Canto 10
Die Trinität schuf einen bewundernswerten Kosmos; daher fordert Dante den Leser auf, den Planetenlauf zu beachten. – Aufstieg zum Sonnenhimmel, in dem große christliche Denker zu Hause sind, die Heiligen der vierten Himmelssphäre. Thomas von Aquino stellt sie vor. Augustinus fehlt, Siger von Brabant ist da.
1 Das erste, das unaussprechliche Gute blickte auf seinen Sohn mit der Liebe, die beide ewig hauchen, und schuf alles, was im Geist und im Raum kreist, mit solcher Ordnung, daß niemand dies sehen kann, ohne sich seiner zu freuen. So erhebe denn, Leser, mit mir den Blick zu den hohen Rädern, genau zu der Stelle, wo zwei Himmelsbewegungen aufeinandertreffen. Und beginne dort, dich liebend zu versenken in die Kunst jenes Meisters, der sie in seinem Innersten so sehr liebt, daß er niemals den Blick von ihr wendet. Schau, wie sich von dort der schräge Kreis abzweigt, der die Planeten trägt, um der Welt Genüge zu tun, die nach ihnen ruft. Wäre ihre Straße weniger geneigt, bliebe viel von der Kraft des Himmels vergeblich, und hier unten bliebe fast jede angelegte Möglichkeit tot. Und wäre die Abweichung vom Geraden größer oder kleiner, dann wäre die Weltordnung oben wie unten voller Mängel.[586]
22 Nun bleibe, mein Leser, schön auf deiner Bank sitzen und denke über das nach, wovon ich dir einen Vorgeschmack serviert habe – wenn du eher heiter sein willst als davon erschöpft. Ich habe dir aufgetischt, essen mußt du selbst. Denn der Gegenstand, zu dessen Schreiber ich geworden bin, zieht mit Gewalt all meine Aufmerksamkeit auf sich.
28 Die Sonne, die oberste Dienerin der Natur, die mit der Vollkommenheit des Himmels die Welt prägt und mit ihrem Licht uns die Zeit mißt, war angelangt an der genannten Stelle und kreiste in der Spirale, auf der sie sich uns täglich früher zeigt. Und ich war bei ihr, hatte aber den Aufstieg nicht bemerkt – wie ja auch der Mensch einen neuen Gedanken eher bemerkt als dessen Kommen. Beatrice führt vom Guten zum Besseren so plötzlich, daß ihr Wirken sich nicht ausdehnt in der Zeit. Wie mußte aus sich heraus leuchten, was in der Sonne war, die ich jetzt betrat, da es sich nicht durch Farbe, sondern allein durch Helligkeit abhob. Auch wenn ich Geist und Kunst und Übung zu Hilfe rufe, werde ich es nicht so sagen, daß man es sich vorstellen könnte. Aber glauben kann man es, und man sehne sich danach, es zu sehen. Daß unsere Phantasiebilder zu niedrig sind für diese Höhe, ist nicht erstaunlich; denn es gibt kein Auge, das über die Sonne hinausreichte.
49 Von Sonnenart war hier die vierte Familie des hohen Vaters, die er ewig sättigt, indem er zeigt, wie er den Geist haucht und den Sohn zeugt. Und Beatrice begann: »Danke, danke du der Sonne der Engel, daß Gott dich aus Gnade zu dieser sichtbaren Sonne erhoben hat.« Nie war das Herz eines Menschen so bereit, fromm zu sein und sich mit allem Gott dankbar hinzugeben, wie ich es war bei diesen Worten. Ich warf meine Liebe ganz auf ihn: selbst Beatrice trat in den Schatten des Vergessens. Ihr mißfiel das nicht; sie lächelte, und der Glanz ihrer Augen verteilte meinen auf das Eine gerichteten Geist wieder auf mehrere Dinge. Jetzt sah ich mehrere lebende Leuchten die Sonne überstrahlen; sie rückten uns in die Mitte und bildeten um uns einen Kranz. Ihre Stimmen waren noch süßer als ihr Anblick leuchtend hell; so sehen wir zuweilen Luna, die Tochter der Latona, sich mit einem Hof umgeben, wenn die Luft schwanger ist von Dunst und sie den Lichtfaden zurückhält, der ihr den Gürtel webt.
70 Im Hof des Himmels, von wo ich zurückkomme, finden sich viele kostbare und schöne Juwelen, die diesem Reich sich nicht entreißen lassen. Dazu gehört der Gesang dieser Lichter. Wem nicht Flügel wachsen, dorthinauf zu fliegen, dem mag ein Stummer von dort berichten.
76 Dann, nachdem diese glühenden Sonnen sich singend dreimal im Kreis um uns gedreht hatten wie Sterne nah dem ruhenden Pol, da waren sie wie Frauen, die den Reigen noch nicht verlassen, sondern schweigend stillstehen, bis sie die neue Melodie erkannt haben. Und ich hörte, wie eine von ihnen so anfing: »So stark leuchtet in dir der Strahl der Gnade auf, daß er das Feuer der wahren Liebe entzündet und es im Lieben wächst; er führt dich nach oben auf dieser Leiter, die niemand hinabsteigt, ohne wieder aufzusteigen. Daher wäre jeder, der dir den Wein für deinen Wissensdurst aus seiner Schale verweigerte, nicht wirklich frei; er wäre wie Wasser, das nicht zum Meer hinabfließt. Du möchtest wissen, aus welchen Pflanzen dieser Kranz erblüht, der ringsumher liebevoll auf die schöne Frau blickt, die dich für den Himmel stärkt.
94 Ich gehöre zu den Lämmern der heiligen Herde, die Dominikus dorthin führt, wo man die rechte Nahrung findet, wenn man nicht eitlen Dingen nachläuft. Der mir hier zur Rechten am nächsten steht, war mir Mitbruder und Meister. Es ist Albert von Köln, und ich bin Thomas von Aquino.
100 Willst du über alle anderen etwas erfahren? Dann folge mit dem Blick meinen Worten, kreisend, aufwärts über den seligen Kranz. Dieses andere Aufflammen dort kommt vom Lächeln des Gratian, der das geistliche wie das weltliche Recht so förderte, daß es im Paradies gefiel. Der nächste, der dann unseren Chor schmückt, ist Petrus Lombardus, er opferte wie die arme Witwe der Kirche seinen ganzen Schatz.[587] Das fünfte Licht, das schönste von uns, atmet solche Liebe, daß die ganze Welt da unten danach giert zu wissen, wie es mit ihm ausging.[588] Darin befindet sich der hohe Geist, dem so tiefes Wissen gegeben wurde, daß, wenn die Wahrheit Wahres wahr spricht, es keinen Zweiten gab, der so viel sah wie er.[589]
115 Danach siehst du das Licht des großen Leuchters, der drunten im Fleisch tiefer als jeder andere Wesen und Dienst der Engel ersah.[590]
118 Im nächsten, ganz kleinen Licht lächelt der Verteidiger der ›christlichen Zeiten‹, dessen Schrift Augustin nutzte.[591]
121 Ziehst du nun dein Auge, meinen Lobsprüchen folgend, von Licht zu Licht weiter, dann dürftest du jetzt schon wissen, wer das achte ist. Darin freut sich, weil sie alles Gute sieht, die heilige Seele, die den Trug der Welt offenbart, für den, der gut auf sie hört. Der Leib, aus dem sie verjagt wurde, liegt unten in Ciel d’Oro; sie selbst kam aus Martyrium und Exil in diesen Frieden.[592] Danach, siehst du, flammt der glühende Geist von Isidor, von Beda und von Richard, der in der Erkenntnis größer war als ein Mensch.
133 Und der, von dem dein Blick zu mir zurückkehrt, ist das Licht eines Geistes, dem in seinen schweren Gedanken der Tod zu zögern schien. Das ist das ewige Licht Sigers, der Vorlesungen hielt in der Rue du Fouarre und dabei vielbeneidete Wahrheiten erschloß.«[593]
139 Wie bei einer Uhr, die uns zu der Stunde ruft, da die Braut Gottes aufsteht, um ihrem Bräutigam das Morgenlied zu singen, daß er sie liebe – ein Teil der Räder zieht und der andere drückt, wie sie ein tin tin ertönen läßt von so süßer Melodie, daß der wohlgestimmte Geist von Liebe aufquillt –, so sah ich das gerühmte Rad sich bewegen, und eine Stimme antwortete der anderen mit solcher Süße, wie man sie nirgends hört außer dort, wo die Freude ewig ist.