II.
Frauen
Dieses Kapitel braucht eine eigenwillige Form. Es geht von Beatrice weg und belegt mit poetischen Texten der Zeit, daß andere literarische Frauen ganz anders lebten und dachten als Beatrice. Dantes Glorifizierungswille hat Beatrice zu einsamer Höhe erhoben. Ich sehe mich nach ihren Zeitgenossinnen um und finde Bice in ihrem historischen Raum nicht allein. Nur repräsentiert sie nicht d i e ›mittelalterliche‹ Konzeption der Frau. Es gab damals ganz andere Auffassungen der Welt und der Frau in der italienischen Dichtung der Zeit. Dies möchte ich belegen mit vergnüglichen Gedichten von Cecco Angiolieri und einigen Frauengeschichten Boccaccios. Sie zeigen Größe, Grenze und Originalität von Dantes Erfindung seiner Geliebten, deren physische Existenz für ihn nur den Ausgangspunkt bot.
1.
Anti-Beatrice bei Cecco Angiolieri
Der Dichter Cecco Angiolieri aus einer vornehmen Familie von Siena (ca. 1260 bis ca. 1312) ist heute in Deutschland kaum bekannt; er kommt im Großen Brockhaus nicht vor. Aber seine Dichtung steht in so bewußtem Kontrast zu der Dantes, besonders was die Rolle der Frau angeht, daß sie neues Licht wirft auf Beatrice und die Commedia. Cecco Angiolieri bezieht sich in einigen Sonetten ausdrücklich auf Dante.[850] Die Frau seiner Gedichte ist die Karikatur Beatrices. Ceccos Weltauffassung und seine Sprache stellen sich gegen Dante: Wo Dante ernst ist und feierlich, schreibt Cecco ironisch und anti-idealistisch. Gegen Dantes Beatrice-Verherrlichung und Jenseitsblick setzt er deftig aufs irdische Vergnügen, auf Sex, Wein, Glücksspiel und Geld. Er schreibt sinnenfreudige Gedichte in der Manier der lateinischen Studentenpoesie. Er haßt die Armut und verspottet den allzu hohen Ton. Allem, was edel, erhaben und moralistisch klingt, setzt er Melancholie und Skepsis entgegen. Seine Freundin heißt Becchina; er läßt sie alles sagen, und er sagt ihr alles, was die hohe höfische und theologisierte Liebeslyrik als künstlich und unwahr erscheinen läßt. Hier als Proben Ceccos poetische Klagegedichte über seine Anti-Beatrice. Es wirkt noch der antike Liebesgott. Aber er wird verflucht. Er bringt nur Ärger.
Ch’ella non cura s’i’ ho gioi’ e pene
Men ch’una paglia che le va tra’ piei.
Mal gradi n’abbi Amor, ch’ a le’ mi diène![851]
Ob ich Freude habe oder Leid, das kümmert sie
weniger als ein Strohhalm unter ihren Füßen.
Dieser verdammte Amor! Er hat mich ihr ausgeliefert.
Cecco ist fremdgegangen und will wieder ihre Gunst. Das ergibt folgende Unterhaltung, ein Sonett:
»Becchin’amor.« – »Che vuo’, falso tradito?«
»Che mi perdoni.« – »Tu non ne se’degno.«
»Merzé, per Dio!« – »Tu vien’ molto gecchito.«
»E verrò sempre.« – »Che sarammi pegno?«
»Becchina, Liebchen!« – »Was willst du falscher Betrüger?«
»Daß du mir verzeihst.« – »Das bist du nicht wert.«
»Verzeih mir, Gott zuliebe.« – »Du kommst ziemlich zahm daher.«
»So will ich immer kommen.« – »Was gibt es dafür als Pfand?«
»La buona fé.« – »Tu ne se’ mal fornito.«
»No inver’ di te.« – »Non calmar, ch’i’ ne vegno!«
»In che fallai?« – »Tu sa’ ch’i l’abbo udito.«
»Dimmel, amor.« – »Va, che ti veng’ un segno!«
»Treu und Glauben.« – »Daran haperts bei dir.«
»Aber nicht zu dir.« – »Schmeichle nicht! Sonst komm ich dir!«
»Was hab’ ich denn falsch gemacht?« – »Du weißt: Ich hab davon gehört.«
»Sags mir, Liebe.« – »Geh! Sonst gibts einen Schlag.«
»Vuo’ pur ch’i’ muoia?« – »Anzi mi par mill’anni.«
»Tu non di’ bene.« – »Tu m’insegnerai.«
»Ed io morrò.« – »Omè, che tu m’inganni!«
»Willst du denn, daß ich sterbe?« – »Ich kanns gar nicht abwarten.«
»Du sprichst nicht gut!« – »Das hast du mir beigebracht.«
»Und ich sterbe.« – »Ach, was du mir vorgaukelst!«
»Die tel perdoni.« – »E ché, non te ne vai?«
»Or potess’ io!« – »Tègnoti per li panni?«
»Tu tieni ’l cuore.« – »E terrò co’ tuo guai.«
»Gott verzeih’s dir!« – »Und warum verschwindest du nicht?«
»Ach, könnte ich das!« – »Halt’ ich dich denn am Rock fest?«
»Nein, am Herz.« – »Und das halt ich fest. Damit es dir schlecht geht!«[852]
Ein Liebesdialog ohne Happy-End. Liebe will nicht immer das Gute. Die vulgäre Wortwahl in der feierlichen Form des Sonetts wirkt entsakralisierend und ironisch. Kritik, die vor nichts haltmacht, nicht einmal vor Mutter und Vater, das ist Ceccos Anti-Dante-Welt. Wie Dante redet er von sich, gibt sich in der Rolle des unendlich Enttäuschten, der an gar nichts mehr glaubt, der alles zerstören will, aber sich am Ende mit Weibern vergnügt und den eigenen ernst-nihilistischen Ton dementiert:
S’i’ fosse foco, ardere’ il mondo;
S’i’ fosse vento, lo tempestarei;
S’i’ fosse acqua, i’l’annegherei;
S’i’ fosse Dio, mandereil en profundo;
Wäre ich Feuer, ich würde die Welt verbrennen.
Wäre ich Sturm, ich würde sie verwüsten.
Wäre ich Wasser, ich würde sie ertränken.
Wäre ich Gott, ich würfe sie in den Abgrund.
S’i fosse papa, allor serei giocondo,
ché tutti’ cristiani embrigarei;
s’i’ foss’ imperator, sa’ che farei?
A tutti tagliarei lo capo a tondo.
Wäre ich Papst, dann lebte ich vergnügt,
denn ich machte allen Christen das Leben schwer.
Wäre ich Kaiser, weiß du, was ich täte?
Alle um mich herum machte ich einen Kopf kürzer.
S’i’ fosse morte, andarei a mi’ padre;
S’i’ fosse vita, fuggirei da lui;
Similmente faria da mi’ madre.
Wäre ich der Tod, ich ginge zu meinem Vater.
Wäre ich das Leben, ich würde ihn fliehen.
Mit meiner Mutter machte ich dasselbe.
S’i’fosse Cecco, com’ i’sono e fui,
torrei le donne giovani e leggiadre:
le zoppe e vecchie lasserei altrui.
Wäre ich Cecco, was ich ja bin und auch war,
ich nähme mir die Frauen, die jung sind und reizend.
Die wackligen Alten laß ich den andern.[853]
Mit Ceccos Liebesglück ist es nicht weit her. Sein Leben und seine Lyrik haben keinen festen Boden: Alles schwankt. Cecco stellt die Frau dem Mann selbständig gegenüber, eher überlegen, aber sie repräsentiert nicht die göttliche Ordnung. Sie ist so schlecht wie der Mann, nur auf etwas charmantere Weise. Für die geschichtliche Erkenntnis Beatrices ist wesentlich, daß diese ›realistische‹ oder auch ›naturalistische‹, jedenfalls ironische Position um 1300 belegbar ist. Becco verlangt von Gott kein anderes Paradies; er will nur – wie er in ironischer Rhetorik sagt – den Boden küssen, auf den sie den Fuß setzt.[854] Nicht die Alleinherrschaft Dantes ist das für die Toscana zu Beginn des Jahrhunderts Charakteristische, sondern daß Cecco neben Dante zu Wort kam, übrigens neben anderen Dante-Gegnern.
2.
Ein Autor ist Amor entkommen
Boccaccios Hauptwerk entstand vierzig Jahre später. Das Bild der Frau im Decameron ist weitgestreut, geschichtlich und geographisch; es ist nach Charakterlagen vielfältig; es berührt alle sozialen und ethischen Höhen- und Tiefenlagen. Es zeigt Boccaccios Dante-Nähe in der unvermeidlichen Dante-Ferne.
Liebeslyrik hatte sich soeben verstehen gelernt als Nachsprechen dessen, was Amor in der Seele des Dichters vorsagte. Wenige Jahrzehnte später stellte Boccaccio sein Decameron als das Buch eines von der Liebesleidenschaft Befreiten vor. Er ist den Tyrannen jetzt los; jetzt schreibt er fürsorglich ein Buch für Liebende, vor allem für liebende Frauen. Er schildert erst einmal das reale, das eingeengte Leben von Frauen, auch der mittleren und oberen Schicht. Sie leben in Florenz um 1350 unter der Aufsicht ihrer Männer, Väter, Brüder und außerdem der taliban-artig alles überwachenden Bettelmönche. Sie dürfen nicht allein aus dem Haus gehen; sie heiraten nicht, sie werden verheiratet. Auch Beatrice sah man auf der Straße nie allein; aber ihre Freiheitsbeschränkung war für Dante kein Thema; Boccaccio stellt die Einsperrung der Frauen an den Anfang und erklärt seine Dichtung als Trost, Ablenkung und Horizonterweiterung für die immer eingeengten, liebenden Frauen. Die Vielfalt von Frauenschicksalen soll ihren Mangel an selbständiger Welterfahrung ein wenig ersetzen.
Boccaccio vergöttert die Frauen nicht, er schafft ihnen Erleichterung durch abwechselnde Unterhaltung. Er metaphysiziert nicht, er diversifiziert. Es gab in der Commedia nicht nur eine Frau, seltsam steht Matelda neben Beatrice, Dante ist von ihr erotisch bewegt, aber aufs Ganze gesehen, sieht er nur Beatrice, und er tadelt sich selbst, daß er der reinen Strenge dieser ausschließlichen Beziehung nicht immer nachgefolgt ist.
Schon in der Zielsetzung nimmt das Decameron Bezug auf die Frauen (Proemio 2–12), aber anders als Dante. In dessen Prolog, also in Inferno 1, gesteht der Verfasser, sich durch Unachtsamkeit und Schuld in eine höchst gefährliche Lage gebracht zu haben; nur durch die Intervention des von Beatrice gesandten Vergil sei er auf ungewöhnliche Weise, nämlich durch die Jenseitsreise, gerettet worden. Boccaccio erzählt, Liebe habe ihn immer angetrieben, aber so heftig, so maßlos, daß sie ihm hätte den Tod bringen können, nicht durch die Verweigerung der Geliebten, sondern durch das eigene innere Unmaß. Boccaccio spricht von seinem wirklich drohenden Tod, Dante vergleicht seine Krise mit dem Tod, der nur wenig bitterer wäre (1, 7). Boccaccio fährt fort: In dieser Situation hätten Freunde durch gute Reden ihn gerettet. Und da er Hilfe gefunden habe, denke er dankbar an solche Unterhaltungen zurück und möchte anderen Trost bringen in der Lebensgefahr der Liebe. Mit der Zeit habe der Sturm der Liebe, der ihn an keiner vernünftigen Grenze haltmachen ließ, sich gelegt; Amor habe ihn aus seinen Fängen entlassen; er könne jetzt an das Leiden anderer denken. Sie will er aufmunternd trösten, und diesen Trost hätten Frauen nötiger als Männer. Dann beschreibt er die Lage der Frauen (Dec., Proemio 10–14):
10 Denn sie halten die Flammen der Liebe aus Furcht und Scham im Innern zurück, daß aber heimliche Liebe mehr Gewalt hat als offene, das wissen alle, die sie erfahren haben. Mehr noch: Die Frauen sind eingeengt durch Pläne, Wünsche und Befehle ihrer Väter, Mütter, Brüder und Ehemänner. Die meiste Zeit verbringen sie eingeschlossen im engen Kreis ihrer Zimmer. Sie sitzen wie untätig herum; sie wälzen, freiwillig oder unfreiwillig, die verschiedensten Gedanken hin und her, die nicht immer heiter sein können.
11 Überfällt sie dabei die Melancholie, genährt von feurigem Verlangen, dann setzt sie sich oft in ihrem Geist als schweres Leiden fest, wenn nicht neue Gedanken sie vertreiben. Hinzu kommt, daß Frauen weniger ertragen können als Männer. Sind Männer verliebt, so geschieht ihnen das nicht, wie die Erfahrung deutlich zeigt.
12 Denn werden Männer von einer Art Melancholie oder Schwermut berührt, so finden sie viele Wege, sie zu mindern und zu überwinden. Männer können, wenn sie wollen, in der Stadt herumlaufen, viele Dinge sehen und hören. Sie können Vögeln nachstellen oder auf die Jagd gehen, fischen, reiten, um Geld spielen oder ihre Geschäfte betreiben. Alle diese Tätigkeiten können den Geist, ganz oder teilweise, so fesseln, daß sie uns ablenken von lästigen Gedanken, wenigstens für eine Weile. Danach kommt dann schon, so oder so, irgendein Trost, oder die Qual läßt von selbst nach.
13 Fortuna geizt immer dort mit ihrer Hilfe, wo ohnehin weniger Kraft ist. Das können wir besonders bei den zarten Frauen sehen. Um diesen Fehler der Fortuna etwas auszugleichen, will ich hundert »Novellen« erzählen – nennt sie meinetwegen auch »Fabeln« oder »Parabeln« oder »Geschichten« – als Hilfe und Zuflucht für Frauen, aber nur für jene, die lieben, den anderen genüge Nadel, Spindel und Haspel. Die Novellen wurden an zehn Tagen von einer ehrbaren Gruppe aus sieben Frauen und drei jungen Männern erzählt, die in der Zeit der Pest und des Sterbens, die wir soeben überstanden haben, zusammengekommen waren. Ich füge einige Lieder hinzu, die diese Frauen zu ihrem Vergnügen gesungen haben.
14 Die Novellen handeln von lustvollen und von traurigen Liebesgeschichten und von anderen zufälligen Begebenheiten, die teils im Altertum, teils in neueren Zeiten spielen. Liebende Frauen, die sie lesen, können sich vergnügen an den unterhaltenden Dingen, die darin vorkommen. Auch nützlichen Rat können sie hier finden, indem sie erkennen, was zu vermeiden und was zu erstreben ist. Und wenn sie Vergnügen und Nutzen gefunden haben, dann ist, glaube ich, auch ihr Kummer vergangen.
Dante ging es um die Rettung seiner selbst, Italiens und der ganzen Welt; Boccaccio, nun dem prasselnden erotischen Gewitter entronnen, schreibt für Frauen, die aus Liebe melancholisch werden. Todesnähe am Anfang – das ist bei beiden. Statt metaphysischer und politischer Intervention bringt Boccaccio belehrenden Weltstoff für Frauen. Er schreibt nachdenkliche, oft, nicht immer vergnügliche Unterhaltungen aus zehnfacher Perspektive, die ständig wechselt. Bei Dante standen Himmel, Fegefeuer und Hölle offen zu seiner Rettung; Boccaccio sieht sich jetzt frei vom zerstörerischen Amor und ersetzt himmlische Interventionen, die auch nur erdichtet waren, durch Dichtung. Er schickt sieben Frauen, drei junge Männer in eine Villa am Stadtrand von Florenz zur Zeit der Pest; er erfindet 14 Tage utopischen Außenaufenthalts, von dem alle wissen, wie kurz er sein wird. Ähnlich wie in der Commedia ist der Zeitrahmen eng gespannt. Das Decameron gibt außer in der Einleitung und im Vorwort zum vierten Tag keine Ich-Erzählung, sondern Perspektivismus. Die zehnfach gebrochene Welterfahrung teilt sich auf in viele weitere Sichtweisen und Situationen. Amor ist nicht etwa machtlos geworden; er tritt vielförmig, übermächtig und bedrohlich auf. Schließlich war er auch bei Dante ein grober und rauher Geselle, ängstigend und nachdenklich machend. Amor wird nicht nur und nicht primär mit ›Glück‹ assoziiert. Wie mit anderen großen Weltmächten – Wissen, Zufall, Familie – müssen Frauen lernen, mit ihm umzugehen, damit er nicht schadet (Vita nova, 4, 1–7).
Man hat im Blick auf Boccaccios Proemio von ›Feminismus‹ gesprochen. Doch ist genauer hinzusehen: Dante hat seine Geliebte höher gestellt als je vor ihm ein Dichter seine Frau. Boccaccio zeigt Mitleid, will aufmuntern und trösten. Er fordert für Frauen keine sozial-politische Emanzipation, kein Wahlrecht, kein eigenes Konto; er betreibt literarische Emanzipation, die ins Leben einschneidet. Jetzt hat er Abstand und Durchblick; er will, daß Frauen einen freieren Blick bekommen. Er will sie nicht von sich selbst ablenken durch Erzählstoff aus fremden Leben. Die hundert Geschichten lehren sie, selbst zu beurteilen, was ihnen nutzt und was ihnen schadet.
Boccaccios Dichtung steht im Kampf mit Fortuna, von Anfang an, und sie soll den Frauen helfen, ihren Kampf mit Fortuna besser zu bestehen. Fortuna ist roh; sie schlägt mit Vorliebe auf die weniger Widerstandsfähigen ein, und das sind die Frauen. Boccaccios Erzählungen gehen an gegen diese Sünde der Fortuna, il peccato della Fortuna, daß sie die Schwachen besonders hart trifft.
3.
Die Frau in der ›Commedia‹ und im ›Decameron‹
Es ist ein Werbegag, bestimmte Lesergruppen verbal auszuschließen und sie damit anzulocken, nach dem Motto, ein Film sei für Jugendliche unter 18 Jahren nicht geeignet. Natürlich wollten Männer ein Buch lesen, das nur für Frauen geschrieben worden ist. Sie haben es getan, besonders die reichen Kaufleute von Florenz, die ihre Welt darin konkreter wiederfanden als in der Commedia. Das Decameron war sofort ein großer Erfolg, ohne daß Boccaccio dadurch reich geworden wäre; er blieb arm bis zum Schluß.
Boccaccio erklärt ausdrücklich, es sei ihm gleichgültig, ob man von Novellen spreche oder von favole oder parabole oder istorie (Proemio 13). Er wäre nie auf die Idee gekommen, seine Leser mit einer Theorie der literarischen Gattungen zu beschäftigen; das war eine deutsche Wissenschaftsmarotte der siebziger und achtziger Jahre. Er schreibt für Frauen, die lieben, nicht für alle. Und sie sollen ihr Vergnügen haben, aber den § 14, der dies ankündigt, muß man genau lesen. Denn er redet nicht nur von Vergnügen, sondern sie sollen Freude haben und nützlichen Rat finden, parimente diletto … e utile consiglio. Boccaccio präzisiert dann, worin der Nutzen besteht. Es ist kein Nutzen in der Außenwelt, sondern sie können sich im Leben orientieren lernen; sie können, wenn sie wollen, erkennen, was zu fliehen und was zu erstreben ist. Diese Formel – was zu fliehen, was zu erstreben ist – ist eine klassische, antik-mittelalterliche Formel für philosophische Ethik und Politik; sie findet sich in philosophischen Texten immer wieder, von Cicero bis Thomas von Aquino. Boccaccio erkannte sie zweifellos als solche. Wer diese Formel aus dem philosophischen Sprachgebrauch nicht erkennt, hört nur etwas von Vergnügen und glaubt ein Argument zu haben, Boccaccios Unterhaltungskunst gegen die E-Kunst Dantes absetzen zu können. Aber Boccaccio bietet den Frauen Vergnügen und gleichermaßen, parimente, eine anschauliche Moralphilosophie für Laien. Er gibt eine neue Formel für das alte poetische Programm des prodesse et delectare. Literaturwissenschaftler konnten das verkennen oder übersehen, weil ein Hintergrundkonzept am Werk war, das ihrer Kinderstube entstammte; in ihm galten Vernunft und Ethik als Gegensatz zum Vergnügen. Aber bei Dante und Boccaccio geht es wie bei Aristoteles in der Ethik um Glück.
Hundert Geschichten laden die Frauen ein, über ihre wahren Interessen nachzudenken. Sie können aufmerksam werden auf ihre gesellschaftliche Position. Denn sie sind nicht wie Beatrice die vergöttlichte Frau, die in ewiger Freude lebt und vollkommen über die Welt orientiert ist; Boccaccio beschreibt die reale gesellschaftliche Lage der Frauen und damit auch die der Männer. Er zeigt mehr soziologisches Interesse, aber er beschreibt nicht wertneutral die soziale Realität zwischen Feudalherren, Klerikerinteressen und Kommunen. Er verdammt sie wie Dante. Er schreibt nicht affirmativ die Poesie der mercanti, sondern ihre schonungslose Analyse im Licht absoluter ethisch-politischer Konzepte, was das Wort ›Realismus‹ eher verzeichnet als charakterisiert.
Boccaccio weitet den Blick auf alle sozialen Schichten. Dante sagte selbst, er spreche nur von den Großen. Im Decameron gibt es Könige und Markgrafen, aber auch Bäcker, Bankiers und ihre Frauen. Boccaccio erzählt keine individuelle Erlösungsgeschichte, er zeigt Klassenunterschiede, ihre Gewohnheiten im Sprechen und Leben. Er studiert wie Dante die reale Gesellschaft des 14. Jahrhunderts, ohne theologische Überhöhung. Wie Dante zeigt er auch antike exempla, nicht allzu oft; sie zeigen nicht mehr die Konkordanz von antiker und christlicher Ethik; sie vermehren die Buntheit der Effekte und zeigen bleibende Schwächen der menschlichen Natur.
Boccaccio will mit seinem Decameron die bedrückte Lage der Frau erleichtern. Er nimmt sie nicht als jenseitige Herrin, die wie ein Admiral die irdischen Schiffe inspiziert, sondern als irdische, sinnlich-vernünftige Person, die in der gesellschaftlichen Krise, die er beschreibt, wissen sollte, was ihr wirklich nutzt und was ihr schadet. Er geht deswegen quasi-soziologisch, aber nicht wertfrei auf ihre Verhältnisse ein, bei Fürsten, Städtern und Bauern. Er sieht sie unter dem Druck der Familien; er beschreibt ihre Ausnutzung durch den herrschsüchtigen Klerus, der sie sexuell ausbeutet. Boccaccio stellt die Frau nicht mehr in ein theologisches Schema; seine Weltbetrachtung ist laikal. Eva spielt keine Rolle mehr. Er verspricht keinen jenseitigen Trost, er analysiert das Bedürfnis danach als Priesterbetrug und als Reflex realer Not.
Das Decameron bringt, wie beschrieben, hundert Novellen in Entsprechung zu Dantes hundert canti, zeigt aber keine Dreigliederung in aufsteigender Linie, sondern die bunte Vielfalt von Lebenssituationen. Kein Aufstieg eines einzelnen Subjekts der Handlung, sondern hundert Protagonisten. Deren Geschick belehrt, führt aber nicht zu einem gemeinsamen Gesamtergebnis oder Ziel, außer dem, daß jede Frau ihre Situation durchdenken und finden muß, was ihr wirklich nützt oder schadet. Zwischen den Geschichten bricht die Linie immer ab. Vermutlich hatte Boccaccio schon lange solche Erzählungen gesammelt und hat sie 1349 bis 1351 unter dem Eindruck der Pest in den jetzigen Rahmen gesetzt: Die Pest machte die längst wirkende Auflösung der Familien und Städte unleugbar. Die Zerstörung war vorher da. Das bewies die Commedia. Die Frage war: Wie sollen wir nach der Pest mit dieser Kenntnis gemeinsam weiterleben? Boccaccio setzt nicht mehr auf einen Herrscher als Retter. Er verkündet keinen veltro, keinen DVX. Er erwartet keinen Kaiser mehr; er glaubt nicht, man könne das Papsttum reformieren. Dadurch verkrümeln sich ihm die Lebenslagen, daher braucht er hundert unverbundene Szenen; er sieht keine Führung von oben. Er gibt seiner Novellensammlung eine flexible, eine offen bleibende Gliederung.
Die Buntheit des Stoffs sticht ab gegenüber Dante. Einige der zehn Tage stellt Boccaccio unter ein übergeordnetes Thema: Tag 2 und 3 Fortuna, 4 und 5 Amor, 6, 7 und 8 Einfallsreichtum, ingegno. Man braucht diese Aufzählung nur zu nennen, um zu sehen, daß Boccaccio nicht nur unterhalten wollte; seine Poesie zeigt wie die Dantes die Grundsituationen menschlichen Lebens, die großen Mächte, mit denen Menschen es zu tun haben. Aber Boccaccio läßt zwei themenfreie Tage, die endgültig klarstellen: Er kennt keinen einfachen Ausgangspunkt aller Handlungen. Handlungen führen bei ihm nicht zu einem übergeordneten, einheitlichen, jenseitigen Endziel. Als wäre die genannte Zusammenstellung – Amor, Fortuna, ingegno – schon zuviel an Einheit und Ordnung, hat Dioneo, der als Erzähler eine Sonderrolle spielt, noch das Privileg, innerhalb aller Tage am Schluß eine Novelle mit freiem Thema zu wählen. Das ist geplante, eingebaute Störung einfacher Linien. Lebenschaos drängt zwischen die einzelnen Tage und in sie; es kommt zum Aufstand der ungebändigten Vielheit, Sieg des Nicht-Identischen im Zeichen einer Frau. Wie Beatrice am Anfang und Ende der Commedia steht, so steht Griselda am Ende, aber in einer von hundert Situationen. Kann man noch sagen: als deren höchste? Hierarchien werden im Decameron weitgehend abgebaut: Zwischen Fürst und Untertan, Vater und Tochter, Richter und Angeklagtem. Das Hierarchiemodell des Dionysius ist unkenntlich geworden – im Decameron, sonst kennt der gelehrte Boccaccio natürlich das Buch des Dionysius über die himmlischen Hierarchien.[855]
Im Decameron kommen alle Arten von Männern und Frauen vor, auch solche, die im Zorn frauenfeindlich, frauenverachtend reden, besonders in der Novelle 8, 7. Boccaccios spätere Schrift Corbaccio stellt dieses Problem in dringlicher Form, auch einige Stellen in den historisch-moralistischen lateinischen Schriften der späten Zeit. Gab es im Denken und Gestalten Boccaccios eine Wende? Ist er im Alter zurückgegangen zur traditionellen Misogynie? Ich lasse dieses Problem hier offen. Zum Corbaccio nur soviel: Corbaccio heißt ein Unglücksrabe, ein unzufrieden-unglücklicher Typ. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn er in der Tonart der traditionellen Frauenverachtung redet.
Der zehnte Tag des Decameron ist keine Apotheose einer Frau im Paradies, aber er ist herausgehoben; er exemplifiziert die aristotelische Tugend der megalopsychia, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik nicht nur beschreibt, sondern verherrlicht, bei der aber weder er noch einer seiner Kommentatoren an ein einfaches Bauernmädchen wie Griselda gedacht hätte. Boccaccio kannte die Nikomachische Ethik gut, wie der Codex A 204 inf. der Biblioteca Ambrosiana beweist: Er war so sehr an ihr interessiert, daß er sich mit eigener Hand die ganze umfangreiche Erklärung des Thomas von Aquino dazu abschrieb.[856] Die Griselda der letzten Novelle erweist sich als großgesinnt, ihrem fürstlichen Gemahl überlegen, insofern endet auch das Decameron mit der Krönung einer Frau. Es ist eine Rangerhöhung nach Kriterien der antiken Philosophie, nicht im Himmel, sondern im Speisesaal des Schlosses von Sanluzzo. Griselda ist ausgezeichnet mit dem höchsten Wert der Philosophen. Boccaccio versetzt die Unstudierte in den Himmel der antiken Ethik: Das arme Bauernmädchen übt die Tugend der Fürsten, die Dante an Farinata bewundert hatte. Wer sagt, ihre Tugend passe nicht ins Decameron, vergißt, daß Großgesinntheit (megalopsychia) der Höhepunkt der Ethik des Aristoteles war.
4.
Dantes Beatrice, Boccaccios Elisabetta
Im Decameron 4, 5 erzählt Filomena diese Geschichte:
4 Es lebten in Messina drei Brüder. Die jungen Männer waren Kaufleute, und sie hatten von ihrem Vater, der aus San Gimignano stammte, ein ziemlich großes Vermögen geerbt. Sie hatten eine Schwester namens Lisabetta, eine sehr schöne und anmutige Frau, die sie nur aus irgendeinem zufälligen Grund noch nicht verheiratet hatten.
5 Außerdem hatten die drei Brüder in einem ihrer Lagerhäuser einen jungen Mann aus Pisa namens Lorenzo, der alle ihre Geschäfte leitete und durchführte. Da er ziemlich gut aussah und freundlich im Umgang war, hatte er schon öfter die Blicke Lisabettas auf sich gezogen, doch mit einem Male begann er ihr außerordentlich gut zu gefallen. Lorenzo bemerkte das, ließ nach und nach seine anderen Liebschaften fallen und richtete fortan seinen Sinn nur auf sie. Sie fanden aneinander gleichermaßen Gefallen, und so kam es, daß sie recht bald miteinander trieben, was beiden am meisten Spaß machte, stets darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden.
6 Das ging so eine Weile. Sie hatten eine angenehme Zeit und viel Vergnügen miteinander, immer im geheimen, bis eines Nachts der älteste der drei Brüder sah, wie Lisabetta, ohne ihn zu bemerken, in das Zimmer schlich, in dem Lorenzo schlief. Diese Beobachtung mißfiel ihm sehr, aber da er ein gescheiter junger Mann war, wollte er, immer auf die Familienehre bedacht, kein Aufhebens machen oder irgend etwas sagen, sondern verbrachte die Zeit bis zum Tagesanbruch damit, die Sache nach allen Seiten hin zu überlegen.
7 Am nächsten Morgen erzählte er seinen Brüdern, was er in der vergangenen Nacht beobachtet hatte. Sie beratschlagten lange. Schließlich beschloß er mit ihnen, die Sache totzuschweigen, um ihrem guten Ruf und dem der Schwester nicht zu schaden. Sie wollten so tun, als habe er nichts gesehen und gehört, bis der Zeitpunkt käme, zu dem sie diese Schande ohne Schaden für die Firma aus der Welt schaffen könnten.
8 Sie hielten sich an die Verabredung: Sie scherzten und lachten mit Lorenzo, wie sie es gewohnt waren, bis sie eines Tages unter dem Vorwand, mit ihm zum Vergnügen einen Ausflug aufs Land zu machen, Lorenzo mitnahmen. Als sie an einen sehr einsamen und abgelegenen Ort kamen, nutzten sie die Gelegenheit und töteten den völlig arglosen Lorenzo, ohne daß jemand etwas bemerkte.
9 Nach Messina zurückgekehrt, erklärten sie, sie hätten ihn auf Geschäftsreise geschickt. Dies klang glaubhaft, denn das hatten sie vorher schon oft getan.
10 Da Lorenzo nicht zurückkam, litt Lisabetta unter seiner langen Abwesenheit. Immer wieder befragte sie die Brüder eindringlich nach ihm. Als sie sich einmal besonders leidenschaftlich nach ihm erkundigte, da erwiderte ihr einer der Brüder: »Was soll denn das heißen? Was geht dich Lorenzo an, daß du so oft nach ihm fragst? Wenn du in Zukunft weiter nach ihm fragst, dann kriegst du von uns die Antwort, die du verdienst.«
11 Von da an stellte die junge Frau keine Fragen mehr. Sie litt still und trauerte; sie hatte Angst, ohne genau zu wissen, wovor. In der Nacht aber rief sie sehnsüchtig seinen Namen und flehte ihn an, zurückzukommen. Immer wieder klagte sie unter vielen Tränen über sein langes Ausbleiben. Nichts freute sie mehr; ihr Leben bestand nur noch aus Warten auf ihn.
12 Eines Abends, nachdem sie viel geweint hatte, weil Lorenzo nicht zurückkam, war sie unter Tränen eingeschlafen. Da geschah es in der Nacht, daß ihr Lorenzo im Traum erschien, totenbleich und zerschunden, die Kleider zerfranst und zerfetzt, und ihr war, als sagte er:
13 »O Lisabetta, du rufst ständig nach mir und trauerst, weil ich so lange wegbleibe. Mit deinen Tränen klagst du mich heftig an. Aber du mußt wissen: Ich kann nicht mehr zurückkommen, denn deine Brüder haben mich an dem Tag, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, umgebracht.« Er beschrieb ihr die Stelle, wo sie ihn verscharrt hatten. Er bat sie, ihn doch nicht länger zu rufen und auf ihn zu warten. Dann verschwand er.
14 Die junge Frau wachte auf und fing bitterlich an zu weinen, denn sie glaubte dem Traumgesicht. Als sie dann am Morgen aufstand, nahm sie sich vor, an die bezeichnete Stelle zu gehen und nachzusehen, ob es so sei, wie sie es im Traum gesehen hatte. Ihren Brüdern wagte sie nicht, irgend etwas von dem Traum zu sagen.
15 Aber sie erhielt von ihnen die Erlaubnis, einen Spaziergang außerhalb des Stadtgebietes zu machen, freilich in Begleitung einer alten Dienerin, die in alle ihre Geheimnisse eingeweiht war. Sobald sie nur konnte, ging sie zu der Stelle. Sie schob die dürren Blätter beiseite, die dort lagen, und begann zu graben, wo das Erdreich weniger hart war. Sie hatte kaum damit begonnen, da fand sie die Leiche ihres armen Liebhabers. Sie war noch in keiner Weise verwest oder zersetzt. So erkannte sie, daß ihr Traum offensichtlich wahr war.
16 Da erfaßte sie ein Schmerz, wie noch keine Frau ihn je erlitten hat. Sie erkannte, daß dies nicht der Ort war zu weinen. Am liebsten hätte sie den ganzen Körper mitgenommen, um ihn angemessen zu beerdigen. Aber weil sie sah, daß das nicht möglich war, schnitt sie mit einem Messer, so gut sie konnte, den Kopf vom Rumpf ab, schlug ihn in ein Handtuch ein, übergab ihn der Dienerin, warf unbeobachtet Erde über den Rumpf und brach nach Hause auf.
17 Dort schloß sie sich mit dem Kopf in ihr Zimmer ein, beugte sich über ihn und weinte lang und bitter. Sie weinte so sehr, daß ihre Tränen ihn über und über benetzten. Dabei bedeckte sie ihn mit Küssen, überall. Dann nahm sie einen großen schönen Topf, einen von denen, in die man Majoran oder Basilikum pflanzt, und legte den Kopf hinein, in ein feines Tuch gewickelt. Sie bedeckte ihn mit Erde, setzte einige Pflänzchen von schönstem salernitanischem Basilikum hinein und begoß ihn nur mit Rosenwasser, mit einer Essenz aus Orangenblüten oder mit ihren Tränen.
18 Sie nahm die Gewohnheit an, ständig neben diesem Topf zu sitzen und ihn voller Sehnsucht anzuschauen, barg er doch in sich ihren Lorenzo. Wenn sie ihn lange angeschaut hatte, dann beugte sie sich über ihn und begann zu weinen, lange, lange, bis das Basilikum ganz benetzt war mit ihren Tränen …
23 Die junge Frau aber hörte nicht auf zu weinen und nach ihrem Basilikumtopf zu verlangen. Sie weinte sich zu Tode, und so fand ihre unglückliche Liebe ein Ende. Aber nach einiger Zeit erfuhren viele Menschen von dem Vorfall. Und einer von ihnen komponierte das Lied, das man bis zum heutigen Tag singt:
Wer war es,
wer war nur der Schuft,
der mir den Topf mit Kräutern stahl,
und so weiter.
Boccaccios Elisabetta ist die äußerste Gegengestalt zu Beatrice: Die Frau nicht als Himmelsherrin, sondern eine Liebende, schwach, gedemütigt, in den Wahnsinn getrieben. Die Kaufmannswelt ist der Liebe nicht günstig; Boccaccios Variation über ein Volkslied hat nichts Beruhigendes. Wer sagt, Boccaccio erzähle nur zum Vergnügen, hat diese Novelle nicht beachtet. Diese Frau hat das Inferno auf Erden. Kein Engel tröstet; kein Gericht gibt ihr recht. Die drei Brüder verlassen Messina und treiben ihr Geschäft anderswo weiter. In der äußeren Welt siegt der Geschäftsgeist. Der Schmerz dieser Frau lebt nur in dem melancholischen Lied. Diese mercanti planen kaltblütig, sind um den Ruf der Firma und die Heiratsfähigkeit der Schwester besorgt. Über deren Hochzeit entscheiden sie; wenn es nicht in ihrem Sinn läuft, verüben sie einen ›Ehrenmord‹. Sie täuschen Fortdauer der Freundschaft mit Lorenzo vor und bringen ihn um.
Diese Novelle ist auch nur eine von hundert, eine Teilaufnahme, gedichtet mit so viel Faktenfülle, wie nötig ist, um die Kaufmannswelt zu durchschauen und Anteil zu geben am Schicksal einer liebenden Frau. Sie betritt Neuland gegenüber der Commedia: poetisch, sozial, ethisch.[857]
Die Novelle von Elisabetta zeigt die Frau als Opfer. Sie stirbt dem ermordeten Geliebten nach. Sie erklärt nichts mehr – in einem Buch, in dem sonst toskanisch-viel geredet wird. Sie tritt im Wahnsinn ab. Sie verläßt stumm eine Welt, deren Schändlichkeit wir jetzt wissen, begeht sie doch noch Verbrechen, indem sie schweigt wie Elisabettas hinterlistige Brüder. Dies muß in Erinnerung halten, wer Dante und Boccaccio in Beziehung setzt. Das verändert konventionelle Bilder.
Aber nicht das Bild der leidenden Liebenden ist der Hauptakzent, den das Decameron dem Nachdenken über Frauen hinzugefügt hat. Noch hervorstechender ist das Interesse Boccaccios an der unüberwindlichen Selbständigkeit, die Frauen gerade in Not und Erniedrigung beweisen. Sie verwandeln ihre Niederlage in Sieg. Männer, die herrschen wollen, degradieren sie zum Objekt ihrer Regeln und ihrer Beschlüsse; aber sie behaupten sich und beweisen die Schwäche der scheinbar Starken. Sie zeigen der Welt, was ein Subjekt ist. Sie vollbringen, was Dante im vierten canto des Paradiso von Konstanze verlangt, was diese aber nicht gekonnt hat. Das Decameron hat gegenüber Dante nicht nur den sozialen Umkreis der Poesie erweitert, es hat nicht nur eine neue Diktion für neue Schichten erfunden; es führt eine außerordentliche intellektuell-mentale Vertiefung des Ichbewußtseins vor und spricht sie ausgerechnet Frauen zu. Elisabetta verstummt in ihrem Wahn, aber es gibt eine Reihe von Geschichten, in denen die Frauen reden: Madonna Filippa aus Prato zeigt sich unerschrocken vor Gericht, bekennt sich dazu, mit einem Mann, mit dem sie nicht verheiratet ist, geschlafen zu haben. Sie erreicht die Abschaffung des grausamen Strafgesetzes für Ehebrecherinnen (Dec. 6, 6).
Diese Rückständigkeit ist nur in Prato möglich, dachte und denkt heute noch jeder Florentiner. Solch urtümlich-rohe Gesetze haben wir hier am Arno nicht.
Sehen wir zunächst auf die Rolle der Männer: Rinaldo erwischt seine Frau beim Ehebruch. Er will sie umbringen, verlangt dann aber von den Gesetzen der Stadt, was ihm verboten ist. Er hat eine seltsam-archaische Auffassung von der Rechtsordnung. Er fragt nicht, warum seine Frau einen Liebhaber braucht; seine sexuellen Kapazitäten sind so beschränkt wie seine intellektuellen. Auffallend übereifrig bestätigt er: Sie hat ihm alles gegeben, was er brauchte. Filippa dreht die Situation um; die angeklagte Ehefrau blamiert den Ankläger. Sie redet nicht mit ihm, sondern läßt ihn durch den Podestà befragen. Auch das eine Umkehrung. Sie ist die Herrin der Situation, gerade indem sie nicht auf die Schlaumeier hört, die ihr geraten haben, nicht zum Termin zu kommen, und indem sie verächtlich die Einladung des Podestà ignoriert, sich durch eine Lüge zu retten. Wenn alles nicht so lustig wäre, könnte man sagen, das klinge fast nach Schiller, die Frau als transzendentales moralisches Subjekt, die es für gleichgültig erklärt, was ihr die Außenwelt antut. Ihre Liebe, gerade auch die körperliche, das ist sie selbst, und sie steht zu sich. Dieses Selbstverhältnis war, wenn ich nichts übersehe, in der Commedia kein Thema. Wenn es bei Beatrice vorhanden war, wurde es durch nichts in Frage gestellt. Sie tritt erst auf, als alle Versuchungen und Abhängigkeiten schon vorbei waren. Die Frauen im Decameron, jedenfalls einige leitende Figuren, müssen das erst erringen. Das können sie nur, weil sie todbereit sind. Billiger ist ihre Emanzipation nicht zu haben. Sie bestehen in der sozialen, in der sinnlichen Welt, weil sie sich und ihre Liebe von ihr intellektuell abgetrennt haben.
5.
Das Recht der Frau auf geschlechtliche Liebe
Es lag Sprengkraft in diesem Selbstbewußtsein, in dieser Selbststilisierung der Frau zum freien Menschen. Das zeigt die Rede der Ghismonda, bevor sie sich den Tod gibt, ein Opfer der Liebe wie Dantes Francesca. Ghismonda war die Tochter des Fürsten von Salerno. Ihr Vater hat sie mit einem seiner Diener, Guiskard, im Bett angetroffen. Hier ihre Rede vor ihm aus Decameron 4, 1:
30 Ghismonda entnahm den Worten ihres Vaters, daß ihre heimliche Liebe entdeckt und daß Guiskard gefangen war. Sie fühlte unendlichen Schmerz, und sie war nahe daran, ihn, wie Frauen es oft machen, mit Schreien und Tränen zu zeigen. Aber ihr stolzer Sinn besiegte sofort diese niedrige Anwandlung. Mit bewundernswerter Kraft verschloß sie ihr Gesicht, und ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, für ihr Leben zu betteln, beschloß sie, ihrem Leben ein Ende zu setzen; sie war überzeugt, Guiskard sei schon tot.
31 Dann ergriff sie das Wort, nicht wie eine Frau, die der Schmerz überwältigt, oder wie eine, die man bei einem Vergehen ertappt hat, nein, sie sprach selbstbewußt und ohne auf die Folgen zu blicken. Mit tränenlosem, offenem Gesicht, in gar keiner Weise unsicher, sagte sie zum Vater: »Tankred, ich bin entschlossen, weder zu leugnen noch zu betteln. Leugnen würde mir nicht helfen; vom Betteln will ich nicht, daß es mir hilft. Außerdem habe ich nicht die mindeste Absicht, deine sanfte Natur oder deine Liebe zu mir in Anspruch zu nehmen und dich mir günstig zu stimmen. Vielmehr will ich dir die Wahrheit sagen. Ich werde zuerst meinen Ruf verteidigen, und zwar mit Gründen, die schlicht wahr sind. Danach werde ich handeln, mit äußerster Kraft, wie es der Größe meines Geistes entspricht.
32 Es ist wahr, daß ich Guiskard geliebt habe. Ich liebe ihn noch, und ich werde ihn lieben, solange ich lebe, was nicht mehr lange sein wird, und wenn es nach dem Tod überhaupt noch Liebe gibt, dann werde ich nie aufhören, ihn zu lieben. Ich habe das getan, nicht so sehr aus weiblicher Schwäche als wegen seines überragenden Wertes; schließlich war auch Euer Eifer, mich wieder zu verheiraten, ziemlich gering.
33 Tankred, es müßte dir doch klar sein, daß du, der du doch auch aus Fleisch und Blut bist, eine Tochter gezeugt hast, die nicht aus Stein oder Eisen ist, sondern auch aus Fleisch und Blut. Wenn du jetzt auch ein alter Mann bist, so solltest du dich doch daran erinnert haben, ja du solltest dich jetzt noch daran erinnern, was die Gesetze der Jugend sind und mit welcher Wucht sie wirken. Wenn du auch ein Mann bist, der seine besten Jahre mit Militärübungen verbracht hat, so solltest du trotzdem wissen, welche Wirkung Müßiggang und Wohlstand auf Alte wie auf Junge ausüben.
34 Ich bin also, da du mich gezeugt hast, aus Fleisch und Blut, und außerdem bin ich noch jung, habe ich doch noch nicht lange gelebt. Das sind zwei gute Gründe, warum ich voll bin von sinnlichem Verlangen. Dadurch, daß ich schon verheiratet gewesen bin, hat dieses Begehren ungeheuer zugenommen; schließlich habe ich erfahren, welche Lust es bringt, es zu befriedigen.
35 Das waren Gewalten, denen ich nicht widerstehen konnte, und ich als Frau, als junge Frau, habe beschlossen, ihnen dorthin zu folgen, wohin sie mich zogen. Deshalb habe ich mich verliebt. Gewiß, ich war entschlossen zu tun, wozu diese Sünde, die unsere Natur ist, mich trieb, aber ebenso habe ich alle meine Kraft darangesetzt, daß, soweit als möglich, weder dir noch mir Schande daraus erwachsen sollte.
36 Dazu hatten Amor in seinem Mitleid und eine wohlgesinnte Fortuna einen verborgenen Weg gefunden und mir gezeigt; auf ihm kam ich an das Ziel meiner Wünsche. Niemand hat etwas bemerkt. Gleichgültig, wer es dir gezeigt hat, gleichgültig, von wem du es erfahren hast: Ich leugne überhaupt nichts.
37 Ich habe Guiskard nicht aus Zufall, wie viele Frauen es tun, zum Liebhaber genommen, nein, ich habe ihn mit wohlüberlegtem Beschluß allen anderen Männern vorgezogen; ich habe mir einen eigenen klugen Plan ausgedacht, wie ich ihn zu mir kommen ließ; und es war weise Beständigkeit, von ihm wie von mir, daß ich mein leidenschaftliches Begehren so anhaltend und mit Genuß befriedigen konnte.
38 Du wirfst mir vor, die Sünde der Liebenden begangen zu haben, aber wenn ich mich nicht täusche, wirfst du mir mit größerer Schärfe vor, daß ich mich mit einem Mann niederen Standes zusammengetan habe. Du wärst mir weniger böse, wenn ich dazu einen Mann von Adel gewählt hätte. Aber damit folgst du einem vulgären Vorurteil, nicht der Wahrheit. Du begreifst offenbar nicht, daß du dann ja nicht meinen Fehler, sondern den der Fortuna tadelst; sie erhöht oft Nichts-Würdige und läßt die Würdigsten fallen.
39 Aber lassen wir das jetzt, wirf nur einmal einen Blick auf den Ursprung der Dinge. Dann siehst du: Wir sind alle Fleisch aus einem einzigen Fleisch, und ein einziger Schöpfer hat alle Seelen mit gleichen Kräften, mit gleichen Fähigkeiten und mit gleicher Tugend erschaffen.
40 Gleich kamen wir auf die Welt, gleich kommen wir auch jetzt noch zur Welt. Das erste, was Unterschiede zwischen uns schuf, war die Tugend. Wer mehr davon hatte und mehr danach handelte, den nannte man ›adlig‹, im Unterschied zu dem Rest, der nicht adlig war. Später kam die entgegengesetzte Gewohnheit auf; sie hat dieses Gesetz nur verdunkelt, nicht aufgehoben. Weder aus der Natur noch aus den menschlichen Sitten ist es verschwunden. Deshalb ist in Wirklichkeit jeder, der tugendhaft handelt, von Adel. Nennt man ihn anders, dann liegt der Fehler nicht bei dem, der so falsch benannt wird, sondern bei dem, der ihn falsch bezeichnet.
41 Sieh dir die Männer unter deinen Edelleuten näher an, prüfe ihr Leben, ihre Sitten und ihr Benehmen, und dann vergleiche sie mit Guiskard. Wenn du ohne Leidenschaft urteilst, dann wirst du urteilen, daß er der Vornehmste ist. Alle deine Adligen sind dagegen nur Tölpel. Was die Tugend und den Wert Guiskards angeht, so habe ich mich dabei nicht auf das Urteil anderer Leute verlassen; ich habe einzig auf deine Worte und auf meine Augen gebaut.
42 Warst du es nicht selbst, der ihn am meisten gelobt hat, und zwar unter allen Hinsichten, unter denen ein guter Mann Lob verdient? Darin hattest du völlig recht, denn wenn meine Augen mich nicht getäuscht haben, dann habe ich selbst gesehen, daß er das Vortreffliche, das du an ihm gelobt hast, auch tatsächlich vollbracht hat, wunderbarer noch, als deine Worte es ausdrücken konnten. Bin ich dabei getäuscht worden, dann ganz allein von dir.
43 Wirst du also weiterhin behaupten, ich hätte mich mit einem Mann niederer Herkunft zusammengetan? Dann behauptest du die Unwahrheit. Würdest du behaupten, ich habe mich mit einem armen Mann eingelassen, dann könnte ich dir recht geben, aber dann müßtest du dich schämen, daß du einen so ausgezeichneten Diener, einen so tüchtigen Mann, so schäbig belohnt hast. Armut schließt Adel nicht aus; sie ist unvereinbar nur mit Besitz. Viele Könige und viele große Fürsten sind früher einmal arm gewesen, und viele Feldarbeiter und Schafshirten waren früher einmal steinreich. Das gilt nicht nur für früher, sondern auch für heute.
44 Das letzte Problem, das du aufgeworfen hast, nämlich was du mit mir anfangen wirst, das kannst du schlicht vergessen. Wenn du die Absicht hast, in deinem hohen Alter grausam gegen mich zu sein, was du als junger Mann nie warst, dann rase nur grausam gegen mich, die ich der Hauptgrund bin für diese Sünde, wenn es denn überhaupt eine Sünde ist. Ich bin nicht bereit, dich irgendwie anzuflehen. Daher kannst du sicher sein, wenn du mit mir nicht das gleiche machst, was du mit Guiskard getan hast oder tun wirst, so werden meine eigenen Hände es tun.
45 Jetzt weg mit dir, mach daß du fortkommst, weg zu den Frauen! Dort kannst du deine Tränen vergießen. Wenn du aber glaubst, wir hätten es verdient, dann entscheide dich für die Grausamkeit, nur töte uns beide mit einem einzigen Schlag.«
Der Fürst nimmt die Todesankündigung nicht ernst, beschließt, die Tochter zu schonen; er läßt Guiskard umbringen und schickt Guiskards Herz in einer goldenen Schale seiner Tochter. Sie weiß sofort, worum es sich handelt, übergießt das Herz, wie zur Bestattung, mit ihren Tränen, und bereitet das Gift vor, sich zu töten. Über religiöse Bedenken fällt kein Wort. Sie will ihre Seele mit seiner verbinden. Das Jenseits nennt sie eine ihr unbekannte Gegend. Sie ist aber überzeugt, daß die Seele Guiskards sie erwartet.
Sie nimmt das Gift, zelebriert ihre Selbsttötung, zeremoniell. Die Dienerinnen unterrichten Tankred, er kommt und beginnt heftig zu weinen.
60 Aber die vornehme junge Frau sagte ihm: »Tankred, hebe dir diese Tränen auf für ein Geschick, das weniger herbeigesehnt worden ist als meines. Hebe sie für einen anderen auf, ich will sie nicht. Wie kann man beweinen, was man selbst gewollt hat? Außer bei dir hat das noch nie jemand gesehen.«
Sie bittet darum, mit Guiskard begraben zu werden. Das wird ihr gewährt.
Boccaccio sieht Ghismonda nicht in der souveränen Position Beatrices, sondern im Verhältnis zu ihrem Vater, der denkt, die Tochter gehöre ihm. Boccaccio denkt das Liebespaar antikisierend im Konflikt zwischen den beiden Weltmächten Fortuna und Amor, ausgetragen an einem kleinen Diener am Hof. Boccaccio verfolgt nicht die innere Entwicklung Guiskards; ihn interessiert die Frau in ihrem Verhältnis zum Vater. Der läßt Guiskard gefangennehmen, sucht Ghismonda in ihren Gemächern auf und wirft ihr zweierlei vor: unverheiratet mit einem Mann geschlafen zu haben, und dann auch noch mit einem Mann niederster Rangstufe. Auf beide Punkte geht sie argumentierend ein.
Das Herz in goldener Schale und die Bestattung durch Tränen stellen diese Novelle in die Nähe des volkstümlichen Stils der Elisabetta-Geschichte, aber Ghismonda hebt den Konflikt auf eine theoretische Ebene. In ihrer Rede argumentiert sie scholastisch wie Beatrice, beweisend und widerlegend. Sie kehrt die Verhältnisse um – zwischen Vater und Tochter, Souverän und Abhängiger, zwischen Täter und Opfer. Sie redet den Fürst mit Vornamen an, was sich nicht gehörte; sie, die Frau, belehrt den Vater. Sie verteidigt ihr Recht auf Jugend und auf geschlechtliche Liebe; sie beruft sich auf die Natur, der zu widerstehen sinnlos ist, der zu folgen keine Sünde sein kann. Sie spricht von einer naturgemäßen Sünde, einem natural peccato (§ 35). Wenn sie der Natur entspricht, ist sie gerechtfertigt. Beide weinen, aber sie beherrscht ihr Weinen, er zerfließt. Auf den doppelten Vorwurf antwortet sie ausführlich mit einem doppelten Argument:
Erstens: Sie ist jung, ist aus Fleisch und Blut, kennt aus ihrer kurzen Ehe den Genuß der Sexualität, zu der die Natur selbst treibt. Sie verteidigt ihre Liebe, ihre körperliche Liebe; sie weist es zurück, sie entstamme ihrer weiblichen Schwäche, feminile fragilità (§ 32), nein, sie hat nachgedacht, die Hofleute kritisch besehen und frei gewählt. Sie hat beschlossen, sich zu verlieben, sie ist nicht zufällig, per accidente, an Guiskard geraten (§ 37). Sie bekennt sich zu ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, concupiscibile desiderio (§ 34).
Zweitens: Tankred habe den konventionellen, den falschen Begriff von Adel. Adel bemesse sich in Wahrheit nach virtù, Tüchtigkeit und Tugend, nicht nach sozialem Rang und Reichtum. Adel ist mit Armut vereinbar. Tankred teilt die populären Vorstellungen von der Armut, aber sie unterliege der Fortuna und sage nichts über den Wert des Menschen. Macht und Reichtum sind zufällig, sind fortunabedingt; sie zählen nicht gegenüber dem wahren Adel, der virtù. Das sind Dantes Ideen, vor allem aus dem Convivio.
Ghismondas Suizid bleibt außerhalb der Diskussion. Seine Rechtfertigung bedarf keiner Worte – so wenig wie bei Cato in Dantes Purgatorio. Die Todesbereitschaft gibt ihr wie der Filippa die Unabhängigkeit; sie bettelt nicht um Nachsicht. Sie schließt mit ihrem Leben selbständig ab. Sie spricht frei und stolz, der Vater weinerlich und aus Selbstmitleid. Sie vertauscht die Rollen – von Oben und Unten, von Subjekt und Objekt der Handlung –, indem sie Wahrheit, Natur und Eigenwillen gegen Konvention, Macht und Reichtum stellt. Ghismonda verbindet in ihrer explizit theoretischen Position den Naturalismus körperlicher Liebe mit dem Selbstbewußtsein des hochgemuten Sinns, des animo altiero, der von wunderbarer Kraft, meravigliosa forza, sei und sich durchsetze gegenüber Zwang und Gefühlsschwäche (§ 30). Der Naturalismus in Ghismondas Rede stammt nicht von Dante, sondern aus antiken Quellen und Texten des 12. Jahrhunderts, die Boccaccio gründlich kannte; aber die Konzepte von Willensfreiheit, von Adel, von Reichtum und Armut sind die Dantes. Aber das ideengeschichtliche Ereignis ist: Eine Frau eignet sich das von der Philosophie ermöglichte Selbstbewußtsein eines Weisen an. Ghismonda löst Weisheit, die weibliche Vokabel, ab von der bisherigen De-facto-Identifizierung mit Männlichkeit, und das war nicht möglich ohne das Vorbild der Beatrice. Doch war von deren körperlicher Liebe oder von ihrer freien Wahl des Geliebten nie die Rede. Insofern stehen wir vor einem neuen Stadium. Nicht nur kommen im Decameron die sozialen Probleme der Liebe an, Vater-Tochter, Dienstherr-Diener, nicht nur ruiniert sich jetzt ein fürstlicher Vater, weil er seine Tochter als etwas ansieht, was ihm gehört; vor allem spricht sich ein weibliches Selbstbewußtsein aus, das sich hochtheoretisch auf Natur und Geist, auf animo und besonnene Wahl stützt. Boccaccio steht Dante und der Philosophie viel zu nahe, um nur zum Vergnügen zu erzählen; er scheut nicht begrifflichen Aufwand und abstrakte Rhetorik, um ein neues weibliches Selbstbewußtsein irdischer Frauen auszusprechen, in einer geschichtlichen Situation, die sich von der Dantes weit entfernt hat, mit einer neuen philosophischen Reflexion, die die metaphysischen Konzepte von animo und intelletto, die bei Dante führend waren, mit Naturalismus, also mit Anerkennung der Gesetze der Biosphäre und der Jugend verbindet.
6.
Figuren der Frauenemanzipation
Im Decameron gibt es eine aufsteigende Reihe von Frauenfiguren: Elisabetta, Ghismonda und Filippa. Sie kommen von Beatrice her und bilden zugleich einen Kontrast zu ihr. Sie zeigen, wie die intellektuelle Entwicklung in Florenz nach Dantes Tod weitergegangen ist. Diese Linie führt zuletzt zu Griselda; sie ist nicht zufällig die Protagonistin der letzten Novelle des Decameron. Zu dieser letzten Novelle mache ich nur wenige Bemerkungen.[858]
Das Decameron erklärt sich im Proemio 14 als anschauliche, vergnüglich vorgetragene Moralphilosophie, besonders für Frauen. Der zehnte Tag steht unter der Leitidee der aristotelischen Tugend der hohen Gesinnung, der magnificenzia. Um sie historisch einzuordnen, muß man wissen: Großgesinntheit und Weisheit sind ebenso wie Standhaftigkeit (constantia), aber auch wie Geduld und Demut (patientia und humilitas) bereits antik-philosophische Tugenden; sie sind keine spezifisch christlichen Werte. Boccaccio nennt Griselda weise, savia (§ 38), von geduldigem Geist, paziente animo (§ 36). Immer wieder kommen die Leitbegriffe: animo – constantia und humilitas, auch pazienzia (§ 58 und 61) und humilitas (§ 33). Boccaccio kannte diese Tugenden antiker Philosophen nachweislich aus Senecas Texten. Er stellt eine arme Frau als deren Typus vor uns, gegen den Fürsten abgesetzt, der von Zweifeln geplagt, sich in seelischer Unreife handfeste Beweise verschaffen will, wofür es sie nicht gibt, nämlich daß er geliebt wird. Griselda erträgt das mit stoischem Gleichmut; ihr Selbstverständnis formuliert Boccaccio mit Hilfe von stoischen Texten. Sie spricht wie Seneca, auch wenn volkstümliche Bilder wie Kleiderwechsel und fingierter Tod von Kindern nicht fehlen.
Griselda spricht nicht wie die Gottesmutter. Sie betet nicht zu Maria. Sie ist in größter Not, verzichtet auf alles, selbst auf die Kinder, aber kein Gebet kommt über ihre Lippen, so wenig wie Elisabetta oder Ghismonda. Die christliche Religion ist in all diesen extremen Lagen abwesend; sie hat keine Lebensbedeutung mehr – für Frauen in größter Not. Die Frau hat gelernt, sich der Fortuna entgegenzusetzen; ein Bauernmädchen beweist wahren Adel. Sie tritt auf: identisch mit sich, ohne den Gesichtsausdruck zu verändern, senza mutar viso (§ 28 und 31), selbst nach der Wegnahme ihres Kindes. Sie bleibt wie der stoische Weise flexibel in allem, was der Fortuna unterliegt. Der Markgraf Gualtieri, von tierischer Stumpfheit, matta bestialità (§ 39), erweist sich trotz seiner Macht so schwach wie der Mann der Filippa oder wie Fürst Tankred. Die Frau steht für geistige Konzentration, für Geist, animo, und Wahrheit, aber auch für Armut. Alle genannten Frauen werden bedrängt und bedroht von willkürlich handelnden Männern. Sie halten ihr individuelles Lebensgesetz durch. Dies ist möglich. Das beweisen die Novellen, deren naturalistische Elemente von Dante abweichen, die aber seinen Freiheitsbegriff, sein Adelskonzept und seine Fürstenkritik fortsetzen. Die Schlußnovelle beweist doch, wie Dioneo sagt: Es gibt Fürsten, die würdiger wären, Schweine zu hüten, als Herrschaft auszuüben über Menschen (§ 68).
Boccaccios Herrscherkritik klingt so hart wie die Dantes. Seine Frauen – nicht alle, aber die erwähnten: Ghismonda, Philippa, Griselda – haben von Beatrices Souveränität profitiert und sind zugleich ins soziale Leben versetzt. Philippa und Ghismonda bestehen sogar auf dem Recht sexueller Selbstbestimmung. Davon war bei Dante nicht die Rede. Rhetorisch lehrhaft sind auch sie, wie Beatrice es war. Sie sind ihre realen Erben. Aber in der irdischen Welt.