II.
Dante übersetzen
1.
Ein kleiner Dialog: Fragen an einen Dante-Übersetzer
Frage: Warum übersetzt du Dante?
Antwort: Ich tue es vor allem für mich selbst. Denn wer übersetzt, muß genauer lesen. Er muß dem Text in die letzten Winkel folgen. Wir lesen alle zu schnell. Wer übersetzt, muß langsam lesen. Das ist die erste Wohltat – für mich selbst. Ich entdecke originelle Sätze und schöne Stellen. Und ich habe die glückliche Erfahrung gemacht: Wenn ich mich zunächst nur ganz für mich in einen großen Text vertiefe, sogar mich in ihm verliere, dann interessiert mein Ergebnis auch andere.
Es gibt schon viele Übersetzungen, ich weiß. Ich habe mich oft gefragt: Willst du wirklich den einundfünfzigsten deutschen Dante bringen? Lohnt sich die jahrelange Arbeit? Ich antworte: Dreimal Ja: Denn erstens drücke ich, was ich verstanden habe, gerne in meiner Sprache aus. Ich genieße das, auch die pedantischen Korrekturen an meinen früheren Fassungen. Zweitens: Wenn es viele Übersetzungen gibt, zeigt das, daß keine voll befriedigt. Keine ist definitiv. Jede ist ein individuelles Produkt. Dann, sage ich mir, darfst du auch deine eigene danebenstellen. Drittens: Viele Übersetzungen sind rückwärtsgewandt. Sie setzen voraus, ein alter Text gehöre in eine altertümelnde Diktion. Andere gehen davon aus, übersetzte Dichtung müsse ›poetisch‹ klingen, und setzen unbewußt ihr Poesiekonzept aus der Zeit von 1824 bis 1963 ein. Ich kratze diesen Lack ab.
Frage: Was verstehst du unter ›gegenwärtigem‹ Deutsch?
Antwort: Gute Frage! Denn ich meine nicht, daß ich am alten Text etwas modernisieren sollte. Ich lasse ihn, wie er ist: alt, fremd, sperrig, beladen mit historischem Stoff, mit theologischer Spekulation, mit bizarren Einfällen. Aber er soll lesbar sein. So hell, so durchsichtig wie möglich. Und dazu wünsche ich mir für ihn ein Deutsch, das weder gefühlig vertieft ist noch gassenhauerisch platt. Ich könnte genauere Kriterien nennen, also lange darum herumreden, aber am Ende müßte ich zugeben: Unter ›gegenwärtigem Deutsch‹ verstehe ich mein Deutsch, das Deutsch der Prosa von Kurt Flasch. Ich habe über meine Diktion nachgedacht und sie ein Leben lang zu verbessern gesucht. Als Mittelalterspezialist habe ich überlegt: Gerade weil ich über alte Sachen schreibe, darf meine Sprache nicht altertümelnd sein. Daher kommt bei mir das Wort ›Pilgrim‹ nicht vor. Da gibt es kein ›Glöcklein, das leise weint‹. Das war schon 1963, als die beiden Wartburgs ihre Dante-Übersetzung druckten, kein gegenwärtiges Deutsch mehr. Das war Biedermeier; spätestens seit Kafka erkennbar als epigonaler Poesieversuch.
Frage: Bringst du Dante ins Zeitungsdeutsch?
Antwort: Nein, in gegenwärtiges Deutsch, ja, in Zeitungsdeutsch: nein. Ein Übersetzer, der Dante sublimieren wollte, verteidigte seinen Stil mit der Begründung, er übersetze Poesie poetisch, nicht im ›Zeitungsdeutsch‹. Aber es gibt sehr verschiedene Arten von ›Poesie‹, auch antipoetisch nüchterne Dichtung. Nicht jeder Artikel in einer Zeitung ist ›Zeitungsdeutsch‹. Die Alternative ist irreführend. Die Herabsetzung eines weniger ›poetisch‹ ambitionierten Stils diente der Rechtfertigung pseudopoetischen Wildwuchses. Brecht und Benn schrieben gegenwärtiges Deutsch, aber kein Zeitungsdeutsch. Ich kann nicht dichten, aber ich schleife meinen Stil an modernen und gegenwärtigen Schriftstellern.
Frage: Was kommt bei deinem ›Dante-Deutsch‹ besonders heraus?
Antwort: Mein Dante spricht klar. Er schrieb, um verstanden zu werden. Wenn er prophetisch-dunkle Passagen einbaute, sollten sie klar als dunkel erkennbar sein.
Mein Dante spricht hart und knapp. Er wählt wenige Details aus. Er läßt vieles weg. Er schreibt ungeheuer diszipliniert. Nie verplaudert er sich. Auch wenn er eine Metapher breit ausmalt, blitzen die Details nur kurz auf. Dem will ich nahekommen. Wenn ich schon auf Reim und Versmaß verzichte, muß der Vorteil der Prosa herauskommen: Ihre freien Variationsmöglichkeiten zwischen Sätzen wie Drahtseilen, ausgeruhten Bildern, schneidender Polemik und dialektisch durchgearbeitetem Gebet.
Frage: Kommt dabei die Schroffheit Dantes heraus?
Antwort: Jedenfalls will ich das Sinnliche sinnlich, das Konkrete konkret, die Invektive schroff.
Plastische Bilder Dantes, auch wenn sie uns rauh und hart vorkommen, will ich nicht glätten und in abstraktes Bildungsdeutsch verkehren. Dante schreibt Inferno 32, 4–6, er möchte allen Saft aus seinem Begriff pressen, er könne das aber nicht, io premerei di mio concetto il succo. Manchen stört die Vorstellung, Dante wolle ein Konzept auspressen wie eine Zitrone. Aber das unpoetisch-poetische Bild muß bleiben. Den Stil Dantes unterdrückt, wer den Satz mit Ida und Walther von Wartburg ins Professorendeutsch bringt und schreibt:
Würd’ voller ich das Wesen meines Sehens
Zum Ausdruck bringen.
Das Wort ›Ausdruck‹ erinnert zwar noch an sinnliches Herauspressen, aber so entfernt, daß Dantes Metapher des Auspressens von Saft darüber verschwindet. Man muß weniger auf die Etymologie als auf die Geschichte dieses Wortes im 20. Jahrhundert achten. Dante redet von einem sinnlichen Vorgang in der Küche. Er sieht sein Konzept, den Begriff, als eine Frucht, deren Saft er auspressen will, aber nicht kann. Ein Begriff wie eine Zitrone – diese Schroffheit muß bleiben. Dantes ›Saft‹ muß herauskommen. Das Bäuerliche, Deftige und Direkte seiner Diktion steht neben dem Feinen und Subtilen.
Frage: Du gestehst den Verlust nicht nur ein, sondern betonst, wie sehr er durch Verzicht auf Reim und Versmaß eintritt. Bietet die Prosaübersetzung nicht auch Vorteile?
Antwort: Ich liebe den Reim. Ich möchte nicht daran schuld sein, wenn er aus der Dichtung verschwindet. Die Wörter sind dabei einander so freundlich. Aber gereimte Dichtung aus dem Italienischen reimend übertragen, das kann nur ein Genie. Selbst Stefan George hat es nicht gekonnt. Aber wenn einer der reimenden Übersetzer tadelte, Prosaübersetzer machten es sich zu einfach, soll er erst einmal eine Prosaübersetzung vorlegen.
Gewiß bietet die Prosaform bei der Commedia-Übersetzung auch Vorteile: Sie bringt klar heraus, daß sie (auch) eine Erzählung, nämlich eine Art Reisebericht, ist. Das Lyrische tritt zurück, das Epische tritt vor. Sie kann genauer sein. Oft, nicht immer, kann sie der syntaktischen Form Dantes folgen. Sie gibt Argumente in ihrer syllogistischen Abfolge wieder. Und, keine Kleinigkeit: Sie behandelt den zarten Buchstaben e der deutschen Sprache mit der gebührenden Schonung. Sie streicht ihn nicht des Versmaßes willen im Wortinnern, sie schreibt also nicht ›g’nug‹ statt ›genug‹. Wer ›stützet‹ schreibt statt ›stützt‹, schließt sich seit fast hundert Jahren aus der literarischen Öffentlichkeit aus.
Das e am Wortende wegzulassen, also ›wär‹ oder ›sehn‹ zu schreiben, das ist etwas anderes: Die Prosafassung zieht ›gehn‹ und ›stehn‹ dem fast nur schriftkorrekten ›gehen‹ und ›stehen‹ sogar vor – nimmt diese Möglichkeit aber taktvoll wahr, nie nur als Mittel zum Zweck der Silbenzahl.
Frage: Glaubst du, man könne alles übersetzen?
Antwort: ›Übersetzen‹ hat in verschiedenen kulturellen Situationen sehr verschiedene Bedeutungen und Aufgaben. Ich möchte nicht zu generell davon sprechen, sondern bei der Commedia bleiben. Ihre besondere Schönheit an Reim und Rhythmus läßt sich nicht übersetzen. Da diese wesentlich zu ihr gehört, bekommt Dante recht, der von der Dichtung behauptet, sie sei unübersetzbar. Vielleicht läßt sich keine sprachliche Äußerung übersetzen, es sei denn, sie sei fachterminologisch oder durch den unmittelbaren praktischen Bezug eindeutig gemacht worden, wie wenn der Feuerwehrmann ›Wasser‹ ruft. Alles Übersetzte ist der individuelle Entwurf eines Übersetzers.
Jede nicht durch methodische Disziplinierung oder direkten Praxisbezug regulierte und damit festgelegte Äußerung, jeder philosophische Satz und erst recht jedes Gedicht gehört in seine kulturelle Welt. Deren Präsenz in einzelnen Sätzen wird oft nur unvollständig erkannt oder vollständig verkannt; sie zusammen mit ihrem temporalen Hintergrund ausdrücklich zu übersetzen, würde bedeuten, daß der Übersetzer seinen Kommentar in die Übersetzung schreiben muß. Die vorhandenen Kommentare erklären meist nur Details. Dante setzte voraus, daß man weiß, was ein Engel ist und daß er auf dieser Grundlage dieses Wissen modifizieren, weiterentwickeln, kritisieren, verändern kann. Gott, Seele, Sünde, Liebe, Teufel – dies alles stand bei ihm in einem kulturellen Rahmen, oder vielmehr: es schwamm in einem strudelnden Geschiebe, in einem geschichtlichen Prozeß sich verändernder, kontroverser kultureller Bedeutungen, aus denen er Einzelnes herausgriff und aus seinem Kontext mit neuer Bedeutung auflud. Er reihte sich ein in bestimmte Tendenzen, die er veränderte, anderen widersprach er.
Diese historische Fluß-Situation, die sich nur manchmal, nicht immer, an Namen festmacht, kann der Übersetzer kaum oder nur manchmal zum Ausdruck bringen. Handelt es sich dabei um einen Fachterminus der mittelalterlichen Theologie oder Philosophie, kann der Übersetzer dessen Fremdheit dadurch wiedergeben, daß er ein Fremdwort nutzt oder gar neu schafft und zum Beispiel für formale bei Dante das Wort ›forma-haft‹ einsetzt. Ich möchte lieber maßvoll verfremden als formelhaft aneignen. Der Leser der Übersetzung sieht dann, was sich nicht hat übersetzen lassen. Das gilt wohl auch für Termini der sizilianisch-stilnovistischen Liebeslyrik: donna hat vielleicht einmal (Par. 15, 137) die Bedeutung von ›Frau‹, meist aber von ›Herrin‹, ›Dame‹ gerade bei Beatrice, aber ›Herrin‹ paßt für die ›Geliebte‹ nur innerhalb eines kontingenten, historischen Konzepts von Liebe. Dantes gentile bedeutet nicht ›liebenswürdig‹, auch nicht ›höflich‹, sondern ›adlig, vornehm, von königlicher Erscheinung‹. parere heißt nicht ›scheinen‹, auch nicht ›erscheinen‹, sondern ›sich offensichtlich zeigen, evident und allgemein angenommen sein‹. Es hat in der Regel nicht die Bedeutung, daß etwas erschiene, ohne das zu sein, als was es erscheint; dafür hat Dante sembrare.[939] Nicht als Beweis, wohl aber als Hinweis gesagt: Bei Aristoteles haben Ausdrücke wie dokei und doxa die Bedeutung von: ›offensichtlich, allgemein angenommen, nicht bewiesen, aber unbezweifelt‹; ähnlich war es bei einem videtur der lateinischen Aristoteles-Übersetzungen und scholastischen Traktate, von denen Dante einige studiert hat. Solche Termini lassen sich korrekt übersetzen; der Übersetzer muß nur die kulturelle Heimat und das geschichtliche Umfeld solcher Ausdrücke erkennen. Die Übersetzungsverluste sind groß, lassen sich aber prinzipiell präzis angeben. Die Übersetzung von Georg Peter Landmann gibt antike Assoziationen der Commedia verläßlich an, mißversteht aber einige Ausdrücke der mittelalterlichen Wissenschaft. Deswegen ist es gut, wenn es mehrere neuere Übersetzungen gibt. Eine allein reicht nicht aus. Die einzelnen Wörter wollen im Blick auf ihren Umhof übersetzt sein, und da zeigt sich ein reiches Spiel von Assoziationen und Varianten.
Frage: Hat Dante tatsächlich jede Übersetzung von Dichtung verworfen?
Das hat er ohne jeden Zweifel.
Er hat kategorisch erklärt, Dichtung sei nicht zu übersetzen (Conv. 1, 7):
E però sappia ciascuno che nulla cosa per legame musaico armonizzata si può de la sua loquela in altra transmutare sanza rompere tutta sua dolcezza e armonia.
Dichtung ist durch musikalische Regeln geformtes Sprechen. Diese Geformtheit läßt sich nicht in eine andere Sprache übertragen. Wer es dennoch versucht, zerstört die dolcezza und armonia des Dichtwerks. Dante hat in De vulgari eloquentia 2, 4, 2 definiert, was er unter Dichtung versteht: Sie ist nichts anderes als eine fictio, ausgezeichnet durch und gebildet mit Rhetorik und Musik. Musik heißt hier soviel wie: Metrum, regelmäßige Zahlenhaftigkeit. ›Rhetorik‹ bedeutet grammatische Korrektheit, Erfindungsreichtum an Wendungen, Argumenten und Bildern, nicht zuletzt: Bezug aufs jeweilige Publikum. Der Dichter gibt ihr durch ›Musik‹ Annehmlichkeit oder dolcezza. Und diese Einheit von fictio, Rhetorik und Musik läßt sich nicht übersetzen. Vielleicht gelingen gelegentlich Nachdichtungen, Neudichtungen. Das Rhetorische, den epischen Stoff und seine Erzählweise, die intellektuelle Aussage und die Abfolge der Argumentation, das kann die deutsche Übersetzung erfassen; das Lyrische, Musikalische zerstört sie.
Frage: Ist dir beim Übersetzen die Ausgangssprache oder die Zielsprache wichtiger?
Antwort: Ich kann diese Alternative nicht anerkennen. Dennoch sagt mir die Frage etwas. Die Commedia ist ein so unverwechselbares, so festumrissenes Werk, daß ich nicht Dante so reden lassen kann, als wäre er ein deutscher Zeitgenosse. Ich versuche daher, seine Sprache zu lernen und sie in ihrer historischen Eigenart zu erfassen, soweit das einem gelingen kann, der nicht historischer Linguist von Beruf ist. Die Quellensprache ist mir in einem anderen Sinn wichtig als die Zielsprache: Die Ausgangssprache muß ich so genau auffassen, wie es mir mit allen modernen Hilfsmitteln (Wörterbücher, Kommentare etc.) möglich ist. Dabei ist die verschiedene Tonart der drei Teile der Commedia, aber auch die cantica-interne Vielfalt der Sprachebenen aufzufassen: Dante spricht nicht immer erhaben, theologisch oder philosophisch, er spricht auch ›niedrig‹ und abstoßend. Nicht immer im glatten Fluß, sondern auch stotternd. Dies macht meine Zuwendung zur Ausgangssprache aufmerksamer, unsicherer und reizvoller.
Die Zielsprache muß ich erst in mir bilden im ständigen Blick auf die Entwicklung dieser Sprache. Ich nenne dafür drei Beispiele:
Erstens: Ich versuche, veraltete Ausdrücke als solche zu erkennen und zu vermeiden. Beispiele ›Pilgrim‹, ›Wölflein‹ für junge Wölfe oder Welpen, ›darob‹ oder ›ob‹ in der Bedeutung von ›wegen‹. Welches Wort als ›veraltet‹ empfunden wird, hängt von Region und Geburtsdatum, von Lektüren und Stilentscheidungen ab, gewiß, hier ist der individuelle Koeffizient unvermeidlich und unersetzlich. Das ist einer der Gründe, warum es von einem klassischen Werk mehrere Übersetzungen gibt.
Zweitens: Die deutsche Sprache der Gegenwart vernachlässigt das Futur zugunsten des Präsens. Sie unterscheidet sich darin von Dante, aber auch vom heutigen Italienisch und Französisch. Andere Sprachen sind auch heute noch im Gebrauch der Zukunftsform genau. Im Deutschen sagt der Nachrichtensprecher am frühen Morgen: ›Heute entscheidet der Bundestag über …‹ Er gebraucht das Präsens, wo es um einen Vorgang in der Zukunft geht. Da ich diese Entwicklung nicht zurückdrehen kann, folge ich ihr bis zu einem gewissen Grad, den genau zu bestimmen eine Frage des sprachlichen Takts ist. Ich vermeide nicht grundsätzlich das Futur, akzeptiere aber eine gewisse Zurücknahme seines Gebrauchs. Der Ansager am Hauptbahnhof sagt nicht mehr, wie heute noch sein italienischer Kollege: ›Der Zug wird 20 Minuten später ankommen‹. Er sagt: ›Er trifft zwanzig Minuten später ein‹.
Dritte Beobachtung am Deutschen als Zielsprache: Es weist Fremdwörter weniger scharf ab, als das teilweise in früheren Jahrzehnten, nicht in allen, üblich war. Ich vermeide Wörter der Fachsprache; ich muß also die gegenwärtige Sprache in ihrer Veränderung durch Fachsprachen vor Augen haben, um deren Einfluß fernzuhalten, aber doch eingebürgerte Fremdwörter aufzunehmen. Ich könnte in der Dante-Übersetzung den Satz dulden: ›Er hat intensiv gesucht.‹
Eine vierte Besonderheit des Deutschen sind zusammengesetzte Substantive. Ich halte die Wortungetüme der Bürokraten und der Politiker fern; ich würde nie ›Erwartungshaltung‹ sagen, wo doch ›Erwartung‹ genügt, aber es gibt schöne, sinnvolle Zusammensetzungen wie ›Haustür‹, ›Mondnacht‹, ›Rosenmontag‹ oder ›Morgenröte‹. Hier ist Unterscheiden nötig, aber dann ist das zusammengesetzte Substantiv eine Chance des deutschen Übersetzers Dantes.
Kurz: Für das Studium der Quellensprache nehme ich mir Zeit und suche Beratung, für die Zielsprache braucht es lebenslange, ununterbrochene Aufmerksamkeit auf das gesamte Vokabular, auf grammatische und syntaktische Verschiebungen und damit auf die kulturelle, soziale und politische Geschichte Deutschlands.
Frage: Umberto Eco behauptet, jede Übersetzung lenke zu einer bestimmten Lesart des Textes, sie wende ihre Aufmerksamkeit bestimmten Seiten des Originals zu.[940] Sie interpretiert. Welche Seiten der ›Commedia‹ hebt deine Übersetzung hervor?
Antwort: Dantes Werk ist in sich zu vielförmig, als daß es nur eine Seite sein dürfte. Aber ich nenne in grober Zeichnung vier Eigenarten, um die es mir vor allem geht: Erstens: Die Rationalität, der klare Charakter, Verzicht auf Dunkelheit, wo sie nicht die Dunkelheit Dantes selbst ist. JEDER SATZ DANTES IST ERKLÄRBAR. Auch wenn er de facto nicht erklärt wird, um Übersetzung vom Kommentar getrennt zu halten, soll er als erklärbar klingen.
Zweitens: Ich hole neben der rationalen Konstruktion und dem ungewöhnlichen Vernunftvertrauen die entgegengesetzte Seite hervor: die Phantastik, die Verrücktheit, den Übermut, die rasch wechselnde, bizarre Erfindung, Traum und Albtraum. Anachronistisch ausgedrückt: Der Kafka-Stil. Die horror picture-Show. Phantastische Verwandlungen, Tänze der Weisen, Ballette der Märtyrer. Lichtspiele wie in einer Diskothek.
Drittens: Das Politische, das in einigen neuen Auslegungen zu sehr zurücktritt. Der Charakter der Invektive, des Pamphlets, des Aufrufs.
Viertens: Ich nehme die Commedia als Werk der Zeit kurz nach 1300 und vermeide deswegen ihre Archaisierung. Nebenbei hoffe ich, einige Versehen zu korrigieren, die sich ergaben, weil andere Übersetzer etwas weniger vertraut waren mit der intellektuellen Entwicklung und der philosophischen Terminologie der Zeit.
Frage: Beziehst du dich bei der Arbeit auf frühere Übersetzungen?
Antwort: Zunächst bin ich allein mit Dante. In einem zweiten Arbeitsstadium sehr intensiv. Zwar gibt es keine ›klassische‹ Übersetzung wie Schlegel für Shakespeare oder – in entgegengesetzter Art – Voß für Homer. Insofern ist die Bahn frei. Ich ignoriere nach Stichproben die bürgerlich-glatten Übersetzungen wie die von Gildemeister. Ich verstehe die Gründe, die Stefan George und Rudolf Borchardt zu ihrer abweichenden Form geführt haben. Sie wagten eine neue Sprache; Borchardt konsequenter als George. Meine Beschäftigung – nicht die mit Dante, wohl aber mit deutschen Übersetzungen – begann mit der von Borchardt. Sie ist gereimt und wie die ›bürgerlichen‹ im Elfsilben-Takt, aber sie simuliert mittelhochdeutschen Wortschatz und mittelhochdeutsche Syntax. Sie ist ein Protest gegen die deutsche Sprachgeschichte, besonders gegen die Dominanz der Lutherbibel-Sprache und die Verdrängung süddeutscher Sprachelemente. Borchardt fing damit wohl vor dem Ersten Weltkrieg an, aber die Hauptarbeit lag in den Jahren 1923 bis 1930. Die deutsche Sprache, dachte Borchardt, kann die Commedia nicht mehr aufnehmen, sie ist verbraucht und verdorben. Er versuchte, sie in Anlehnung an mittelhochdeutsche Texte und Schweizer Dialektformen neu zu erfinden. Sein Plan, groß und gelehrt gedacht, der Bibel-Übersetzung von Martin Buber vergleichbar, ist gescheitert. Das war mein Ausgangspunkt. Mit ›gescheitert‹ meine ich nicht, daß sie nur eine, allerdings schön gedruckte Auflage erlebte, sondern daß es unmöglich scheint, dass ein Einzelner eine Sprache in deren spätem Entwicklungszustand erfinden könnte. Neue Übersetzer mußten zurückrudern zur vorhandenen Syntax, zum gegebenen Wortschatz. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde kein vergleichbarer Versuch gemacht. Nur Georg Peter Landmanns Prosaübersetzung von 1997 versuchte eine vorsichtige sprachliche Neuerung im Anschluß an Stefan George. Den Reim gab er ganz auf, nicht die altertümelnde Patina. Ich konnte weder mit Borchardts Paukenschlag fortfahren noch mit Landmanns feinsinnigem Kompromiß. Ich komme mit reduzierten Formen aus: schlichte, aber konsequent nicht-technokratische Prosa. Freie Rhythmen geben ihr einen gewissen Fluß. Gebrüll und Fachterminologie spart sie aus, aber weder gelegentliche Fremdwörter noch lateinische Zitate, die ich anschließend übersetze.
Das Übersetzen wirft noch viele weitere Fragen auf. Hier sollte nur plausibel werden: Die Verluste einer Prosaübersetzung braucht nicht zu verschweigen, wer einlädt, Dante zu lesen, und dazu eine Übersetzung in deutscher Prosa vorlegt.