das Christentum auf den Kopf gestellt. Christen kennen, so Vernani, nur ein einziges Lebensziel, Dante hingegen kennt zwei ultima. Das irdische Leben bringt gar kein Glück, keine beatitudo, sondern nur Kampf; die jenseitige Seligkeit ist das einzige Ziel der gesamten Menschheit (1, S. 94, 20–22; bes. 3, S. 117, 14–17). Dante verkenne das Elend dieses irdischen Lebens (1, S. 96, 6–13). Er lege seiner politischen Theorie den Irrtum des Averroes zugrunde, daß der mögliche Intellekt nur ein einziger sei für alle Menschen. Das sei ein schrecklicher Irrtum, pessimus error (1, S. 97, 10–15).

Vernani schreibt Dante die These zu, der mögliche Intellekt sei eine einzige, getrennt exstierende Substanz, substantia separata (1, S. 97, 22). Nun hatte Dante zwar nicht gelehrt, es gebe nur einen einzigen, selbständig existierenden möglichen Intellekt. Er hatte das Problem seiner Einzigkeit nicht näher erörtert. Er hatte die Nonchalance Alberts praktiziert und es verschmäht, die korrekten Formeln gegen den ›Averroismus‹ zu wiederholen. Das war schon schlimm genug. Aber welche Art Wirklichkeit sollte Dantes ›möglicher Intellekt‹ haben, wenn er für die gesamte Menschheit immer tätig ist und so seine Möglichkeit in Wirklichkeit verwandelt? Dann mußte er den Tod einzelner Mitglieder der Menschheit überdauern. Es mußte ein mächtiger Menschheitsgeist sein, über den Dante nichts Näheres sagte. Thomistisch korrekt war das nicht, ebensowenig wie Dantes Theorie, daß reine Geistwesen, also geschaffene Intelligenzen, eine substantiale Einheit von Wirken und Wesen seien. Kein geschaffenes Wesen war für Thomisten mit seinem Wirken identisch (1, S. 96, 26–97, 5).

Dantes Theorie des Intellekts, von Albert inspiriert, ließ ihm fast göttliche Stärke; kraft ihrer können wir auf der Erde als Menschen glücklich werden und im Jenseits wie Götter. In Vernanis düstere Weltsicht paßte das nicht: Er sah in der Weltgeschichte – mit Augustin – Gewalt und menschliche Ohnmacht; in der altrömischen Zivilisation nur Dämonenkult und vollendete Lasterhaftigkeit. Das alte Rom war die Stadt Satans, civitas dyaboli (2, S. 101, 5–23). Die Tugenden der Heiden waren nichts als Laster; ihre Helden waren allein bewegt vom irdischen Ruhm: mundana gloria (2, S. 104, 28–105, 12). Außerdem verehrte der heidnische Römer nicht nur Dämonen als seine Götter; er war auch noch durch und durch wollüstig, luxuriosissimus (2, S. 106, 33).

Dante hat den Monarchen idealisiert. Er hat die heidnischen Römer ein heiliges, ein frommes, ein ruhmreiches Volk genannt, populus sanctus, pius et gloriosus (Mon. 2, 5, 22); er glaubte, Gott habe das römische Volk durch Wunder geehrt und geschützt. Vernani fand diese Hochschätzung lächerlich; von den kapitolinischen Gänsen, die Dante als Gottes Romwunder verbuchte, sprach er mit dem Hohn eines Aufklärers (2, S. 102, 13–104, 4).

Vernani mißfiel auch Dantes Verehrung der Sterne. Dante hatte gesagt, der Mensch sei ein Kind der Sterne (Mon. 1, 9). Vom Menschengeschlecht zu sagen, es sei Sohn des Sternenhimmels, sei töricht und ignorant; die Sterne können nur den Körper, nicht die Seele hervorbringen. Zwar gebe der Himmel den Tieren auch Seelen, aber diese Seelen vergehen mit den Leibern der Tiere, daher könnte man den Sternenhimmel eher den Vater der Hunde und der Schweine nennen. Aber auch das sei falsch, denn Vaterschaft setze Gemeinsamkeit der Art voraus (1, S. 100, 8–23).

Vernani sieht die Welt und die Geschichte nüchtern; nur gegen den Erlöser und seinen irdischen Vertreter wendet er keine Skepsis. Einzig ihre Macht bedarf keiner Einschränkung. Der Papst hat das Recht, kaiserliche Gesetze aufzuheben (3, S. 112, 10–18). Die altrömische Religion war Götzendienst und Aberglaube. Die irdische Zeit ist Durchgang zur einzigen, zur jenseitigen Seligkeit unter der Führung der Kirche. Daher sei auch Dantes Idee einer armen Kirche falsch. Zwar sage Jesus, was Dante richtig zitiere, die Apostel sollen weder Gold noch Silber besitzen; sie sollen kein Geld mit sich führen (Matth. 10, 9), aber damit sei nur gemeint, sie sollten nicht um zeitlicher Vorteile willen predigen. Ist ihre Gesinnung in dieser Hinsicht rein, dann soll die Kirche sogar Vermögen ansammeln; die heiligsten Kirchenlehrer wie Augustinus, Ambrosius und Gregor hätten den Landbesitz der Kirche in Anspruch genommen und vermehrt (3, S. 114, 21–23).

Vernanis Text ist für Leser Dantes kostbar. Denn er demonstriert, wie Dante kirchlich korrekt hätte denken sollen. Es geht um Politik, konkret um Papstmonarchie, aber nicht nur. Dantes Naturoptimismus störte, mit dem er das Rombild Augustins hinter sich ließ. Unerträglich war seine Lehre vom doppelten Lebensziel. Die Idee zweifacher Glückseligkeit, die in der Commedia als Doppelung von irdischem und himmlischem Paradies vorkam, war ein Zugeständnis an die averroistische Irrlehre und offener Widerspruch zu Thomas von Aquino, dem soeben, 1323, heiliggesprochenen Kirchenlehrer.

6.

Andere Kritiker Dantes

Vernani war nicht der einzige Kritiker Dantes. Dantes Werk ist so groß, daß es seine Gegner fast vergessen macht. Aber in der geschichtlichen Realität war Dante umstritten. Es gab recht verschiedene Formen, sich von ihm zu distanzieren. Dantes erster Freund, Guido Cavalcanti, hatte eine andere Auffassung von Liebe. Er sah Liebe als Antrieb der sensitiven Seele und als Gegensatz zum Intellekt. Liebe bedrohe als gefährliche Macht das Beste im Menschen und gefährde sein Leben. Die große Canzone Donna mi prega ist unmittelbar neben Dante das Monument einer entgegengesetzten Auffassung von Liebe. Hier ist Liebe nicht Aufstieg zum Paradies.[895]  

Von den ironischen Bemerkungen des Cecco Angiolieri († 1313) über Dantes Idealisierung der Frauen war oben die Rede; eine umfassendere Kritik an Dantes Hauptwerk legte Cecco d’Ascoli, eigentlich Francesco Stabili (1257–1327) vor. Er war Professor in Bologna, arbeitete als Astronom, Astrologe und Naturphilosoph. Berühmt wurde er durch seinen Kommentar zur Sphaera des Johannes de Sacrobosco. Die Inquisition hat ihn 1327 hingerichtet. Seine Texte bieten Schwierigkeiten, aber so viel ist klar, daß er den Verfasser der Commedia für einen Phantasten hielt, der, statt die Natur der Dinge zu studieren, sich mit unnützen Histörchen beschäftigt. Cecco schrieb selbst Gedichte; darunter auch Spottverse gegen Dante. In höhnischer Überlegenheit stellt er ein philosophisches Problem auf und endet mit der Bemerkung: Mal sehen, ob Dante es lösen kann.[896]   Er spielt auf Dantes Vergöttlichung der Beatrice an: Wer Frauen Intellekt zuschreibt, der läuft in Ravenna herum und sucht Maria.[897]   Cecco setzt seine eigene Dichtung als naturphilosophisch ernsthaft gegen Dantes windige Erzählungen ab. Er dichtet:

Qui non si canta al modo delle rane,
qui non si canta al modo del poeta,
chi finge, imaginando, cose vane:
ma qui resplende e luce omne natura
che a qui intende fa la mente lieta;
qui non si sogna per la selva oscura.

Hier quakt man nicht wie die Frösche. Hier singt man nicht wie der Poet, dessen Phantasie nichtige Dinge ausdenkt. Hier strahlt und leuchtet ganz die Natur, die den Geist heiter macht, der sich ihr widmet. Hier träumt man nicht vom dunklen Wald.[898]  

Das geht strophenweise so weiter mit Anspielungen auf die Commedia: Hier sehe ich weder Paolo noch Francesca. Schließlich ist Dante dem Cecco nicht fromm genug: Um in den Himmel zu kommen, braucht es nicht die glorifizierte Beatrice; der einfache christliche Glaube genüge.[899]  

Es gab raffinierte Wege, sich von Dante zu distanzieren. Es würde hier zu weit gehen, die verbalen Kunststücke vorzuführen, die Francesco Petrarca in dieser Hinsicht vollbracht hat. Dante besaß inzwischen viele Verehrer; Petrarca konnte sich von ihm nicht brüsk absetzen Er lobte ihn, aber er teilte nicht Dantes Überzeugungen. Er setzte ihn herab, indem er ihn einreihte in die zahlreiche Schar von Verfassern von Liebesliedern. Dantes Philosophie war ihm zu aristotelisch, zu nahe bei den Scholastikern und Averroes. Petrarca hat die heillose politische Lage Italiens wie Dante kritisiert, aber dessen Auffassung von Liebe war ihm zu metaphysisch. Freilich hätte Petrarca ohne Dante seine Liebesgedichte nicht schreiben können, mit denen er sich nach seiner Rückkehr nach Italien mehr und mehr beschäftigte. Daß Dante sein Hauptwerk in Volgare abgefaßt hatte, das wollte Petrarca nicht einleuchten; er tat gerne so, als kenne er es nicht.[900]  

Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen
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