Canto 4
Mühsam erklettern die Dichter einen steilen Felshang. Ein freier Platz erlaubt eine Ruhepause. Vergil erklärt die Geographie des Berges, besonders sein Verhältnis zur Sonne, die im Norden steht. Die Dichter setzen die Wanderung fort und treffen Träge, die ihre Reue verschoben haben, darunter Dantes Landsmann Belacqua.
1 Packt Freude oder Schmerz eines unserer Seelenvermögen, dann versammelt die Seele sich ganz bei diesem, als erstrecke sie sich auf keine andere Fähigkeit. Und das spricht gegen den Irrtum, der behauptet, in uns lebten mehrere Seelen, eine über der anderen. Wer daher etwas hört oder sieht, was die Seele heftig bewegt, dem geht die Zeit vorbei, und er merkt es nicht. Denn es ist ein anderes Vermögen, das etwas hört, und ein anderes, das die Seele als Ganzes hat. Das erste ist wie eingebunden, das zweite ist abgelöst.[274]
13 Das habe ich selbst erfahren, als ich diesem Geist bewundernd zuhörte. Denn die Sonne stand schon gut fünfzig Grad hoch, und ich hatte es gar nicht bemerkt, als wir an einem Ort angekommen waren, wo jene Seelen zusammen uns zuriefen: »Hier ist, was ihr sucht!«
19 Wenn die Traube reift und der Landmann die Wingerte mit Dornengestrüpp verschließt, dann ist der schmale Einlaß breiter als der Pfad, den mein Führer hinaufstieg, und ich hinter ihm. Wir waren allein. Die Schar hatte sich von uns getrennt. Man steigt hinauf in San Leo, man steigt ab in Noli; man klimmt hoch in Bismantova und in Cacume, aber nur mit den Füßen, doch hier muß der Mensch fliegen, ich meine: mit flinken Flügeln und Federn großer Sehnsucht, immer meinem Begleiter nach, der mir Hoffnung gab und Licht schuf.
31 Wir stiegen auf zwischen geborstenen Felsen. Von beiden Seiten bedrängten uns die Ränder. Der Boden unter uns forderte Hände und Füße. Als wir am äußersten Rand des Steilufers standen, vor uns ein offener Abhang, da fragte ich: »Mein Meister, welchen Weg nehmen wir?« Und er zu mir: »Dein Schritt weiche nach keiner Seite ab! Nur immer den Berg hinauf, mir nach, bis ein Begleiter erscheint, der sich auskennt.«
40 Die Spitze des Berges war höher, als wir sehen konnten, und der Abhang war steiler als die Linie, die von der Mitte eines Kreisviertels zum Zentrum geht. Ich war erschöpft, und ich begann: »Oh, lieber Vater, dreh dich um und schau, wie ich allein zurückbleibe, wenn du nicht stehenbleibst.« »Mein Sohn«, sprach er, »zieh dich bis hierhin hinauf!«, und er zeigte mit dem Finger auf einen Vorsprung, wenig höher, der sich von da an rings um den Berg windet. Seine Worte spornten mich so sehr an, daß ich mich anstrengte, hinter ihm herzukriechen, bis der Felsgürtel unter meinen Füßen lag. Hier setzten wir beide uns nieder, nach Osten gewandt, von woher wir aufgestiegen waren – so zurückzublicken, pflegt Menschen zu erfreuen. Ich richtete die Augen zuerst auf die Ufer in der Tiefe, dann hob ich sie auf zur Sonne und wunderte mich, daß sie uns von links her traf. Der Dichter bemerkte sehr wohl, daß ich verblüfft war über den Feuerwagen von Licht, der vom Norden her auf uns zukam. Darauf er zu mir: »Wären die Zwillinge Kastor und Pollux in der Nähe des Spiegels, der sein Licht oben wie unten verbreitet, dann sähest du den rötlichen Tierkreis noch näher an den Bären, es sei denn, er verläßt seinen alten Weg.[275] Wenn du, ganz konzentriert, denken willst, wie das möglich sei, dann stelle dir vor: Sion und dieser Berg stehen auf der Erde sich so gegenüber, daß beide den gleichen Horizont haben, aber unterschiedliche Hemisphären. Dann siehst du: Die Straße, die Phaethon nicht recht zu befahren verstand, kommt für diesen Berg von der einen, für den Sionsberg von der anderen Seite her – wenn dein Intellekt die Dinge klar sieht.« »Gewiß, mein Meister«, sagte ich, »niemals sah ich so klar wie jetzt. Wo mein Verstand offenbar versagte, das verstehe ich nun: Der mittlere Kreis der Himmelsbewegung, der in einer bestimmten Wissenschaft ›Äquator‹ heißt und immer zwischen Sonne und Norden bleibt, liegt aus dem Grund, den du nennst, von hier aus gegen Norden, während die Hebräer ihn gegen den heißen Erdteil hin sahen.[276]
85 Aber, wenn es dir recht ist, wüßte ich gern, wie weit wir noch zu gehen haben, denn der Berg reicht weiter, als meine Augen hinaufgehen können.« Und er zu mir: »Dieser Berg ist so beschaffen, daß der Anfang des Aufstiegs immer schwer ist, aber je weiter man hinaufkommt, um so weniger Mühe macht er. Erst wenn dir das Hinaufgehen so leicht fällt wie dem Schiff die Fahrt flußabwärts, dann bist du am Ende dieses Wegs. Dort oben kannst du dich von der Anstrengung ausruhen. Mehr sage ich jetzt nicht; aber das weiß ich mit Gewißheit.«
97 Kaum hatte er dies ausgesprochen, da ertönte aus der Nähe eine Stimme: »Aber vielleicht mußt du dich vorher noch einmal hinsetzen?« Als die Stimme ertönte, drehten wir beide uns um und gewahrten zur linken Hand einen großen Felsklotz, den weder ich noch er vorher bemerkt hatte. Dahin zogen wir uns, und dort im Schatten hinter dem Felsen lagerten Leute – wie ein Mensch, der es sich aus Nachlässigkeit bequem macht. Und einer von ihnen, der mir müde vorkam, saß da, umarmte seine Knie und steckte sein Gesicht tief unten zwischen sie. »Oh, mein lieber Herr«, sagte ich, »da sieh einer mal an! Er ist ja noch bequemer, als wäre Faulheit seine Schwester!« Da drehte er sich uns zu und nahm uns zur Kenntnis; er holte sein Gesicht ein wenig zwischen den Schenkeln herauf und sagte: »Na, dann geh du doch hinauf, wenn du so stark bist.« Jetzt erkannte ich, wer er war; die Anstrengung vorher jagte mir immer noch den Atem, hinderte mich aber nicht, zu ihm zu gehen. Als ich ihn erreicht hatte, hob er ein wenig den Kopf und sagte: »Hast du nun begriffen, daß die Sonne den Wagen von links führt?« Sein bequemes Benehmen und seine kurzen Worte verzogen meine Lippen ein wenig zum Lächeln, und ich begann: »Belacqua, um dich ist’s mir jetzt nicht mehr bang. Aber sag mir: Warum sitzt du gerade hier? Erwartest du einen Begleiter, oder setzt du nur deine alte Gewohnheit fort?« Und er: »O Bruder, da hinaufzugehen, was bringt es? Gewiß würde der Engel Gottes, der da oben vor dem Tor sitzt, mich nicht zu den Martern schicken, doch der Sternenhimmel muß mich hier draußen vor dem Tor so oft umkreisen, wie er es in meinem Leben getan hat, als ich die Reue aufs Ende verschob. Es sei denn, es hilft mir zuvor ein Gebet. Aber es müßte schon aus einem Herzen kommen, das in der Gnade lebt. Denn ein anderes – was nützt es, wenn es im Himmel nicht gehört wird?« Und schon stieg der Dichter vor mir bergan und sagte: »Komm jetzt! Du siehst, die Sonne hat schon den Meridian berührt, und am Ufer setzt die Nacht schon ihren Fuß auf Marokko.«